Wie Schweizer Spitäler ihre Risiken ganzheit-lich managen können

In der Führung von Spitalbetrieben gewinnt Risk Management zunehmend an Bedeutung. Insbesondere die Integration von Risikoinformationen in die Entschei-dungsprozesse steht häufiger im Fokus der Risk Manager. Anhand der Insel Gruppe wird aufgezeigt, weshalb unter einem modernen, ganzheitlichen Risk-Management-Ansatz bestimmte Risiken stärker in den Fokus rücken können.

Wie Schweizer Spitäler ihre Risiken ganzheit-lich managen können

Als vergleichsweise risikoaverse Organisatio­ nen haben Spitalbetriebe ein ureigenes Inte­ resse an einem umsichtigen und wertschaf­ fenden Risk Management, welches eine ­Gesamtschau auf klinische, technologische und betriebswirtschaftlich-administrative Risiken erlaubt. Im traditionellen Risk Ma­ nagement nimmt dabei die Risikolandkarte (Risk Map) eine zentrale Funktion ein. Basie­ rend auf der Einordnung von Risiken in einer zweidimensionalen Matrix werden Steue­ rungsmassnahmen nach einem Ampelsys­ tem abgeleitet. Dieses einfach verständliche Instrument wird an vielen Aus- und Weiter­ bildungsinstitutionen als wichtiges Instru­ ment propagiert. Deswegen ist es heute der wahrscheinlich in der Praxis am weitesten verbreitete Ansatz zur Risikobewertung, ob­ schon erhebliche methodische Mängel wie z.B. der fehlende Zielbezug und die gefähr­ liche Betrachtung von Risiko-Erwartungs­ werten damit verbunden sind.

 

Neuere Forschungserkenntnisse legen nahe, Risikolandkarten, wie sie im traditio­ nellen Risk Management üblich sind, mit grosser­ Vorsicht zu nutzen. Sie können fal­ sche Entscheide begünstigen und damit kontraproduktiv wirken. An dieser Stelle setzt das moderne Enterprise-Risk-Manage­ ment-(ERM)-Verständnis an. Es fördert ein ganzheitliches Risikoverständnis, welches die Abwägung von Chancen und Gefahren mit den Organisationszielen und der Ent­ scheidungsfindung im Unternehmen ver­ bindet. Diese Zielsetzung liegt dem bundes­ finanzierten Forschungsprojekt «Ganzheit­ liches Risk Management in Schweizer Spitä­ lern» zugrunde (vgl. Infobox). Am Beispiel der am Projekt ­beteiligten Insel Gruppe wird nachfolgend skizziert, wie ein moder­ ner ERM-Prozess im Spitalbetrieb aussehen kann.

Risikoerfassung und -analyse
Zunächst erfolgt die Risikoerfassung, die ne­ ben internen Risiken auch mögliche Risiken aus dem Unternehmensumfeld berücksich­ tigt. Aus organisatorischer Perspektive verläuft die Risikoidentifikation ausgehend von unte­ ren Hierarchieebenen (operativer Spitalbe­ trieb) und ausgehend vom Management. Die dadurch erfassten Risiken sind im Hinblick auf eine qualitative Risikoanalyse den ursachen­ orientierten Risikokategorien Klinik, Strategie, Operatives und Finanzen zuzuordnen. An­ hand der präzisen verbalen Beschreibung von Ursache(n) und Wirkung(en) wird im Rah­ men der Risikoidentifikation die Vorausset­ zung für eine zielgerichtete Risikosteuerung geschaffen. Darauf aufbauend sind die vorab identifizierten Risiken nach Auftrittshäufig­ keit (Anzahl eintreffende Fälle pro Zeiteinheit) und Schadenshöhe (langfristiger finanzieller Netto-Schaden) jeweils für einen glaubwürdi­ gen schlechtesten Fall zu bewerten.

 

Im traditionellen Risk Management werden die Risiken danach in der erwähnten Risikomatrix aufgrund der zugeordneten Skalenwerte für Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe eingeordnet, um entspre­ chende Behandlungsstrategien abzuleiten. Diese Vorgehensweise kann zwar den Zweck einer ersten Risikoselektion erfüllen, für eine unternehmensweite Risikosteuerung nach modernem ERM-Verständnis genügt dieser Ansatz allerdings nicht mehr. Risiken sollen nicht isoliert in einem Risikoportfolio, son­ dern in Übereinstimmung mit den aus der Strategie abgeleiteten, unternehmensweiten Zielsetzungen gesteuert werden.

Auswahl der Toprisiken
Aufgrund der genannten Defizite selektionie­ ren Risk Manager auf Basis der konsolidierten Risiken auf Stufe Gesamtunternehmen die Toprisiken­ vor. Es handelt sich dabei um Risi­ ken, die schwerwiegende Auswirkungen auf die Unternehmensziele haben können. Die Eintrittswahrscheinlichkeit wird bei dieser Se­ lektion bewusst vernachlässigt: Sie kann nur schwierig zuverlässig geschätzt werden, und bei tatsächlichem Risikoeintritt ist sie schlicht nicht relevant. Bei der Insel Gruppe gehören zu den Toprisiken auch Patientenschädigun­ gen aus dem Kerngeschäft. Diese können grundsätzlich zu höheren Behandlungskosten und Versicherungsprämien, Haftungsansprü­ chen, Reputationsverlust und mittelfristig zu sinkenden Fallzahlen führen. Deshalb sind Pa­ tientenschädigungen, die aufgrund ihrer Wir­ kungskette ein hohes finanzielles Schaden­ potenzial aufweisen, als erhebliches unter­ nehmerisches Risiko einzustufen. Um Trans­ parenz zu schaffen, informieren bei der Insel Gruppe die Risk-Management-Verantwort­ lichen die betroffenen Risikoeigner über die Toprisiken, die an die Direktion und den Ver­ waltungsrat rapportiert werden.

Quantitative Szenarioanalyse
Risiken lassen sich nur dann ganzheitlich steuern, vergleichen und priorisieren, wenn eine gemeinsame und konsistente Bewer­ tungsgrundlage vorhanden ist. Dazu müssen die selektierten Toprisiken einer quantitati­ ven Risikobewertung unterzogen werden. Zusammen mit dem Risk Manager untersu­ chen die Risikoeigner diese anhand einer vertieften Szenarioanalyse. Szenarien sind alternative, antizipierte Zustände in der ­Zukunft, in der Risiken in unterschiedlicher Ausprägung (auch als Chancen) auftreten können. Im traditionellen Risk Management wird zu vereinfachend angenommen, dass Risiken binäre Alternativen im Sinne von «sie treten ein» oder «sie treten nicht ein» sind. In der Realität jedoch kann ein Risiko in unter­ schiedlichen Schweregraden und in unter­ schiedlichen Fristigkeiten auftreten. Dieser Sachverhalt soll durch die Modellierung von Szenarien abgebildet werden. Diese Szenari­ en umfassen einerseits die Ursache und andererseits­ die Umstände, aus denen das ­eigentliche Risiko entsteht. Als Konsequenz werden zudem die Auswirkungen bei Risiko­ eintritt detaillierter ausgeführt. Diese Ursa­ che- und Wirkungskette jedes Risikos wird schliesslich durch die jeweiligen Entschei­  dungsträger (z.B. Bereichsverantwortliche) überprüft.

 

Die bis zu diesem Zeitpunkt umschrie­ benen Toprisiken sind teilweise voneinander abhängig, beeinflussen sich gegenseitig oder werden dadurch verstärkt oder vermindert. Im integrierten ERM-Ansatz gilt es, solche Ri­ sikointerdependenzen explizit zu beurteilen. Dies erlaubt eine gesamtheitliche und realis­ tische Risikobetrachtung. Das Risikoportfolio beinhaltet anschliessend alle quantifizierten Toprisiken, deren durch Menschen einge­ schätzte Szenarien sowie gegenseitige Ab­ hängigkeiten. In der Folge kann ein Überblick über die finanzielle Auswirkung der jeweili­ gen Szenarien aller Toprisiken mit konsisten­ ter Bewertung auf eine relevante Steuergrös­ se (z.B. im Spitalumfeld EBITDAR) erzeugt werden. Die Abbildung fasst diese Vorge­ hensschritte zusammen.

 

Mithilfe eines im Risk-Management-Tool verfügbaren Simulationsverfahrens oder eines MS-Excel-Add-Ins werden schliesslich die Toprisiken basierend auf den erläuterten Ausgangsdaten zu einem Gesamtrisiko­ umfang aggregiert. Diese Vorgehensweise er­ möglicht es, das Risk Management mit der Unternehmensplanung zu verknüpfen. Erst dadurch werden die Auswirkungen der Risi­ ken auf die Unternehmensplanung erkenn­ bar. Zudem kann der Gesamtrisikowert mit dem definierten Risikoappetit (das akzep­ tierte unternehmerische Gesamtrisiko), ab­ geglichen und die Wertentwicklung über mehrere Jahre hinweg verglichen werden.

 

Bei Risiken, welche gemäss dem gelten­ den Risikoappetit nicht akzeptiert werden können, plant der Risikoeigner Massnahmen, welche die Eintrittswahrscheinlichkeit und/ oder die Schadenshöhe reduzieren. Je nach Risikosituation schlägt er Massnahmen vor, die sich präventiv an den Ursachen oder an der Schadensbegrenzung orientieren. Geneh­ migen die Entscheidungsträger oder ein Risi­ ko-Komitee diese, wird dem Risikoeigner ein Massnahmenbudget zur Verfügung gestellt.

 

Der vorgestellte ERM-Prozess wird von einem Reporting und einer kontinuierlichen Überwachung sowie Information, Kommuni­ kation und Berichterstattung flankiert. Im Unterschied zum traditionellen Risk Manage­ ment stehen in der Insel Gruppe dank Tool-Unterstützung und einem flexiblen Dash­ board zu jeder Zeit entscheidungsrelevante Risikoinformation zur Verfügung.

Fazit
Die Implementierung des ERM-Prozesses bei der Insel Gruppe verdeutlicht, dass von Beginn an besondere Aufmerksamkeit auf ein adäquates internes Umfeld gelegt wer­ den muss. Dazu zählt eine gemeinsam geleb­ te Risikokultur,­ die eine einheitliche Spra­ che in Bezug auf Risiken und Chancen gut etabliert. Gerade in risikoaversen Spitalbe­ trieben gilt es, ein einseitig negatives Risiko­ verständnis, welches Risiken grundsätzlich als etwas Schlechtes ansieht, zu verhindern. Mithilfe einer Risikopolitik lassen sich die formalen Grundlagen für den ERM-Prozess schaffen. Letzterer zeichnet sich dadurch aus, dass er das Risk Management mit den strategischen Zielen koppelt. Dafür wählt er jedoch kein statistisches Modell, sondern unterschiedliche­ Szenarien, die durch Fach­ experten geschätzt werden. Gerade deshalb ist der hier präsentierte ERM-Ansatz ein breit akzeptiertes Führungsinstrument der Insel Gruppe.

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