Warum gleich um die ganze Welt?

Das Nearshoring von Serviceleistungen hat sich hier in der Konzernwelt als vielversprechender Ansatz etabliert, um die Overhead-Kosten zu senken. Eine beliebte Form des Nearshorings ist die hybride Organisationsform. Nearshoring-Projekte in dieser Hybridstruktur stellen Unternehmen jedoch auch vor erhebliche Herausforderungen und potentielle Mehrkosten.

Warum gleich um die ganze Welt?

 

 

Analog zum klassischen Offshoring beinhaltet das Nearshoring die Verlagerung von Aufgaben in ausländische Produktionsstätten und Servicezentren, die in Märkten mit tieferen Lohnkosten lokalisiert sind. Statt Konzernaufgaben nach Indien, China oder Südafrika zu verlagern, orientieren sich viele europäische Konzerne vermehrt an aufstrebenden osteuropäischen Märkten wie Polen, Tschechien oder der Slowakei. Dies bringt einige Vorteile mit sich: Während annähernd die Kostenvorteile des Offshorings erreicht werden, leidet das Nearshoring in geringerem Masse an typischen Komplikationen wie der grossen Zeitdifferenz oder den erheblichen kulturellen Differenzen, die eine Zusammenarbeit erschweren.

 

Beim hybriden Nearshoring werden nur Teile von operativen Organisationseinheiten verlagert, die in überschaubarer Form in der Onshore-Gesellschaft weiterexistieren. Dies hat einige erfreuliche Effekte: Der Verlust von Wissen und Leistungsträgern kann reduziert werden, während die Nähe zwischen Dienstleister und Heimatorganisation deutlich höher bleibt, als es bei der kompletten Verlagerung von Unternehmensbereichen in Nearshore- oder Offshore- Lokationen je möglich wäre. Dem gegenüber steht der kontinuierliche Koordinationsaufwand zwischen Onshore und Nearshore, welcher langfristig Ressourcen bindet. Nur wenn ein umfassendes und effizientes Nearshoring- Konzept aufgesetzt und erfolgreich implementiert wird, können Einsparpotenziale realisiert werden, welche über den Mehraufwand hinausgehen. In diesem Zusammenhang wird hier ein Framwork vorgestellt, welches die erfolgreiche Konzipierung und den effizienten Aufbau von Nearshore- Einheiten begleitet (vgl. Abbildung 1). Es haben sich generell sechs kritische Erfolgsfaktoren herauskristallisiert, die die erfolgreiche Planung und Implementierung einer hybriden Nearshore- Einheit beeinflussen. Diese lassen sich dabei in drei grundsätzliche thematische Dimensionen aufteilen.

1. Organisatorisches Framework festlegen

 

Das Grundgerüst einer hybriden Nearshoring-Organisation bildet das organisatorische Framework. Dieses wird idealerweise zu Beginn der Planung erarbeitet. Es bildet das Fundament der neuen Organisationsform und schafft dadurch wichtige Rahmenbedingungen für die restlichen Phasen der Ausarbeitung und Implementierung des Nearshore-Konzepts. Dies animiert die Organisation dazu, sich zu Beginn wichtigen und potentiell auch unangenehmen Fragen zu stellen. Wie viel Kompetenz und Spezialistenwissen ist man mittelfristig bereit, in der Nearshore-Einheit zu konzentrieren? Welche Arbeitsfelder werden zukünftig auf der Onshore-Seite wegfallen und was sind die Konsequenzen für die Onshore-Arbeitskräfte? Welche Schnittstellen resultieren aus der neuen Konstellation? Welcher Personalbedarf ergibt sich für die Onshore- und Nearshore-Lokation?

 

Da Nearshoring-beauftragte Organisationseinheiten sich oft einer Vielzahl von internen und externen Anforderungen (beispielsweise die Aufrechterhaltung der Funktionalität und Output-Qualität bei gleichzeitiger Kostenreduktion, die Wahrung der Interessen der Onshore-Mitarbeiter oder die Einhaltung von Datenschutzbestimmungen) ausgesetzt sehen, denen die neue Organisationsform gerecht werden muss, besteht die Gefahr, sich in der Komplexität zu verlieren. Oft wird nach dem Weg des geringsten Widerstands gesucht, um diese Ansprüche zu erfüllen, wobei die langfristige Perspektive vergessen geht. Daher ist es ungemein wichtig, die Suche nach dem richtigen organisatorischen Framework auf der «Meta-Ebene» zu beginnen. Losgelöst von den diversen Beschränkungen kann hier ein funktionales Zielbild für die neue Organisation in Form eines Funktionendiagramms erarbeitet werden – die Vision der neuen Organisationseinheit. Diese Vision kann dann in einem nächsten Schritt mit den diversen Anforderungen und Vorgaben hinsichtlich Qualitäts- und Effizienzansprüchen, Kapazitäten, Kompetenzen und technischen/ rechtlichen Hindernissen verprobt und angepasst werden.

2. Personal

 

Um den Neashore-Standort zu einem vollwertigen, produktiven Bestandteil der neuen Organisationsform zu machen, kommt der richtigen Personalselektion für die aufzubauende Nearshore- Niederlassung eine essentielle Bedeutung zu. Nearshore-Lokationen werden häufig bewusst an Standorten mit einem starken Angebot an potentiellen Arbeitskräften gewählt. Die Führungskräfte der Onshore-Organisation befinden sich daher oft in der luxuriösen Lage, die Wahl aus einer Fülle von motivierten Kandidaten mit sehr diversen Bildungshintergründen und Arbeitserfahrungen zu haben. Erfahrungsgemäss wird diese Aufgabe oft dadurch erschwert, dass die operativen Onshore-Führungskräfte als wichtigster (fachlicher) Stakeholder nur peripher in den Personalselektionsprozess eingebunden sind. Gerade bei grösseren Nearshoring- Projekten im Konzernumfeld wird das gesamte Einstellungsverfahren häufig zentral in der Nearshore- Lokation durchgeführt. Onshore- Führungskräfte werden über mögliche Kandidaten konsultiert, interagieren aber wenig oder gar nicht mit den Kandidaten, bevor diese angestellt werden. Hinzu kommt in der Regel ein eingeschränktes Verständnis auf Onshore-Seite über die Bildungs- und Arbeitssituation am Nearshore-Standort. Dies kann dazu führen, dass Onshore- Führungskräfte Schwierigkeiten bekunden, die Arbeitskräfte mit dem besten Fit für ihre Organisation auszuwählen. Um diese Hindernisse zu überwinden, lohnt sich eine gewissenhafte Vorbereitung der Onshore-Führungskräfte auf den Selektionsprozess. Es gilt, ein gutes Verständnis der Ausbildungssysteme des Nearshore-Standorts sowie ein realistisches Bild für die tatsächlichen Fähigkeiten der Kandidaten und ihre Erwartungen zu entwickeln. Daher lohnt es sich oft, einen intensiven Austausch mit den Personalverantwortlichen vor Ort, den Nearshore- Projektkoordinatoren und mit Vertretern anderer Onshore- Organisationseinheiten zu pflegen, die bereits Erfahrungen mit dem Nearshore-Standort gesammelt haben. Weiterhin hilft es, die Anforderungsprofile für die Nearshore- Positionen vor Beginn der Personalsuche möglichst konkret auszuformulieren. Häufig neigen Führungskräfte dazu, die bestmöglichen verfügbaren Arbeitskräfte zu akquirieren (Universitätsabschluss vorgeschrieben). Die Einstellung von überqualifizierten und hoch motivierten Nearshore-Mitarbeitern für stark-repetitive Tätigkeiten ohne grossen Entwicklungsspielraum kann jedoch zu Interessenskonflikten führen. Kurzfristig ermöglicht dieses Vorgehen zwar eine schnelle Einarbeitung, mittelfristig kann dies jedoch zu Unterforderung, Unzufriedenheit und hoher Personalfluktuation auf Nearshore-Seite führen.

 

Selbst die Leistung des fähigsten Mitarbeiters wird massgeblich durch die Werkzeuge und das Wissen beeinflusst, welches ihm für die Erledigung seiner Aufgaben zur Verfügung gestellt wird. Eine konsequente Ausbildung der Nearshore-Mitarbeiter ist essentiell – der dafür benötigte Zeit- und Planungsaufwand des Onshore- Personals muss hier jedoch auch berücksichtigt werden. Hier können Kapazitätsengpässe auftreten, welche die Funktionsfähigkeit der Organisationseinheit zeitweise einschränken. Demgegenüber stehen die berechtigten Ansprüche des Nearshore-Personals, während der Einarbeitungsphase angemessen betreut, gefordert und ausgelastet zu werden. Häufig ein stiefmütterliches Dasein in der operativen Nearshore- Planung fristen ausserdem Berechtigungskonzepte, welche oft als notwendiges Übel wahrgenommen werden. Dabei gestaltet sich die Identifikation und Implementierung der korrekten Berechtigungsrollen häufig anspruchsvoll und ist nicht selten die Ursache von Verzögerungen im Rollout. Auch der Zugriff und die Verarbeitung von Daten über Landesgrenzen stellen Betriebe oft vor Herausforderungen.

 

Unsere Projekterfahrungen deuten darauf hin, dass die Entwicklung eines ganzheitlichen Schulungskonzepts inklusive detaillierter Roadmap-Planung für die Einarbeitungsphase einen massgeblichen Beitrag zur erfolgreichen Ausbildung der neuen Nearshore- Einheit leisten kann. Verantwortlichkeiten für Schulungen und Coaching auf der Onshore- Seite sollten hier klar definiert werden, um mögliche personelle Engpässe während der Schulungsphase rechtzeitig zu erkennen und zu vermeiden. Darüber hinaus motiviert ein Einarbeitungsplan mit definierten Meilensteinen Nearshore-Mitarbeiter und hilft Lern-Fortschritte zu beurteilen. In Bezug auf Systemzugriffe hat es sich regelmässig als äusserst lohnenswert erwiesen, sich der Berechtigungsthematik rechtzeitig anzunehmen. Aus den definierten Rollenprofilen der Nearshore-Mitarbeiter lassen sich klare Berechtigungskonzepte ableiten, die in Absprache mit den notwendigen Stellen frühzei-tig umgesetzt, geprüft und bei Implementierungsverzögerungen durch entsprechende Übergangslösungen ergänzt werden sollten.

3. Zusammenarbeit

 

Das Grundgerüst der fachlichen Zusammenarbeit bildet das Prozessmodell der Organisationseinheit. Innerhalb dieses Modells werden die organisationsinternen und übergreifenden Abläufe definiert. Schnittstellen zu externen Einheiten sind durch abteilungsspezifische Nearshoring- Projekte meistens nicht betroffen. Die Erweiterung der Organisationseinheit um Nearshore-Mitarbeiter führt jedoch meist zu neuen internen Schnittstellen und Komplexitätserweiterungen. Diese müssen bewusst gesteuert werden, um den gewohnten Qualitäts- und Effizienzansprüchen gerecht zu werden. Onshore- wie auch Nearshore-Mitarbeiter müssen genau darüber im Bilde sein, welche Verantwortlichkeiten sie innerhalb der Abläufe wahrnehmen, welche Schnittstellen sie bedienen und wer entsprechende Vorarbeit leisten muss, um sie in ihrer Rolle zu befähigen.

 

Eine der Grundvoraussetzungen dafür ist ein umfassendes Prozessmodell, mit klaren Verantwortlichkeiten, Aktivitätenbeschreibungen sowie In- und Output-Definitionen für alle Abläufe, auf die die Organisationseinheit einwirkt. Durch die Erarbeitung des organisatorischen Frameworks wurde hier bereits Vorarbeit geleistet, da daraus neue interne Schnittstellen direkt abgeleitet werden können. Diese können mithilfe üblicher Prozess-Werkzeuge, wie beispielsweise einer RACI-Matrix, erfasst, definiert und in der Organisation verankert werden. Im Falle von kleineren internen Prozessen reichen oft auch einfachere Darstellungen – wichtig ist jedoch, dass die Abläufe eindeutig festgelegt, dokumentiert und kommuniziert werden. Dieses zugrundeliegende Prozess-Konzept strukturiert letztlich die Abläufe und Kommunikationswege, damit die sich die Organisation in der neuen Struktur zu einem funktionierenden Ganzen zusammenfügt.

 

Jede Organisationseinheit braucht Führungspersonen, die die Mitarbeiterschaft mit Hinblick auf die Erfüllung der abteilungsspezifischen Verantwortlichkeiten motiviert, steuert und entwickelt. Die geographische Distanz zwischen den steuernden und ausführenden Kräften kann in diesem Kontext den Informationsaustausch und die Abstimmung erschweren. Um diese Herausforderungen zu meistern, empfiehlt sich gerade zu Beginn ein hohes Engagement der Onshore-Führungskräfte innerhalb des Aufbaus des Nearshore- Standorts. Regelmässige bilaterale Abstimmungen mit den Nearshore-Mitarbeitern und die Teilnahme an Telekonferenzen sowie Schulungen und Vorort-Besuchen sind Mittel um steuernd einzugreifen und sich selbst ein Bild über die Strukturen in Nearshore zu machen. Dies nimmt teilweise viel Zeit in Anspruch, bietet dafür eine Plattform um gewünschte Automatismen, Verhaltensformen und Qualitätsansprüche zu entwickeln. Um Kapazitätsengpässen entgegenzuwirken, besteht die Möglichkeit, Onshore-Mitarbeiter, die Führungsaufgaben für die Nearshore-Lokation übernehmen, bewusst von anderen Verpflichtungen zu entlasten. Mittelfristig ist es zudem empfehlenswert, gezielt Leistungsträger und

 

Der Aufbau von hybriden Nearshore- Organisationen ist ein wertvoller Ansatz für die Erschliessung von Kostensenkungspotentialen.

 

Teamleiter in der Nearshore-Lokation zu entwickeln, da langfristig die Anwesenheit einer Vertrauensperson vor Ort nicht zu ersetzen ist. Entsprechende Ansprüche an die Qualifikationen einzelner Nearshore-Mitarbeiter sollten bereits in die Personalselektion einfliessen.

 

Kulturelle Hürden, Zeitzonenunterschiede und geographische Distanz sind bei Nearshoring-Projekten kleinere Hindernisse als beim klassischen Offshoring. Nichtsdestotrotz führen diese Aspekte auch im Nearshoring-Kontext zu erheblichen Herausforderungen, die nicht durch reine Prozessoptimierung überwunden werden können. Es braucht intensive Bemühungen zur Integration der Nearshore-Mitarbeiter in die Gesamtorganisation. Diese kann in diverser Form gefördert werden, wie beispielsweise durch gemeinsame Anlässe ausserhalb des Arbeitsalltags oder Besuche vor Ort in den Nearshore- oder Onshore- Lokationen, was allerdings mit hohem Kosten- und Zeitaufwand verbunden ist. Es existieren ergänzend aber auch weniger kostenintensive und trotzdem effektive Mittel. Wird von den Führungskräften authentisch vorgelebt, dass Nearshore-Mitarbeiter vollwertige Mitglieder der Organisation darstellen, erhöht dies die Chance deutlich, dass sich diese Sichtweise mittelfristig auch in der Mitarbeiterschaft etabliert.

Nearshoring – In Kürze

 

Der Aufbau von hybriden Nearshore- Organisationen ist ein wertvoller Ansatz für die Erschliessung von Kostensenkungspotenzialen – solange man die Projekte mit der notwendigen Systematik und Aufmerksamkeit durchführt. Im Rahmen unserer Projekttätigkeit haben wir die Erfahrung gemacht, dass auf operativer Ebene die rechtzeitige, umfassende und strukturierte Planung von Nearshore- Organisationseinheiten mehr als die halbe Miete für eine erfolgreiche Umsetzung ist. Ein wohldurchdachtes organisatorisches Framework macht alle späteren Schritte einfacher, zielführender und maximiert die langfristige Leistungsfähigkeit der Organisation. Zudem ermöglicht es, Schnellschüsse im Zusammenhang mit der essentiell wichtigen Personalthematik zu vermeiden. Von grosser Bedeutung ist neben der Etablierung länderübergreifender Prozesse auch die persönliche Integration der Nearshore- Mitarbeiter in die Organisation.

 

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