Systemisch führen

Ein Wort taucht zunehmend in der Managementdiskussion auf: systemisch. Systemisch soll gedacht, gehandelt und geführt werden. Im MQ-Interview erläutert der Buchautor Dr. Frank Michael Orthey, Trainer und Berater mit Lehrauftrag an der Hochschule für Philosophie in München, den Begriff und stellt den Bezug zur Praxis der Führung her.

Systemisch führen

 

 

 

Dr. Orthey, «systemisch» bedeutet was und steht für?

 

Systemisches Denken und Handeln steht für ein ganzheitliches Verstehen und Handeln in Bezug auf verschiedene Systemarten: Personen, Gruppen, Teams beziehungsweise soziale Beziehungen und Organisationen. Systemisch zu denken und zu handeln, bedeutet, diese «Systeme» in ihrer Eigenlogik zu respektieren, zu erforschen, sie in ihren Energien und Ressourcen zu nutzen und gezielt damit zu arbeiten. Und es heisst weiter, diese Systeme in ihren Verschränkungen zu verstehen.

Können Sie das konkretisieren?

 

Es gilt, sich beispielsweise anzuschauen, welche Zusammenhänge zwischen einem Mitarbeiterverhalten (erkennbar etwa an Leistungseinbrüchen), den Beziehungen dieses Mitarbeiters im Team und den organisationalen Bedingungen bestehen. Um diese vielschichtige, ineinander verwobene Ganzheitlichkeit handhabbar zu machen, biete ich das Modell «Führen in Fünfeck» an, das es erlaubt, ganz praktisch zu schauen, welche Aspekte der beteiligten Personen, ihrer Beziehungen, der Sachaufgaben, der Organisation und der Kultur unter bestimmten Umweltbedingungen jeweils situativ eine Rolle spielen. Geleitet wird diese Denk- und Handlungsweise vom Interesse an und Respekt vor den Systemen, um die es geht, und den Bezügen, sprich Zusammenhängen, in die sie eingebettet sind.

Sind «systemisch» und «systematisch» deckungsgleiche Begriffe?

 

Nein! Im alltäglichen Sprachgebrauch wird «systematisch» meist im Sinne einer «Wenn-dann-Logik» gebraucht. Wenn dieses und jenes, erstens, zweitens, drittens gemacht wird, dann ist mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einem bestimmten vorhersehbaren und vorher berechenbaren Ergebnis zu rechnen. Im Gegensatz dazu bezieht sich der Begriff «systemisch» auf psychische, soziale oder organisationale Systeme. Was beispielsweise bei der einen Person einen ertragreichen Lernprozess auslöst, schreckt eine andere für immer ab. Systemisches Denken und Handeln bedeutet,

 

Respekt vor der Eigenlogik von Systemen

 

die jeweilige Eigenlogik zu akzeptieren, zu verstehen und zu nutzen. Das führt dann im Gegensatz zu systematischen, standardisierbaren Lösungen zu besonderen, massgeschneiderten und nicht zu standardisierenden Ansätzen.

Und weshalb wird systemisches Überlegen und Vorgehen immer wichtiger?

 

Weil es heute darauf ankommt, mit unsicheren, hochkomplexen, sprich vielschichtigen, sich wechselseitig beeinflussenden und damit überraschenden und nicht vorhersehbaren Situationen produktiv umzugehen. Weil es, salopp gesagt, heute meist anders kommt, als das vorausbedacht war. Insofern wird die Frage gestellt: Was tun, wenn das Ergebnis anders aussieht als beabsichtigt? Diese Frage der Praktiker trifft auf die systemtheoretisch begründeten Überlegungen der Systemiker. Die haben mittlerweile für die Handhabung der zunehmend unübersichtlicheren Praxis ganz brauchbare Werkzeuge entwickelt. Das, was sie zu bieten haben, ist keine Garantie für dauerhaften Erfolg und immerwährendes Gelingen, aber ein erfolgversprechenderer Ansatz als das nicht mehr so recht in die Zeit passende Wenn-dann-Denken und Handeln. Systemisches Denken und Handeln reagiert also auf die Komplexität mit komplexen Lösungen. Deshalb wird es in der Praxis der Unternehmensführung immer bedeutsamer, ja unverzichtbar, wenn es darum geht, die Anpassungs- und Überlebensfähigkeit von Unternehmen zu verbessern.

Welchen Vorteil bringt systemisches Führen?

 

Systemische Führung ist im übertragenden Sinn «energieeffizienter». Und zwar deshalb, weil sie mit und nicht gegen die jeweiligen Systeme und deren Energien arbeitet. Ich könnte auch sagen, weil sie einfühlsamer und deshalb wirkungsvoller vorgeht, weil sie das intervenierte System, allen voran die Mitarbeiter, die Gruppe, das Team respektiert, achtet und wirklich beteiligt. Dies steigert die Akzeptanz und die Wirksamkeit dessen, was getan wird, weil systemische Führung konsequent die Dimensionen des Führungs Fünfecks berücksichtigt: die beteiligten Personen, deren Beziehungsgeflechte, die Sachaufgaben, um die es geht, die Besonderheit der jeweiligen Organisation und ihrer Kultur unter ganz bestimmten Umweltbedingungen. Der Vorteil oder vielleicht besser

 

Einfühlsamvorgehen

 

der Nutzen systemischer Führung besteht darin, der Vielfalt und Komplexität dessen, worum es geht, besser gerecht zu werden. Das heisst, sie zuverlässiger zu erfassen und eben zu nutzen.

Bitte sagen Sie zu dem Unterschied zwischen gewohntem und systemischem Führen noch ein wenig mehr!

 

Gerne, aber nun wird es ein wenig «erstaunlich». Ein gewichtiger Unterschied besteht auch darin, dass systemisch angelegtes Führen nach den Unterschieden fragt, die einen Unterschied machen. Das ist kein Wortspiel, sondern die systemtheoretische Definition von «Differenz»: Die lautet nun einmal «ein Unterschied, der einen Unterschied macht». Systemisch angelegtes Führen ist differenztheoretisch grundgelegt. Und das heisst praktisch, dass die Frage nach den Unterschieden, zum Beispiel von neuen Produkten, Strukturen, Prozessen usw., die einen Unterschied machen, häufig gestellt wird. Damit wird das System, werden Menschen, Teams, ja komplette Organisationen angeregt, sich selbst in ihrer Autonomie angemessener zu entwickeln und zu steuern

Inwieweit müssen sich Führungskräfte von ihrem gewohnten Führungsverständnis lösen, um systemisch zu führen?

 

Lassen Sie es mich so sagen: Systemisches Führen ist eine Haltungssache. Führungskräfte, die zugewandt, achtsam und wertschätzend im stimmigen Kontakt mit ihren Leuten führen, können systemische Elemente sicher gut in ihr Tun integrieren und davon profitieren. Jedenfalls erlebe ich viele solcher Führungskräfte, die damit auch eine Stärkung dessen erfahren, was sie bereits tun, und sich eher bestätigt und besser gerüstet fühlen. Nur diejenigen, die Menschen und soziale Beziehungen mit einer Maschinen- oder Wenn-dann-Logik sehen und entsprechende Outputerwartungen haben, müssen sich von sehr Grundlegendem verabschieden.

Anders herum gefragt, worauf kommt es besonders an, um systemisch tatsächlich effizienter zu führen?

 

Letztlich wird der Erfolg sich nur einstellen, wenn das, was bei Führung – egal wie sie auch genannt werden mag – herauskommt, emotional akzeptabel ist. Das ist bei grossen Führungsspannen natürlich sehr anspruchsvoll – was übrigens praktisch gesehen für eine Stärkung der ersten und zweiten Führungsebene spricht. Aber darauf kommt es an, nicht auf schicke Hochglanz-Projektexposés, Sitzungsmarathons, hochkomplexe Balken- und Diagrammsysteme, intensive Reisetätigkeiten oder durchgestylte Controlling-Werkzeuge. Es geht vielmehr entscheidend um die emotionale Akzeptanz dessen, was da geschieht. Und die steht oder fällt mit der Person der Führungskraft, ihrer Sicht- und Greifbarkeit, ihrer inneren und äusseren Stimmigkeit, ihrem Interesse, ihrer Achtsamkeit und Wertschätzung denjenigen gegenüber, die geführt werden. Und sich selbst gegenüber, versteht sich

Woran lässt sich diese höhere Effizienz erkennen?

 

Nach meiner Erfahrung an zufriedeneren, gesünderen Menschen, an stabileren und belastbareren Beziehungen, einer verbesserten Aufgabenerfüllung sowie einer «passenderen» und tragfähigeren Unternehmenskultur, die eine wirkungsvolle Gemeinsamkeit aus zwangsläufigen Unterschiedlichkeiten herzustellen vermag. Und

 

EmotionaleAkzeptanz

 

das alles in einem stimmigen Verhältnis zu den jeweiligen Umwelt-, sprich Markt- und Konkurrenzbedingungen. Wer das, was geschieht, ständig überprüft, sorgt für Dynamik. Systemische Führung bringt und hält Kräfte in Bewegung, ist also in einem heute immer wichtiger werdenden Bezug ausgesprochen innovationsfreundlich!

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