Sind Ihre Betriebsmittel noch sicher?
Corona-Krise und Klimademonstrationen zeigen: Was gestern noch toleriert wurde, wird heute hinterfragt, unter Umständen mit einschneidenden Folgen. So wie die Wahrnehmung von Anspruchsgruppen sich verändert, entwickelt sich auch die Technik und damit die Anforderungen an Betriebsmittel und deren Sicherheit weiter.
Die Einhaltung des Stands der Technik mit Bezug zur Arbeitssicherheit wird in der Schweiz gesetzlich im Unfallversicherungsgesetz (UVG) eingefordert. Der Artikel 82 des UVG definiert die Pflichten des Arbeitgebers: «Der Arbeitgeber ist verpflichtet, zur Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten alle Massnahmen zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den gegebenen Verhältnissen angemessen sind.» Daraus folgt, dass die regelmässige Beurteilung der Einhaltung und allenfalls die Wiederherstellung des Stands der Technik durch den Arbeitgeber sicherzustellen sind. In der Praxis scheitert dies oft bereits daran, dass es keine einfachen, klaren bzw. eindeutigen Ja/Nein-Kriterien für die Überprüfung gibt. Um den Stand der Technik zu erfüllen, ist es erforderlich, gerade auch die Anforderungen an diesen zu verstehen.
Was ist «Stand der Technik»?
Der Stand der Technik definiert die für den Anwender sichere und nicht gesundheitsgefährdende Gestaltung eines Betriebsmittels, wie beispielsweise einer in der Industrie eingesetzten Maschine. Die Anforderung bezieht sich dabei auf die ordnungsgemässe Verwendung des Betriebsmittels, unter der Berücksichtigung von Interaktionen und eingesetzten Stoffen. Der Stand der Technik berücksichtigt neben gesetzlichen und normativen Vorgaben die zum aktuellen Zeitpunkt gegebenen technischen Möglichkeiten, auch wenn sie patentrechtlich geschützt sind, wie auch die Verhältnismässigkeit der Massnahmen in Bezug auf die erforderliche Schutzwirkung und die Kosten. Er definiert neben den technischen Massnahmen auch die erforderlichen ergänzenden organisatorischen und personenbezogenen Schutzmassnahmen, um das Restrisiko auf ein akzeptables Mass zu reduzieren, ohne dabei Zugeständnisse an technische Schutzmassnahmen zu machen.
Diese Definition zeigt die Komplexität des Stands der Technik auf. Fachwissen ist nicht nur in technischer Hinsicht erforderlich. Ebenso sind Gesetze und harmonisierte (technische) Normen zu berücksichtigen. Besondere Relevanz hat die Maschinenrichtlinie 2006/42/EG. Sie definiert die Pflicht zur Einhaltung des Stands der Technik, sowohl für den Inverkehrbringer einer Maschine als auch für den Betreiber. Für Letzteren ist dies relevant, weil sich der Stand der Technik weiterentwickelt. Betriebsmittel im Bestand sind z.B. mit einem Abgleich gegenüber den geltenden technischen Normen oder, wenn solche nicht existieren, mithilfe einer Risikobeurteilung auf Abweichungen gegenüber dem Stand der Technik zu untersuchen. Je nach Ergebnis sind zusätzliche technische Schutzmassnahmen umzusetzen. Die Risikomatrix mit drei Toleranzbereichen (Abb. 1) zeigt im Bereich der bedingt vertretbaren und der nicht vertretbaren Risiken einen Handlungsbedarf auf. In diesem Zusammenhang sind zwei Kriterien besonders wichtig:
–– Für die Klassierung der Risiken als vertretbar / nicht vertretbar gilt es, die in der Industrie bei der Verwendung dieses Betriebsmittels gesammelten Erkenntnisse wie Auswirkung und Wahrscheinlichkeit zu berücksichtigen. Dabei sind auch sogenannte Beinaheunfälle einzubeziehen. Die Risikotoleranz hängt ferner auch von internen und externen Anspruchsgruppen ab.
–– Es gibt keinen absoluten Bestandsschutz. Im Schadenfall können Schadenersatzforderungen geltend gemacht werden, sofern der Stand der Technik nicht eingehalten wird.
Wie häufig der Stand der Technik überprüft werden muss, hängt vom Risikopotenzial und vom technischen Fortschritt mit Bezug zum Betriebsmittel ab. Damit ist die Entwicklungsgeschwindigkeit und die zusätzliche Schutzwirkung gemeint. Andererseits wird ein Betriebsmittel nicht alleine deshalb unsicher, weil ein neues, sichereres auf dem Markt verfügbar ist.
Optimale Betriebsmittel beschaffen
Die Anforderung an den Stand der Technik entsteht schon vor dem Kauf eines Betriebsmittels. Nur wenn dieses später innerhalb des bestimmungsgemässen Verwendungszwecks betrieben wird, hat die CE-Konformitätserklärung Gültigkeit. Dies zwingt den künftigen Betreiber des Betriebsmittels, sich über grundlegende Anforderungen Gedanken zu machen, z.B.:
––Welche räumlichen Gegebenheiten und Umgebungsbedingungen sind zu berücksichtigen?
–– Anbindung an vor- und nachgelagerte Prozesse?
––Was wird verarbeitet (Material- und Stoffeigenschaften)?
––Welche Mengen sind zu bewältigen (Leistungsfähigkeit der Maschine)?
Stand der Technik und Risikomanagement
Die Verordnung über die Unfallverhütung (VUV) fordert, dass die oben genannten Schritte dokumentiert werden. Wie aber stellt der Betreiber die Umsetzung des Stands der
Technik mit Bezug zur Arbeitssicherheit bei Betriebsmitteln in der Industrie sicher? Der Lösungsansatz besteht in der Einbindung dieses Prozesses in die Struktur der Risikomanagement- Norm SN ISO 31000:2018. Der vorgeschlagene Prozess (Abb. 2) orientiert sich am Risikomanagementprozess der SN ISO 31000:2018 (Abbildung 2, oben links). Er enthält die für die Beurteilung des Stands der Technik relevanten Anforderungen. Die Bausteine sind wie folgt (Abbildung 2):
(1): Beschaffung des Betriebsmittels: Es muss bekannt sein, welchen Zweck das zu beschaffende Betriebsmittel erfüllen muss.
(2): Die wichtigsten Unterscheidungskriterien zur Durchführung einer Risikobeurteilung mit Bezug zum Stand der Technik sind:
- a) Die Auslieferung oder die Änderung eines Betriebsmittels durch den Inverkehrbringer und
- b) Änderung des Betriebsmittels oder Herstellprozesses durch den Betreiber. Wird das Betriebsmittel nach der Anpassung des Herstellprozesses weiterhin innerhalb des bestimmungsgemässen Zwecks verwendet? Falls nicht, erlischt die CE-Konformitätserklärung. Durch eine Änderung am Betriebsmittel erlischt gegebenenfalls die CE-Konformitätserklärung, wenn das Betriebsmittel z.B. eine zusätzliche Funktion oder eine Änderung an der Steuerung erfährt. Die der CE-Konformität zugrunde liegende Risikobeurteilung muss in Bezug auf die Änderungen und auf bestehende Schutzmassnahmen neu beurteilt werden. Dabei sind die Dokumente, welche den Stand der Technik definieren, zu berücksichtigen. Wird das Betriebsmittel durch den Betreiber selbst umgebaut oder komplett erneuert, wird dieser zum Inverkehrbringer und muss dessen Pflichten erfüllen.
(3) und (4): Die Suva rät in der Informationsschrift «Arbeitsmittel. Sicherheit beginnt beim Kauf», vor der Erstinbetriebnahme bestimmte Punkte zu prüfen. Je nach Gefahrenpotenzial ist es gegebenenfalls erforderlich, Expositionsmessungen durchzuführen.
(5), inkl. (6) und (7): Gemäss den weiter oben angeführten Erkenntnissen ist es sinnvoll, den Stand der Technik regelmässig zu überprüfen. (6) nennt Beispiele für Gründe für eine regelmässige Überprüfung. (7) zeigt die Anforderung an die Überprüfung bei technischen und prozessualen Änderungen auf.
(8): Auch das Lebensende des Betriebsmittels bzw. dessen Dekontamination und korrekte Entsorgung gilt es zu betrachten.
Durch den oben vorgeschlagenen Prozess wird bei konsequenter Anwendung Folgendes erreicht:
- Es existiert ein Risikomanagement-Prozess, welcher sich an den Leitlinien der SN ISO 31000:2018 orientiert. Dies ermöglicht die Einbindung in ein integriertes Managementsystem, beispielsweise mit der SN ISO 45001:2018 zu Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz;
- der in dieser Arbeit vorgeschlagene Risikomanagementprozess stellt sicher, dass der Stand der Technik mit Bezug zur Arbeitssicherheit bei Betriebsmitteln durch den Betreiber eingehalten und regemässig überprüft wird. Der PDCA-Ansatz (Plan – Do – Check – Act) sowie die kontinuierliche Verbesserung sind ebenfalls im Prozess integriert.