Selbsterneuerung als Überlebensaufgabe

Dr. Hans-Joachim Gergs ist Experte für Change Management und arbeitet als Senior Consultant und Organisationsentwickler im Veränderungsmanagement beim Autobauer Audi in Ingolstadt. Ausserdem lehrt er an der TU München und der Universität Heidelberg. In einem Forschungsprojekt begleitete er zehn Unternehmen, die alle einen tiefgreifenden Wandel ihres Geschäftsmodells durchliefen, ohne durch eine Krise dazu gezwungen zu sein. Ihr «Geheimnis»: Sie waren in der Lage, sich aus eigener Kraft selbst zu erneuern und an veränderte Geschäftsbedingungen anzupassen.

Selbsterneuerung als Überlebensaufgabe

 

 

Dr. Gergs, Quintessenz Ihrer Forschungs­ arbeiten ist, jedes Unternehmen wird eher früher denn später damit konfrontiert, sich auf eine Art zu verändern, für die es kein Vorbild gibt, will es nicht sein Scheitern riskieren. Also raten Sie, sich rechtzeitig mit der Kunst der kontinuierlichen Selbster­ neuerung zu befassen. Gibt es Zahlen zur Lebensdauer von Unternehmen?
Hans-Joachim Gergs: Wir haben in den letz-ten Jahren gesehen, wie schnell selbst grosse Unternehmen wie Kodak, Nokia und Black-Berry oder AEG von Wettbewerbern und Ver-änderungen in ihren Branchen verdrängt werden können. Richard Foster von der Yale School of Management analysierte die im Standard & Poor’s 500 vertretenen 500 grössten US-Konzerne. Er stellte fest, dass die Unternehmen vor 100 Jahren im Schnitt 67 Jahre alt wurden, 2015 waren es seinen Ana-lysen zufolge nur noch 15 Jahre. Etwas lang­ lebiger sind die Unternehmen in Europa. Nach den Ergebnissen der Wirtschaftswis-senschaftler Stadler und Wältermann betrug das Durchschnittsalter von börsennotierten Unternehmen­ in Europa im Jahr 2011 28 Jah-re; aber auch hier ist die Tendenz sinkend. Diese Entwicklung verdeutlicht: Erfolg war noch nie so unsicher wie heute. Insbesondere die Digitalisierung der Wirtschaft wird die Geschwindigkeit des Wandels weiter erhö-hen und die Spielregeln des Wettbewerbs noch einmal grundlegend verändern.

 

Daraus folgt …
… dass die Fähigkeit, sich schnell auf verän-derte Anforderungen einzustellen, zur zent-ralen Kernkompetenz von Unternehmen wird. Neuesten wissenschaftlichen Untersu-chungen zufolge sind diejenigen Unterneh-men langfristig erfolgreich, die über die Fä-higkeit verfügen, sich kontinuierlich neu zu erfinden. Das «klassische» Change Manage-ment, das in seiner Grundlogik reaktiv ist, stösst damit an seine Grenzen. «Change the Change Management» lautet daher die Devi-se. Mehr und mehr entsteht die Notwendig-keit, radikale Transformationen zu vermei-den und Veränderungsprozesse frühzeitig einzuleiten, um in den guten Jahren die vor-handenen Ressourcen zu nutzen und die Or-ganisation vorausschauend auf die Zukunft vorzubereiten.

 

Wo liegt dabei die Herausforderung?
In der vorausschauenden Gestaltung von Veränderungsprozessen, denn die meisten Unternehmen sind nicht für vorausschauen-de Erneuerung gebaut. Die von den Pionieren des Managements, Taylor, Sloan, Ford etc., entwickelten Theorien und Konzepte, die bis heute das Denken im Management bestim-men, sind alle auf Stabilisierung und Standar-disierung ausgerichtet. Von daher ist es auch nicht erstaunlich, dass die Geschichte der meisten Unternehmen lange Zeiträume auf-weist, in denen es nur zu geringfügigen Ver-änderungen kam, unterbrochen von wenigen Phasen tiefgreifender Veränderung, die meist durch eine Krise ausgelöst wurden.

 

Deshalb nun also kontinuierliche Selbst­ erneuerung, die Sie aufgrund Ihrer Forschungsarbeiten wie charakterisieren?
Charakteristisch für die kontinuierliche Selbsterneuerung­ ist: 1. Wandel beziehungs-weise Veränderung ist fest in die Organisati-onsprozesse integriert und verläuft fortlau-fend und vorausschauend. Erneuerung wird also nicht erst dann angestossen, wenn das Unternehmen erkennen muss, dass es hinter der Entwicklung herhinkt oder bereits in ei-ner Krise steckt. 2. Der Fokus liegt nicht auf der Optimierung des Bestehenden, sondern zielt auf das grundlegende Hinterfragen und Erneuern des Geschäftsmodells oder der Kul-tur eines Unternehmens. 3. Veränderungs­ impulse werden nicht nur vom Management, sondern auch von den Mitarbeitern gesetzt.

 

Wie wird aus der erkannten Notwendigkeit gelebte Wirklichkeit?
Diese Frage hat mich in einem zwölfjährigen Forschungsprojekt beschäftigt, in dem ich zehn Unternehmen intensiv begleitet habe. Alle diese Firmen durchliefen einen tiefgrei-fenden Wandel ihres Geschäftsmodells, ohne dass sie durch eine Krise dazu gezwungen waren. Auf der Grundlage dieser Fallstudien konnte ich herausarbeiten, dass kontinuier­ liche Selbsterneuerung nach völlig anderen Regeln und Grundsätzen funktioniert als das klassische Change Management. Insgesamt liessen sich acht Prinzipien identifizieren, nach denen die von mir untersuchten Unter-nehmen bewusst oder unbewusst Verände-rungsprozesse gestalten. Sie habe ich zu ei-nem zyklischen Modell der Erneuerungs­ fähigkeit zusammengefasst:

 

  • 1. Selbstreflexion stärken.
  • 2. Kommunikation und Vernetzung inten-sivieren.
  • 3. Vielfalt zulassen und Paradoxien pflegen.
  • 4. Bezweifeln und vergessen.
  • 5. Erkunden.
  • 6. Experimentieren.
  • 7. Fehler und Feedbackkultur etablieren.
  • 8. Ausdauer und Denken in Kreisen.

 

Das lässt auf einen intensiven innerbetrieb­ lichen Kommunikationsprozess schliessen?
Ohne den geht es nicht. Hier lässt sich viel von der Familie der Medici lernen. Die Medici er-kannten bereits im 15. Jahrhundert den Wert des Netzwerkens und brachten Menschen aus unterschiedlichsten Bereichen zusam-men: Wissenschaftler, Schriftsteller, Philoso-phen, Architekten und Künstler. Als diese Persönlichkeiten aufeinandertrafen, entwi-ckelten sie neue Ideen, die zusammenge-nommen die Renaissance begründeten, eine der innovativsten Epochen der Menschheit. Ähnlich machen dies Führungskräfte in den von mir untersuchten Unternehmen. Eine ih-rer wichtigsten Rollen sehen sie im Design des betrieblichen Kommunikationsraums. Sie mischen unterschiedliches Know-how im Unternehmen immer wieder neu. Zum Bei-spiel indem sie durch Abteilungshospitanzen frische Schnittstellen bilden, bereichsüber-greifende Teams aufstellen oder die Beschäf-tigten in Grossgruppenkonferenzen vernet-zen. Erfahrungsgemäss fördern interne und externe Kommunikationsplattformen den Wissens- und Erfahrungsaustausch und er-höhen damit die Erneuerungsfähigkeit.

 

Daraus ist zu schliessen, die Führenden müssten ein neues Rollenverständnis leben?
Die Erfahrungen aus meinem Forschungspro-jekt verweisen auf eine völlig neue Rolle bezie-hungsweise ein völlig neues Rollenverständnis der Führung im Prozess der kontinuierlichen Erneuerung. Es ist weniger die «heldenhafte» Führung, sondern mehr die Führung, die es als ihre Aufgabe ansieht, im Unternehmen eine Infrastruktur der Veränderung aufzubauen. Sie begreifen sich eher als Organisationsdesig-ner oder Sozialarchitekt für Innovation und Lernen und streben aus dieser Einstellung he-raus den Wandel als festen Bestandteil des Be-triebssystems an, als notwendig gewordene Daueraufgabe. In diesem ständigen Ringen um Erneuerung liegt die neue und eigentliche Herausforderung für das Management. Erneu-erungsfähige Unternehmen «lieben» aus dem im Unternehmen herrschenden Geist heraus den Wandel geradezu, hinterfragen stetig das Bestehende und begeben sich ohne Not auf den Weg ins Unbekannte. Aufgabe des Ma-nagements ist es, diese kreative Spannung im Unternehmen dauerhaft aufrecht zu halten.

 

Welches Handwerkszeug hilft ihm dabei?
Es gilt der Satz: «A Fool with a Tool Is still a Fool!» Wenn das Mindset, wenn die gesamt-betriebliche Denkweise nicht stimmt oder die kulturellen Elemente nicht gelebt wer-den, laufen auch die schönsten Werkzeuge oder Methoden ins Leere. Der Schlüssel zum Ganzen ist die geistige Haltung des Manage-ments. Dennoch sind Methoden hilfreich, wie zum Beispiel Learning Journeys, Zu-kunftskonferenzen, Führungs- und Organi-sationsexperimente oder auch Methoden zur Verbesserung der Feedbackkultur, wie zum Beispiel After-Action-Reviews. Ferner erfor-dern die neuen Technologien mehr laterale Kommunikation, wodurch die Bedeutung von Grossgruppenmethoden steigt. Sie stel-len Vernetzung her, auch über die Organisati-onsgrenzen hinaus. In diesem Zusammen-hang nimmt auch die Online-Kommunikati-on über Social Communities stark an Bedeu-tung zu, ohne dass die Face-to-Face-Kommu-nikation grundsätzlich an Bedeutung verliert.

 

Bringen Sie es auf den Punkt: Wie lautet das Motto kontinuierlicher betrieblicher Selbsterneuerung?
«Expect the unexpected!» Wenn Sie sich allein die drei Prinzipien «Selbstreflexion stärken», «Bezweifeln und Vergessen» und «Erkunden» vor Augen halten, dann wird deutlich, dass erneuerungsfähige Unternehmen sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie den Blick im-mer weit offen halten. Sie sind achtsam und tun alles, um ständig Veränderungen und Chancen in ihrem Umfeld wahrzunehmen. Dabei gehen sie experimentierend vor. Unter dem Motto «Expect the unexpected!» erlan-gen Unternehmen schneller Klarheit über das, was sich tut und damit auch über die Chancen in ihrem Umfeld. Genau hier liegt der Unterschied zum klassischen Change Ma-nagement. Während im linear-kausalen Mo-dell strikt zwischen «erst denken (analysie-ren, entscheiden, planen) und dann handeln (Pläne umsetzen)» getrennt wird, wechseln Unternehmen mit der Fähigkeit zur kontinu-ierlichen Selbsterneuerung permanent zwi-schen Denken und Handeln.

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