Schlüssel zu agilen Geschäftsprozessen

Volatile Märkte, steigende Komplexität und Variantenvielfalt haben dazu geführt, dass wir als Unternehmensberater zunehmend nach Unterstützung zur Bildung einer agilen Organisation angefragt werden. Agilität ist dabei ein Modebegriff und steht für Beweglichkeit und Schlagkräftigkeit. Die grundsätzliche Herausforderung ist: Wie wird eine traditionelle, hierarchisch organisierte Firma zu einer agilen und zukunftsgerechten Organisation?

Agilität kann nicht durch die Anwendung einer Methode und mit etwas Umorganisation erreicht werden. Sie ist neben der Kundenorientierung ein entscheidender Teil der Firmenkultur. Agilität wird in erster Linie bestimmt durch:

  • Führungsverständnis vom Chef als Moderator und Enabler
  • dezentrale Entscheidungsfreiheit; Auftrag Kompetenz Verantwortung (AKV)
  • Selbstorganisation durch wechselnde Rollen je nach Aufgabe
  • kollaborative und interdisziplinäre Arbeitsprozesse mit netzförmigem Kompetenzenmix statt funktionaler und sequenzieller «Gärtchen»
  • klar definierte Kunden-Servicelevels und eine bewirtschaftete Flexibilität

Die Umsetzung greift tief ins Denken sowie Handeln ein. Als Voraussetzung sind auch die i.d.R. fünf Geschäftsprozesse entsprechend anzupassen (vgl. Abb. 1).

Definition der Agilität

Ein allgemein gültiges Verständnis von Agilität gibt es, trotz mehrjähriger Verwendung des Begriffs, noch nicht. Häufig assoziierte Inhalte sind Beweglichkeit, Schlagkräftigkeit, Entkrustung, Verlassen von Gewohntem sowie resiliente Prozesse (robust im positiven Sinn). Für mich bedeutet Agilität bewirtschaftete Flexibilität, um stufengerecht optimal zu handeln. Agilität ist nicht Aktionismus oder Improvisation mit unklaren Arbeitsprozessen, sondern ein Agieren mit definierten Handlungsoptionen. Ein Risiko bei der Einführung gelebter Agilität ist das Trennen von alten, lieb gewonnenen Gewohnheiten und die Dezentralisierung von Verantwortung. Besonders dem mittleren und höheren Kader sowie den Patrons fällt das Loslassen oft schwer. Agilität kann nicht verordnet werden – Veränderung der Firmenkultur braucht Zeit.

Bewirtschaftete Flexibilität

Jedes Unternehmen hat über die Jahre viele aufgeschobene Problemlösungen als Kompromisse sowie auch verdeckte Reserven angesammelt. Es handelt sich dabei einerseits um ein menschliches Bedürfnis, um im Zweifelsfall nicht schlecht «dazustehen», oder andererseits um Ersatzprozesse. Ersatzprozesse entstehen häufig durch partielle und/oder vorübergehende Probleme. Beispiele dafür sind Zusatzkontrollen mit und ohne Unterschrift; KPI-Auswertungen ohne Konsequenzen; Information an zusätzliche Mitarbeitende, um nicht allein schuld zu sein. Diese Aufwände können in definierte Flexibilität umgewandelt werden. Verdeckte Reserven, wie operativer Komfort sowie Sicherheiten, werden offengelegt und dann bewusst als Flexibilität eingesetzt. Diese aus den Reserven gewonnene Flexibilität wird durch weitere Möglichkeiten er gänzt, wie z.B. Arbeitszeitmodelle, temporäre Mitarbeitende, Outsourcen, Verschieben von allgemeinen Tätigkeiten, Priorisieren von Produkten oder Kunden. Zur Festlegung der Flexibilitätsoptionen werden die bestehenden Reserven sowie die weiteren Möglichkeiten gesammelt, auf Konsequenzen, notwendigen Vorlauf, Kosten etc. bewertet und priorisiert, um sie bei Bedarf gezielt schnell sowie stufenweise anzuwenden. Erfahrungen aus anderen Firmen, externe Impulse und Unterstützung sowie ein methodisches Repertoire helfen beim Offenlegen, Loslassen und Ergänzen.

Beispiel Produktentwicklung

Grosse Produktinnovationen werden immer von Änderungen in Geschäftsmodellen und Prozessen begleitet. Am Beispiel Produktentwicklung lässt sich diese Herausforderung gut aufzeigen. Ein genereller Trend ist die Entmaterialisierung der physischen Produkte. Daraus folgt auch eine Verschiebung der Erlöse von den physischen Produkten hin zu begleitenden Services. Diese Services sind der neue Kern des Produkts und lassen sich oft, auch nach dem Erwerb des Produkts, durch zusätzliche Funktionen käuflich erweitern.

90 % aller Industriefirmen bieten in den nächsten fünf Jahren Produkte an, die im Internet of Things (IoT) gemäss 4.0 vernetzt sind. Kaum eine Organisationseinheit ist heute so massiven Veränderungen ausgesetzt wie die Entwicklungsabteilungen. Während früher die Entwicklungsarbeit beim Start der Produktion abgeschlossen war, werden smarte Produkte nach dem Verkauf durch Updates laufend verbessert und erweitert. Die Vernetzung von Hard- und Software dient der Produkterweiterung (smarte Produkte), ist eine wichtige Grundlage für added Services (smarte Services) und damit Teil der Marktdifferenzierung. Die Massstäbe zur Beurteilung von Entwicklungsarbeit sind dabei recht unterschiedlich: In der Softwareentwicklung gilt Marktnähe durch Schnelligkeit und in der Hardwareentwicklung gilt Fehlerfreiheit aus Angst vor Haftung. Dadurch ist die parallele Produktentwicklung mit Abstimmung von Soft- und Hardware mit recht unterschiedlichen Zyklen sowie Arbeitsweisen und Kulturen eine grosse Herausforderung. Dem muss mit Agilität in der Denkhaltung begegnet werden. Voraussetzungen dafür sind Demokratisierung von Führung, gemischte Teams, angepasstes Projektmanagement etc.

Beispiel Auftragszentrum

Die übliche Planung und Steuerung der Auftragserfüllung erfolgten sehr funktional. Damit entstehen Schnittstellen, Verantwortungsübergänge und lange Entscheidungswege. Der neue Ansatz ist, dass ein Team mit 6–8 Mitarbeitenden alle diese Tätigkeiten integral übernimmt. Dazu gehören Produktionsplanung (PP), Materialwirtschaft (MW) inkl. operativen Einkaufs, Produktionssteuerung (PS), Steuerung der internen und externen Logistik sowie, je nach Ausgestaltung der Schnittstelle zum Verkauf, Teile des Verkaufsinnendienstes. Dabei wird die gesamte Verantwortung und Kompetenz an einem Ort zusammengefasst (vgl. Abb. 2). Das Ergebnis sind klare und in einem definierten Team zusammengefasste AKVs. Dabei sinkt der Koordinationsaufwand, Entscheide erfolgen agiler und weniger Ressourcen werden benötigt. Die Erfahrung zeigt, es entsteht nach einer kurzen Zeit aus heterogenen, voneinander lernenden Teammitgliedern eine schlagkräftige Einheit.

Prozesse unter Industrie 4.0

Arbeitsprozesse sollten aus den übergeordneten Geschäftsprozessen abgeleitet werden. Die Kern- und Hilfsprozesse sind unter Beachtung der zu bewirtschafteten Flexibilität zu entwickeln. In der 4.0-Transformation existieren bereits viele Bausteine. Sie helfen u. a. der Transparenz, z.B. durch integrierte Datensammlung und -analyse. Oder durch einen digitalen Zwilling mit unterstützender, künstlicher Intelligenz (KI) zur zeitnahen Auswahl von Handlungsoptionen. Werkzeuge zur Datenanalyse bestehen und werden zunehmend benutzerfreundlicher. Künstliche Intelligenz liefert erste, noch nicht immer nachvollziehbare Ergebnisse. Trotzdem geht es mit der digitalen Transformation nicht so schnell und integral vorwärts wie angekündigt. Gesellschaftliche Brüche wie aktuell durch die Corona-Pandemie beschleunigen die 4.0-Umsetzung.

Fazit

Veränderung braucht eine Zielrichtung und beinhaltet Unsicherheiten. In der Schweiz haben wir den Hang, lange zu warten, aber dann, wenn der Druck gross ist, sind wir recht gut im Meistern von Herausforderungen. Erfolgreiche Firmen müssen sich im Vorfeld agil auf Risiken und Chancen vorbereiten, evtl. auch mit Hilfe von aussen. Jeder muss mit jeglicher Art von Veränderungen leben. Je stärker die Zukunft von der heutigen Situation abweicht, desto weniger dienen bisherige Erfahrungen als Orientierung. Wenn dies auch noch schnell passiert, wird es sehr herausfordernd. Agilität als Teil der Firmenkultur ist ein Muss. Es gilt, die Zukunft bewusst zu gestalten und eine bewirtschaftete Flexibilität zu etablieren. Prozessanpassungen werden durch das Umfeld erzwungen; Change ist heute die Regel. Die Frage ist nur, proaktiv, reaktiv oder passiv – und wer bestimmt: der VR oder die Bank? Es liegt an Ihnen!

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