Präzision für die Praxis
Qualitätssicherung ist ohne Messungen nicht möglich. Vernetzte Systeme sowie technologische Knackpunkte erleichtern die Messarbeit nicht minder. Ein diskutiertes Thema an der «6. Internationalen Fachtagung Produktionsmesstechnik» an der Interstaatlichen Hochschule für Technik Buchs (NTB) drehte sich beispielsweise um «Messunsicherheitsermittlung in der Praxis».
Gegen 190 Experten fanden sich an der NTB ein, um nebst den üblichen Problemen der Produktionsmesstechnik neue Tendenzen zu erörtern. Bereits das erste der neun organisierten Fachreferate ging auf die komplexe Rückführung von Messergebnissen ein. Rudolf Thalmann vom Eidgenössisches Institut für Metrologie (METAS) gab eine Übersicht, bevor er einzelne Einflussgrössen bei Messungen ausdifferenzierte.
Einheitenweitergabe nicht leicht
«Wenn man von Rückführbarkeit von Messergebnissen spricht, geht es grundsätzlich um geeignete Verfahren zur Kalibrierung», so Rudolf Thalmann, der METASStellvertreter (Abteilung Physik und Chemie) und Bereichsleiter (Bereich Länge, Optik und Zeit). Gleichwohl liegt die Rückverfolgbarkeit eines Masswerts im Detail. Bei Kalibrierungen müssen geschulte Techniker auf diverse Koordinaten achten, bevor sie durch ein behördliches Institut akkreditiert werden. Trotz genormten Geometrien, permanenten Messverfahren, trotz hochsensiblen und präzisen Sensorvorrichtungen gibt es immer wieder Längenmassabweichungen. Sogenannte Messunsicherheiten schwingen bei den Faktoren «Werkstück», «Umgebung», «Person», «Verfahren» mit. Experten sprechen von Rückführbarkeit, wenn mehrere wesentliche Punkte, sicherlich die SI-Einheiten, als Referenz dienen.
Die Messunsicherheit (Nutzen, Aufwand, Methoden)
Seien es Prototypen, seien es Werkstücke in Serie: Messunsicherheiten sind auf vielen Ebene gegeben. Deshalb fokussieren Experten auf einzelne Prozessschritte, sie notieren zugrundeliegende Parameter so, dass eine Gesamtunsicherheit definiert werden kann. Je nach Anwendungsfall entsprechenden Intervallen erfolgen Nachkalibrierungen. Es ist jedoch «ein erheblicher Unterschied, ob man in einem sterilen Labor oder in einer Industriehalle Werkstücke kontrolliert», unterstrich denn auch in seinem Referat Heimo Masser die Arbeit in der Multisensor-Koordinatenmesstechnik bei Julius Blum GmbH, spezialisiert auf Scharnier- und Möbelsysteme.
Im dritten Referat «Messunsicherheitsermittlung in der Praxis – Nutzen, Aufwand und Methoden» ging Michael Hernla weiter auf die Schwierigkeit ein, dass Unsicherheiten mitspielen. «Je mehr Messanwendungen beziehungsweise vergleichbare Nachmessungen gemacht werden können, desto besser», führte Michael Hernla, Ingenieur und Zertifizierer, aus. Er präsentierte ISO-anerkannte Messunsicherheitsbilanzen und neuere Strategien.
Hernla beschrieb in seinem Vortrag analog zu Thalmann Prüfverfahren für genauere Koordinatenmessgeräte. Er merkte jedoch an, dass nicht jedes Messgerät sich zur Ermittlung «einer aufgabenspezifischen Messunsicherheit von beliebigen Prüfmerkmalen» eigne. Die Messunsicherheit könne «wesentlich von der Anzahl und Lage der Messpunkte auf der durch Formabweichungen geprägten Oberfläche des zu kontrollierenden Werkstücks abweichen ».
Gemäss dem Experten wurden zur richtigen Ermittlung von Koordinatenmessungen erst in der jüngeren Vergangenheit neue Methoden implementiert. Im sogenannten «Virtuellen KMG» wird mit kalibrierten Werkstücken und abgeschätzten Einzelfaktoren eine Modellrechnung angezielt. Diese Methode ist Gegenstand der Richtlinie VDI/VDE 2617; Blatt 11 Messunsicherheitsbilanzen. Abschliessend meinte der Referent, dass die richtige Dokumentation beispielsweise nach ISO/TS 23165 oder die sogenannte «Monte Carlo Simulation» anerkannten Messmethoden Vorschub leisten. Hernla wies darauf hin, dass solche Messverfahren sehr aufwendig und kostspielig sind. Hierzu gab es auch einige Meinungswechsel nach den eigentlichen Fachvorträgen, die ein Gros an neuen regulierenden Labornormen sowie gestiegene Produktionsanforderungen andeuteten.
Es wird schwieriger, Unregelmässigkeiten von tatsächlichen Fehlern zu unterscheiden.
Unter solchen Vorzeichen stiess ebenso Markus Rauhut vom Fraunhofer-Institut für Technound Wirtschaftsmathematik ITWM mit dem Thema «Kosteneinsparungen durch prozessintegrierte Präzisionsmessungen» auf ein grosses Echo bei den Tagungsteilnehmern.
Geringer Aufwand und Genauigkeit?
Was es heisst, spezifischen Personalaufwand und trotzdem höchste Genauigkeit einzuhalten, zeigte Markus Rauhut vom Fraunhofer- Institut mittels eines Oberflächeninspektionssystems für die Qualitätskontrolle von Triebwerkskomponenten auf. Nichtsdestotrotz: Messungen variieren. Etwa, wenn Spezialisten Messungen an komplexen Objekten wie Triebwerkskomponenten zurückführen sollten. Sie müssen zum Beispiel Faktoren wie die Schwerkraft, Temperaturschwankungen oder Luftwirbel berücksichtigen. «Die kleinsten Risse oder Schlagstellen können Zuverlässigkeit und Lebensdauer des Bauteils beeinträchtigen », allerdings sind auch die Kontrolleure fehleranfällig bei sich stets repetierenden Prozessen. «Besonders bei sicherheitskritischen Anwendungen wie im EU-Clean-Sky-Projekt», so Rauhut, ITWM-Abteilungsleiter (Bildverarbeitung), könnte man sich manuelle Nachkalibrierungen ersparen. Ebenso könnte ein Kunde wie das Clean-Sky-Projekt strengere Messtoleranzen definieren.
Um geschweifte Triebwerkkomponenten abmessen zu können, werden neuerdings Bildverarbeitungsmethoden eingesetzt. Diverse Kameras machen so aus unterschiedlichen Winkeln Aufnahmen von der Objektoberfläche. Diese wird dann von einer Software ausgewertet. Rauhut: «Das gesamte Spektrum an möglichen Prüfaufgaben lässt sich mit Standardlösungen nicht abdecken. Die zu untersuchende Oberfläche könnte sich je nach Kamerawinkel und Beleuchtung ändern.» Die Forscher vom ITWM sind deshalb mit »MASC – Modular Algorithms for Surface InspeCtion« daran, technische Lücken bei Messverfahren zu schliessen.
Zunächst wird die Werkstückoberfläche mit ausgeleuchtet und abgerastert. «Das ist wichtig, um Schlagstellen oder Risse aufzuspüren, die nur von einer Turbinenseite sichtbar sind», erläutert Rauhut. Bei Freiformflächen werden auf diese Weise auch Regionen erfasst, die durch Krümmungen oder Ecken abgedeckt sind. Je komplexer die Geometrie, desto mehr Kameras benötige man in der Regel. Die MASC-Basisversion kann so mehr als 300 Algorithmen kombinieren. Ein Algorithmus ist beispielsweise darauf programmiert, Kanten oder bestimmte Farbpunkte im Bild zu finden, führt der Forscher aus. Um jedoch den Messungsaufwand zu reduzieren, würden sie sich auf Bereiche konzentrieren, in denen primär Unregelmässigkeiten eruiert und analysiert werden können. «Somit könnten fehlerhafte Komponenten gleich ausgesondert werden», so der Bildverarbeitungsforscher. Die Oberflächen
Wahrnehmung ästhetischer Defekte auf spiegelnden Oberflächen als Herausforderung.
analyse helfe der Warenkontrolle jedoch auch bei spezifischen Inspektionen mit bereits durch die Software markierten Einschüssen oder Brüchen.
Eindeutig nachvollziehbare Parameter
Letztendlich ist keine Komponente, auch keine Edelsteinkugel wirklich homogen. Jedes Produkt, so die Referenten, weise Abweichungen auf. Sie sind von blossem Auge nicht zu sehen. «Bei Projekten, die von der Auflösung in den mikroskopischen Bereich gehen», so Sebastian Höfer, Fraunhofer- Institut für Optronik (Systemtechnik und Bildauswertung), «wird es immer schwieriger, Unregelmässigkeiten von tatsächlichen Fehlern zu unterscheiden.» Die Folge : Einwandfreie Bauteile werden als fehlerhaft aussortiert. Deshalb unterstützen Messspezialisten von Hochschulen wichtige Industriebetriebe, um Pseudofehler zu vermeiden. Höfer, aber auch sein Vorredner Rainer Tutsch, Technischen, Hochschule Braunschweig, spezialisiert auf mikroskopische Linsen, sucht deshalb gezielte Prüfparameter für sensible Produkte, bevor sie in Güteklassen eingeteilt werden müssen. Hier werden erst objektive Bewertungsmasse eingeführt, «die auf einem Modell der menschlichen Wahrnehmung basieren», so Sebastian Höfer, am Fraunhofer-Insitut daran forschend, Schwellwerte für Fehler zu definieren, die Industrietechniker bisher nicht registrieren können. Nichtsdestotrotz ist die Wahrnehmung ästhetischer Defekte auf spiegelnden Oberflächen eine Herausforderung.
Am Nachmittag der Tagung widmeten sich denn auch Referenten der Deflektometrie im thermischen Infrarot. Das Infrarotspektrum ermöglicht die Inspektion von diffus spiegelnden Oberflächen wie zum Beispiel Rohblechen. «In der Praxis», so meldeten sich weitere Forscher zu Wort, «müssten jedoch die Zahl der Messungen und der Zeitaufwand für Messungen in einem vernünftigen Verhältnis stehen.» Viel Interesse erhielt deshalb auch das Forschungsprojekt von Alex Schöch, der selbst an der NTB «Präzise Messungen an heissen Teilen» untersucht. Schwierige Umformungsprozesse, zum Beispiel die High-Speed Laser Triangulation bei Höchsttemperaturen, könnten damit optimiert werden. Schliesslich drehte sich das Referat von Ernst Ammon, Schaeffler Technologies GmbH & Co. KG, um «Präzise Messergebnisse durch eindeutige Spezifikationen».
Ammon beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit eindeutigen Konstruktionsrichtlinien. In seinem Vortrag ging er vertieft auf die Zurückziehung der DIN 7167 respektive auf den «Zusammenhang zwischen Mass-, Form- und Parallelitätstoleranzen » ein. Neu werden insbesondere technische Zeichnungen durch ISO 14405-1 definiert. Ernst Ammon sowie seine Fachkollegen zeigten höchste Kompetenz betreffs dokumentierbaren Technologien und Normen.
Weitere Informationen über die «6. Fachtagung Produktionsmesstechnik für die Praxis» finden sich auf der Website der NTB Interstaatlichen Hochschule für Technik Buchs (www.ntb.ch)