Norm erfüllen auch ohne Entwicklungsprozesse?
Seit ISO 9001:2015 sind keine Ausschlüsse von Normanforderungen mehr möglich. Doch was tun, wenn die Normanforderung nach einem Entwicklungsprozess im Unternehmen nicht zutreffend ist? Es kommt auf die Details an.
Mit der Normrevision ISO 9001:2015 hat auch die Forderung nach einem Entwicklungsprozess (Kapitel 8.3) eine Überarbeitung erfahren. Während die – wie bisher in 9001:2008 enthaltenen – Abschnitte «Planung», «Eingaben », «Ergebnisse» und «Änderungen» erhalten bleiben, wurden die Abschnitte «Verifizierung », «Validierung» sowie «Bewertung» in einem Abschnitt «Entwicklungssteuerung» zusammengefasst.
Keine pauschalen Ausschlüsse mehr
Die generelle Forderung nach einem Entwicklungsprozess besteht gemäss dem Kapitel 8.3.1 nach wie vor. Dies mit dem Ziel, dass die anschliessende Bereitstellung eines Produktes oder einer Dienstleistung grundsätzlich gewährleistet ist. Nach der Normrevision jedoch mit dem wesentlichen Unterschied, dass keine pauschalen Ausschlüsse mehr zulässig sind. Hier wird sichtbar, wie der risikobasierte Ansatz mit dem Entwicklungsprozess verflochten wird.
Konnte bisher ein Unternehmen, das über keinen Entwicklungsprozess verfügte – z. B. ein typisches Handelsunternehmen – den betreffenden Abschnitt ausschliessen, so ist das künftig nicht mehr zulässig. In Unternehmen, die nicht alle Prozesse selbst durchführen, wirft das Fragen auf und führt zur Verunsicherung.
Was gilt nun?
Die Lösung für diese Fragen liegt in den ersten Kapiteln der überarbeiteten Norm. In Abschnitt 4.3 werden Ausschlüsse von ganzen Anforderungen zwar ausgeschlossen, jedoch können spezifische Abschnitte als «nicht zutreffend » bestimmt werden.
Der Unterschied zwischen «Ausschluss» und der Bestimmung «nicht zutreffend» lautet:
– «Nicht zutreffend» gilt für Anforderungen, die für eine Organisation gar nicht erst zutreffen, z. B. eine Technologie wird für ein Bauteil nicht verwendet, dann sind die Anforderungen bezüglich dieser Technologie auch nicht zutreffend.
– Ausschlüsse (welche nach der Normrevision ohnehin nicht mehr anwendbar sind) hingegen bedeuteten, dass die Anforderungen anwendbar und relevant waren, es aber der Organisation freigestellt war, die Anforderung auszuschliessen, also nicht zu erfüllen.
Für die Anwendung des «nicht zutreffend » legt die Norm zugleich auch folgende Bedingung fest: «Die Konformität trifft nur dann zu, wenn die Anforderungen, die als nicht zutreffend bestimmt wurden,
– nicht die Fähigkeit oder die Verantwortung der Organisation beeinträchtigen,
– die Konformität ihrer Produkte und Dienstleistungen sowie
– die Erhöhung der Kundenzufriedenheit sicherstellen.
Verantwortung bei der Organisation
Mit den obigen Bedingungen bezweckt die Norm also, dass das Unternehmen, welches diesen Prozess als «nicht zutreffend» anwenden möchte, grundsätzlich Aktivitäten trifft, um die Fähigkeit seiner Produkte und/oder Leistungen trotzdem unbeeinträchtigt aufrechtzuerhalten. Das heisst, die Verantwortung über die oben genannten Bedingungen bleibt bei der Organisation. Entsprechend muss dafür gesorgt werden, dass die für sie notwendige Entwicklungsarbeit tatsächlich systematisch erfolgt (spezifiziert, angestossen, beauftragt und betrieben wird). Dies um dem Risiko bzw. der Gefahr entgegenzuwirken, dass dadurch das Produkt oder die Dienstleistung beeinträchtig und die Konformität gegenüber Regularien, Vorschriften und Gesetzen nicht sichergestellt wird. Denn dies kann mittel-/langfristig auch negative Auswirkungen auf die Kundenzufriedenheit sowie Anspruchsgruppenerwartungen haben.
«Die generelle Forderung nach einem Entwicklungsprozess besteht gemäss Kapitel 8.3.1 nach wie vor.»
Und wie nicht anders zu erwarten, fordert die Norm bei der Anwendung von «nicht zutreffend»-Fällen, dass die obige Bedingung gerechtfertigt, dokumentiert und damit nachweislich ist.
Im Umkehrschluss bedeutet die Nachweispflicht auch: Ist der Nachweis trotz Anwendung der Klassifizierung «nicht zutreffend» nicht belegbar, liegt eine Nichterfüllung der Normanforderung vor. Die Konsequenzen können dann lauten: Behebung der Abweichung durch Einführung eines Entwicklungsprozesses, die Nachdokumentation/- belegung der Anforderung oder der unwahrscheinliche Fall, Verzicht auf die Bereitstellung des Produktes oder der Dienstleistung.
Leitfragen für die Praxis
Wem die Entscheidung für die Anwendung von «nicht zutreffend» noch zu technokratisch erscheint, kann sich alternativ von folgenden zwei Fragen leiten lassen:
– Ist die Forderung nach Einrichtung, Erarbeitung, Umsetzung und Aufrechterhaltung eines Entwicklungsprozesses relevant und zutreffend?
– Beeinträchtigt diese Forderung (bzw. Nichterfüllung) die Fähigkeit oder Verantwortung, die Konformität Ihrer Produkte sowie die Steigerung der dauerhaften Kundenzufriedenheit sicherzustellen?
Nur bei Verneinung beider Fragen, ist die «nicht zutreffend»- Klassifizierung für den Entwicklungsprozess gerechtfertigt. Selbst wenn nur die zweite Frage bejaht wird, ist ein Entwicklungsprozess einzurichten. Dies unabhängig davon, wie dieses Normkriterium von der Organisation selbst eingeschätzt wird.
Hinsichtlich der Umsetzung der Nachweispflicht kann die Organisation beispielsweise diesbezügliche Nachweisdokumente von Geschäftspartnern wie Franchisegebern, Lieferanten oder Entwicklungspartnern einfordern. Dies können beispielsweise Entwicklungsplanungen oder -ergebnisse auf vorausgehende Spezifikationen sein, die dann beispielsweise im Sinne einer Überwachung und Steuerung, auch auditiert werden (Berichte von Lieferantenaudits). Auch können gemeinsam präzise und erweiterte Beschreibungen der Zweckbestimmung ausgearbeitet werden. Daraus resultiert nebst den Risiken/ Gefährdungen des Produkts oder der Dienstleistung auch eine Liste an umzusetzenden Vorbeugemassnahmen als Nachweis.
Die Dokumente müssen aufzeigen können, dass die Organisation für die konkreten Produkte und Dienstleistungen damit über alle Informationen, Kompetenzen und Ressourcen zur Erfüllung ihrer Verantwortung verfügt und die Kundenzufriedenheit unbeeinträchtigt bleibt. Besonders in der produzierenden Industrie und relevanten Branchennormen ist diese Anforderung bereits gängige Praxis. Dazu kommen häufig sogenannte Wasserfall-, V-Modelle oder agile Prozessmodelle zum Einsatz.
Veränderndes Umfeld berücksichtigen
Je längerfristiger der Planungshorizont für ein Produkt oder Dienstleistung ist, desto eher muss eine Veränderung der Produkte und Dienstleistungen in Betracht gezogen werden (kontinuierliche Neubewertung). Dies besagt ein weiterer Grundsatz. Denn je wahrscheinlicher sich Einflussfaktoren ändern, desto erforderlicher ist es, das Produkt oder die Dienstleistung neu zu überprüfen und ggf. nach den neuen Einflussfaktoren auszurichten. Es ist – dies als Fazit – gut abzuwägen, ob die zwei leitenden Fragen tatsächlich mit nein beantwortet und entsprechend nachgewiesen werden sollen.
Da Entwicklungen in einem verändernden Umfeld nicht nur Risiken/ Gefahren vorbeugen, sondern auch langfristig ein Differenzierungsmerkmal darstellen, kann ihre Unterlassung die Beeinträchtigung der Fähigkeit und Verantwortung der Organisation bedeuten. Entsprechend warten erfolgreiche Unternehmen nicht, bis diese Frage erst aufkommt. Sie investieren frühzeitig und gemeinsam mit Partnern in die Entwicklung oder nutzen spätestens jetzt dies als Chance dazu.