Neue Strategien für die Schweizer Uhrenindustrie

Der Markt für die Schweizer Uhrenindustrie verändert sich deutlich. Politische und konjunkturelle Unsicherheiten stellen die stark vom Export abhängige Branche vor grosse Herausforderungen. Der Innovationsdruck in Bezug auf Funktionalität, Materialien und Fertigungsmethoden steigt.

Neue Medien erfordern andere marktorientierte Herangehensweisen, das spüren die Schweizer Uhrenhersteller drastisch. (Symbolbild: Unsplash)

Die Schweizer Uhrenindustrie befindet sich zurzeit auf einem disruptiven Markt. Die Digitalisierung stülpt den klassischen Vertrieb massiv um. „Vertikalisierung“ ist das Stichwort der Stunde. Doch was bedeutet das strategisch für die Hersteller der gefragten Zeitmesser?

Bis heute läuft bei vielen Uhrenherstellern der Kontakt zum Endkunden nahezu ausschliesslich über den Fachhandel sowie zum Teil eigene Store-Konzepte. Warum auch nicht? Das Modell hat über Jahrzehnte bestens funktioniert und der Branche gute Gewinne gebracht. Die überwiegende Mehrheit der Top-Hersteller verkauft nach wie vor nicht selbst online. Mit der Digitalisierung kommt es jetzt auch in der Uhrenbranche zu tiefgreifenden Veränderungen.

Sie bietet den Unternehmen die Chance, die eigene Position zum Endkunden und zum Fachhandel erfolgreich neu zu definieren. Erstmals haben die Hersteller die Möglichkeit, direkt mit ihren Kunden zu interagieren, ohne die Notwendigkeit des Aufbaus eines engmaschigen Filialnetzes. Gleichzeitig zwingen die neuen Gegebenheiten am Markt die Hersteller dazu, eigene digitale Strategien zu entwickeln, um ihre Wettbewerbsfähigkeit auch in der Zukunft zu erhalten.

Aber was bedeutet das konkret für die Hersteller? Sind sie die Händler der Zukunft? Und was heisst das in der Folge für die Händler? Oder sind die Interessen beider Parteien doch reibungslos vereinbar?

Hauptgründe für die Vertikalisierung

Im Fokus der Vertikalisierung steht bei den Herstellern zumeist nicht die Erschliessung eines neuen Absatzkanals über eigene Online-Shops. Vielmehr drängen die Veränderungen am Markt sie dazu, neue Wege in der Kundenbindung und Markenkommunikation einzuschlagen. Daher sind die wichtigsten Gründe für die Vertikalisierung bei den Uhrenherstellern:

  1. Fachhändler werden zu eigenen Marken

Früher transportierten Uhrenhersteller ihr Markenerlebnis über die Präsenz im Fachhandel an den Konsumenten. Heute reicht es für den Fachhändler nicht mehr aus, dem Endkunden ein bestimmtes Sortiment an Marken anzubieten. Denn dieses Sortiment gibt es in der Regel an vielen Stellen online – bei konkurrierenden Händlern und teilweise auch auf Plattformen. Die Hersteller des Qualitäts- und Luxussegments bieten ihre Produkte zwar bislang nicht selbst auf Plattformen an, sind aber über andere Kanäle dennoch dort vertreten und im Ergebnis dadurch für die Kunden nur einen Klick weit weg. Die Folge: Erfolgreiche Händler setzen mehr auf den Ausbau einer eigenen Unternehmensmarke. Denn am Ende überleben nur jene Fachhändler, die selbst zur Marke geworden sind. Für die Hersteller bedeutet dies, dass sie eigenständige Wege in ihrer Markenkommunikation gehen müssen.

  1. Neue Medien erfordern andere Herangehensweisen

Viele Jahre war die klassische Printanzeige das Mittel der Wahl der Hersteller in Sachen Markenbildung. Doch die neuen Medien haben sich längst als zentraler Kanal in Richtung Endkunde etabliert und Printmedien unter Druck gesetzt. Die uhrenbegeisterte Zielgruppe ist selbstverständlich ebenfalls online und informiert sich in Social Media oder anderen Special-Interest-Communities. Hersteller müssen also digitale Konzepte entwickeln, um ihre Zielgruppe zu erreichen. Aber Markenbildung nur über Content – ohne Produkte – funktioniert nicht. Kunden erwarten ein durchgängiges Markenerlebnis, inklusive der Kaufmöglichkeit des gesamten Sortiments der Marke. Und das kombiniert mit perfektem Service. Vor allem im hochpreisigen Segment wird aussergewöhnlicher Service, der zum Uhrenwert und zum Image der Marke passt, vorausgesetzt.

  1. Millennials im Fokus

Jüngere Konsumenten in der Schweiz als auch international sind mit Online-Shopping aufgewachsen. Speziell Käufer unter 35 Jahren bieten den Schweizer Uhrenherstellern gute Chancen, da sie grosses Interesse an deren Produkten haben. Ihr erster Gang, um Informationen und Produkte zu recherchieren, ist nicht der zum Fachhändler. Information und Kauf erfolgen bei ihnen zumeist durchgängig online. Nur wer als Hersteller selbst Produktinformationen online bereitstellt (beispielsweise im eigenen Online-Shop), erreicht seine Zielgruppe mit den eigenen Botschaften über Markenversprechen und kann bei der Vorauswahl zwischen verschiedenen Marken bestehen.

Primäre Ziele der Vertikalisierung

Beim Stichwort Vertikalisierung sehen Hersteller oft nur den eigenen Online-Shop. Doch das ist zu kurz gedacht. Hersteller, die das Thema Vertikalisierung „richtig“ anpacken, gehen es aus Sicht der Markenbildung und Endkundenkommunikation an. Der eigene Online-Shop und die Erträge daraus sind eher Mittel zum Zweck. Das primäre Ziel der Vertikalisierung besteht darin, die Markeninszenierung zu gewährleisten, Kontakt zum Kunden aufzubauen und ihn und seine Bedürfnisse besser kennenzulernen. Etwa mit zusätzlichen Dienstleistungen. So können Hersteller eine eigene CRM-Datenbank aufbauen und ihre Kunden über neue Kollektionen, Angebote und Services direkt informieren.

Doch es geht keineswegs nur um das Sammeln von Kundendaten und darauf basierende Marketingmassnahmen. Hersteller, auch im Luxussegment, benötigen Erfahrungen mit der hohen internationalen Preistransparenz durch Online-Plattformen. Kenntnisse über deren Dynamik einerseits und Möglichkeiten zur Einflussnahme haben deutlich an Bedeutung zugenommen. Daher muss es Herstellern mittels Vertikalisierungsstrategien gelingen, eine Community aufzubauen, die sich mit den Werten der Marke identifiziert, die zu Fans und damit zu treuen Kunden wird. Das aus einer solchen Community generierte Wissen zu Kunden und deren Bedürfnissen kann schliesslich auch wertvoller Input für die Weiterentwicklung der eigenen Produkte sein und helfen, die Uhren perfekt auf die relevantesten Kunden zuzuschneiden.

Die richtige Strategie

Beim Aufbau einer Community geht es vor allem darum, aus Leads Fans zu machen. Dies gelingt am besten durch hochwertigen Content, der auf die Interessen der Kunden einzahlt (z. B. im Bereich mechanische Uhren spezielle digitale Einkaufsberater, ansprechender Video-Content zur Herstellung der Uhren, Stories über Designideen, Events und Brand Ambassadors). Die Differenzierung zum Fachhandel erfolgt also nicht über den Preis, sondern über die gezielte Emotionalisierung und den angesprochenen perfekten Service. Denn die Marken können den Endkunden deutlichen Mehrwert bieten: Etwa in Form von Exklusiv-Produkten, die es im Handel nicht gibt, exklusivem Content oder des Angebots des kostenfreien Einsendens zur Reparatur in die Meisterwerkstatt des Herstellers.

Die Zeit ist dabei definitiv reif für die Vertikalisierung durch den E-Commerce. Denn potentielle Kunden sind genau dort auf der Suche nach Inspiration, Informationen und Kaufmöglichkeiten. Durch die rasante Weiterentwicklung von Technologien und die mittlerweile umfangreichen Möglichkeiten für Design und User Experience im E-Commerce bietet die Vertikalisierung über den Online-Kanal das Potential, auch Premium-Marken angemessen zu präsentieren und zu verkaufen. Gelingt die Strategie, wird sich das nicht nur positiv auf die Umsätze im eigenen Online-Shop auswirken, sondern viel stärker auf den Umsatz, der über die stationären und Online-Fachhandelspartner erzielt wird. Denn eine digital starke Marke schafft einen Abstrahleffekt, der weit grösser ist als der eigene Online-Shop.

Und die Händler?

Die meisten Hersteller brauchen die Händler auch in Zukunft, denn fast keine Marke ist so stark, dass sie auf das Händlernetz ganz verzichten kann. Händler behalten mit ihren Marken-übergreifenden Sortimentsfunktionen auch weiterhin eine Daseinsberechtigung. Sie können beispielsweise auch im After-Sales-Service eine wichtige Rolle spielen. Deshalb müssen sich Hersteller und Händler auch in Zukunft nicht als Konkurrenten sehen. Sie sollten vielmehr nach Wegen suchen, wie sie voneinander profitieren können, um gemeinsam erfolgreich in die Zukunft zu gehen.

 

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