«Mobility as a Service» auf dem Smartphone
Die traditionsreiche SOB öffnet sich der Zukunft und legt völlig neue «Schienen». Virtuell im Konzept, kundennah in der Anwendung. Die App heisst «Abilio». Thomas Küchler, GL-Vorsitzender der SOB, erklärt hier im Gespräch, worum es bei dieser Innovation geht.
Der Fahrplanwechsel hat einige Neuerungen gebracht. Die Ostschweiz gehört mit zu den Profiteuren neuer Zugverbindungen. Die in dieser Region stark verankerte SOB geizt aber auch in anderen Bereichen nicht mit neuen Ideen, etwa mit der App «Abilio».
Herr Küchler, was ist die Vision von Abilio?
Thomas Küchler: Die Vision lautet: «Mobility as a Service.» Der Gedanke dahinter: Die heute zahlreichen Mobilitätsanbieter virtuell so zusammenfassen, dass der Kunde für seine Reiseplanung die beste Lösung aus sämtlichen Verkehrsträgern erhält. Nicht genug: Angedockt werden nach und nach auch weitere Dienstleistungen aus Tourismus, Gastronomie, Kinos, Hallenbädern, Events usw. Kurz: Abilio ist ein digitaler Marktplatz, der Mobilitätsdienstleistungen mit andern Dienstleistungen virtuell auf dem Handy zusammenführt und optimiert.
An wen richtet sich die App?
Die Mobilität folgt drei Parametern, nämlich dem Wertewandel in der Gesellschaft, dem Wandel im Dienstleistungssektor im Lichte der Digitalisierung sowie dem Wandel im Verkehr selber. Das Interesse an Abilio wird deshalb im urbanen Bereich am grössten sein. Abilio ist bequem und einfach in der Handhabung.
Und woher kommt die Idee?
Das Ganze hat seine eigene Entwicklungsgeschichte. Erstens stellten wir fest, dass sich Kunden zunehmend in den digitalen Kanälen bewegen, wir selber aber noch nicht darüber verfügen. Bloss ein digitales Billett zu schaffen, war uns zu wenig. So kamen wir auf die Idee des digitalen Reisebegleiters. Das berührungslose Ticket «Easy Rider» war ein zweiter Approach in Gesprächen mit der SBB. Sie wollte das aber nicht weiterverfolgen und lancierte stattdessen den Swiss Pass. Und, zum Dritten, ergab sich vor drei Jahren ein Gespräch mit Exponenten von Siemens. Wir boten uns an als Entwicklungsplattform. Siemens machte uns in Kürze den Vorschlag, die Philosophie «Be in, be out» mit einem Billett zu verbinden. Da machte es Klick für die Strategie «Als Reisebegleiter in die digitalen Kanäle vorstossen und dabei die Technologie von Big und Smart Data nutzen». Die Strategie «Mobility as a Service» war geboren. In der Projektausschreibung konnte sich Siemens gegen zwei andere Anbieter durchsetzen.
Die SOB als Türöffner?
Ja, die SOB hat den ersten Schritt gemacht. Das Ganze war ein intellektuell getriebener Prozess, stets begleitet von der Einschätzung der wirtschaftlichen Möglichkeiten und vor allem auch der Interessenlagen aus andern Gebieten. Telekom-Industrie und IT-Industrie haben grosse Affinität zum Thema. Die Öffnung erfolgte dreifach: auf der Ebene unserer Kunden, auf der Ebene unserer Partner mit ihren Dienstleistungen sowie auf der Ebene jener Gruppe, welche die Daten der Plattform nutzen will, um ihre Kunden zu bedienen. Ein erster grosser Erfolg ist da: TCS Schweiz ist aufgesprungen und bietet nicht nur ÖVDienstleistungen an, sondern auch Taxis, Parkplätze usw. Das ist in unserem Sinn. Wir sind überdies in Kontakt mit Versicherungen, mit Partnern im Tourismusbereich usw.
Wie ist die Arbeitsteilung zwischen SOB und Siemens?
Sowohl für die SOB als auch für Siemens schafft das Projekt eine Win-win-Situation. Siemens ging mit der Investition in die Vorleistung. Die SOB kauft die Serviceleistung ab Plattform von Siemens ein und gestaltet Branding, Web-Shop sowie Auftritt der App. Wir kümmern uns um den Businessteil, sind zuständig für das Partner-Management, für den Aufbau der Serviceleistung bei den Kunden, für den Kundendienst usw. Siemens ist zuständig für die technische Entwicklung und den technischen Betrieb. Dafür gelten wir Siemens ab. Siemens ist einer der weni-gen Anbieter eines integrierten Gesamtsystems für Mobilität. Das weckt international Interesse, etwa beim Hamburger Verkehrsverbund.
Welche Rolle spielen die übrigen involvierten Partner?
Die zusteigenden Partner bewegen sich immer auf zwei Ebenen. Es gibt Partner, welche ihre eigene Dienstleistungen direkt ins System einbringen, und solche, welche die Dienstleistung auch ihren Kunden zur Verfügung stellen wollen. Unser Konzept ist als digitaler Marktplatz konzipiert, auf dem die angeschlossenen Partner ihr Business selbständig abwickeln können. Die Konditionen müssen die Partner unter sich aushandeln. Die Nutzungsrechte an der Plattform stehen somit allen offen. Das ist völlig anders als bei den heutigen Booking- Plattformen, denn wir geben nicht vor, wie die Partner ihr Business betreiben sollen. Der Vorteil: Auch kleinere Partner bleiben selbstbestimmt.
Was hat Abilio bei der SOB prozessmässig ausgelöst?
Als Bahnbetrieb sind wir prozessmässig und digital «von Hause aus» auf einem hohen Level tätig. Etwas anderes wurde ausgelöst. Wir erkannten, dass Abilio in der bestehenden Organisationsstruktur nicht zu realisieren ist, denn diese Art des Denkens verträgt sich nicht mit dem Tagesgeschäft. Deshalb wurde die Projektgruppe mit viel Bewegungsspielraum ausgestattet und direkt dem CEO unterstellt. Die strategische Ebene wird zudem durch einen Lenkungsausschuss SOB/ Siemens abgedeckt.
Wie ist der Projektstatus?
Die App ist live aufgeschaltet. Sie liefert öV-Tickets im ganzen Netz Schweiz. Verfügbar ist auch der Web-Shop selber. Seit Anfang 2018 ist mit dem TCS Schweiz ein neuer Partner mit einer eigenen App eingebunden. Das bringt neuen Schub. Integriert wird ein multimodaler Router, nicht bloss Fussweg und ÖV umfassend, sondern auch Anbindungen mit Auto, Velo, Flugreisen. Und weitere neue Partner stehen vor der Tür.
Wie ist das mit dem Datenschutz?
Das Datenschutzkonzept ist völlig anders konzipiert als bei unseren Mitbewerbern. Wir geben Kundendaten nicht weiter, wir nutzen sie nur für technische Zwecke. Wenn das Konto gelöscht wird, sind wir verpflichtet, alle Daten zu löschen. Anonyme Bewegungsdaten nutzen wir lediglich analytisch. Unsere Lösung funktioniert z. B. beim «Be in, be out» zwischen dem benutzten Fahrzeug und dem Handy. Andere Lösungen verwenden dagegen GPS-Daten. Da ist die Anonymität nicht gewährleistet.
Gibt es anderswo ähnliche Projekte?
Wie gesagt, «Mobility as a Service» erhält in Europa Aufmerksamkeit. Die Stadt Wien hat das Thema sehr früh aufgenommen. Sehr weit in der Entwicklung fortgeschritten ist auch MAAS Helsinki. Fest steht: Mobilität als Geschäftsmodell ist attraktiv. Sogar aus Finnland haben wir entsprechende Anfragen. Siemens hat überdies den Zuschlag vom Hamburger Verkehrsverbund für die Einführung von «Be in, be out» erhalten. Die SOB geht als Unternehmen sehr konsequent vorwärts und setzt das Thema auch geschäftsmässig um. Bemerkenswert: Sogar Start-ups, Spin-offs u. a. erkennen mit ihren Ideen in unserer Plattform einen Katalysator. Das beflügelt.
Verändert Abilio die SOB irgendwie?
Sicher. Dieses Projekt hat uns auf der strategischen Ebene weit über das Bahngeschäft hinausgeführt. Wir sehen uns fortan mehr und mehr als Mobilitätsunternehmen, das im Kern Bahnleistungen, darüber hinaus aber auch anders geartete Dienstleistungen in der Mobilität erbringt – entweder selber produziert oder den Kunden im Verbund mit Dritten als Service zur Verfügung gestellt. Wir werden das auch in unserer Organisation so abbilden. Wir bewegen unsere Unternehmung in Richtung Mobilität, unabhängig davon, wo diese Mobilität stattfindet, ob im öffentlichen Verkehr oder im Individualverkehr. Abilio gibt uns den Drive für eine Neujustierung der SOB als Unternehmen.