Mehr Mensch, weniger Administration
Zu kompliziert, zu teuer, kaum mehr Zeit für das Zwischenmenschliche: Das wird an der Pflege von alten und gebrechlichen Menschen in der Schweiz immer wieder kritisiert. Es gibt neue Ansätze, die etwa in Spitex-Organisationen derzeit ausprobiert werden (siehe Artikel auf S. 14 und 15). Was steckt z.B. hinter der Idee des niederländischen Modells «Buurtzorg»?
Wer als Seniorin oder Senior nicht in einem Alters- oder Pflegeheim lebt, nimmt häufig die Dienste der Spitex in Anspruch. Diese Nonprofit-Organisation steht grundsätzlich allen Menschen zur Verfügung, die zu Hause unterstützt werden müssen. Sie hilft, die Krankenhäuser sowie Alters- und Pflegeheime zu entlasten. Die Pflegeleistungen werden gemäss Krankenversicherungsgesetz KVG abgegolten. Der administrative Aufwand ist hoch, Pflegende wie auch Gepflegte beklagen zusehends, dass dabei die menschliche Betreuung auf der Strecke bleibt.
Gibt es Alternativen?
Durchaus, wie ein Blick in die Niederlande zeigt. Das Land ist bekannt dafür, immer mal wieder unkonventionelle Wege zu beschreiten. So auch in der Altenpflege. Das Land hat Altersheime abgeschafft. Damit will der Staat erreichen, dass Seniorinnen und Senioren so lange wie möglich in ihren eigenen vier Wänden bleiben und betreut werden können. Erst wer wirklich medizinische Pflege braucht, kommt auf ärztliche Zuweisung in ein Pflegeheim.
Bei der Altenbetreuung ausserhalb von Pflegeheimen setzen die Niederlande voll auf Nachbarschaftshilfe (niederländisch «buurtzorg »). Diese Organisation wurde 2006 von Jos de Blok gegründet. Der ausgebildete Pfleger regte sich darüber auf, dass der Verwaltungsaufwand und der Papierkram in der Altenpflege derart gross waren. Sein Wunsch war es, zu einer Pflegeorganisation zurückzukehren, bei der das Menschliche im Vordergrund steht und die Administration möglichst schlank gestaltet ist. Das Konzept von Buurtzorg besteht darin, dass die Teams eine hohe Selbstverantwortung tragen. Die meisten Entscheide fällen sie autonom, organisieren die Einsatzpläne, und sie bestimmen auch selbst, wie viele Personen sie betreuen wollen, damit die Ressourcen nicht überstrapaziert werden. Kurz: Sämtliche Managementaufgaben werden von den Teams, die sich gewissermassen selbst konstituieren, eigenhändig übernommen. Dabei ist die Teamgrösse auf zwölf Personen beschränkt.
Zeitaufwand statt Taxpunkte
Bezahlt wird bei Buurtzorg der Zeitaufwand. Das ist komplett anders als die Pflegeplanung nach RAI-Home-Care, dem Abklärungsinstrument, das die Spitex einsetzt. Diese ist sehr kleinteilig und mit entsprechendem administrativem Aufwand verbunden. Kommt hinzu, dass Spitex-Mitarbeitende nach jedem Besuch bei einer Klientin/einem Klienten einen Rapport verfassen müssen. Beim niederländischen Buurtzorg-Modell entfällt dieser Aufwand fast komplett, respektive eine eigens entwickelte Software unterstützt die Mitarbeitenden dabei.
Was in Holland funktioniert, könnte doch auch in der Schweiz die Altenpflege revolutionieren? Jein. Dies befand zumindest eine Machbarkeitsstudie der Fachhochschule Nordwestschweiz, die zwischen 2016 und 2018 durchgeführt wurde. Das Buurtzorg- Modell habe unbestritten Vorteile, kommt die Studie zum Schluss. Doch während in den Niederlanden das Modell quasi «auf der grünen Wiese» entwickelt werden konnte, wäre die Einführung in der Schweiz mit einem aufwendigen Change-Prozess verbunden. Dieser Change-Prozess würde nicht nur den kompletten Umbau der Spitex-Administration betreffen, sondern auch einen Kulturwandel voraussetzen. Enrico Cavedon, Mitglied des FHNW-Forschungsteams, das die Machbarkeitsstudie durchgeführt hat, fasst dies wie folgt zusammen: «Das Buurtzorg-Modell basiert auf einem doppelten Vertrauenskonzept: Intern mussten sich viele Pflegende erst wieder daran gewöhnen, dass man ihnen vertraut und sie eine Vielzahl der relevanten Fragestellungen selbstständig angehen und kompetent lösen können. Gleichzeitig wird Buurtzorg auch von aussen grosses Vertrauen entgegengebracht: beispielsweise von den Klientinnen und Klienten, den Krankenkassen, den Fachgremien, der Politik und der Gesellschaft. Diese Kultur des Vertrauens kann nicht verordnet werden. Man muss sie leben, entwickeln, pflegen und immer wieder erneuern. Darüber hinaus gibt es weitere Aufgaben zu lösen, etwa im Zusammenspiel mit Krankenkassen, Gemeinden und Kantonen.»
An lokale Verhältnisse anpassen
Trotz Vorbehalten haben sich bereits einige Spitex-Teams entschlossen, das Buurtzorg- Modell zu übernehmen – angepasst an die örtlichen Verhältnisse. Und die ersten Erfahrungen sind positiv: Die Spitex Zürich Limmat AG hat die Umstrukturierung zur Selbstorganisation erfolgreich abgeschlossen und ist sehr zufrieden damit, wie der Artikel auf den vorangegangenen Seiten zeigt.