Mehr Augenmass
Qualitätsmanagementsysteme werden immer mehr zum Selbstläufer. Es macht aber keinen Sinn, sämtliche Arbeitsbereiche mit steifen Vorschriften zu überziehen, da die ausführenden Mitarbeiter demotiviert werden. Sie brauchen eigene, an den Geschäftsmaximen orientierte Vorgaben. Und diese sollten sie in interdisziplinären Zirkeln am besten selbst erarbeiten.
Qualitätsmanagement ist vor allem Risikomanagement. Wir wollen damit verhindern, dass schlechte Produkte oder Dienstleistungen auf den Markt kommen und somit Kunden und schliesslich als Retourkutsche Firmen und Institutionen geschädigt werden. Daher leben wir heute in einer Vermeidungs- und Verantwortungskultur. Risiken sollen vermieden, ja am besten ganz ausgeschlossen werden. Qualitätsmanagement wird ausgehend von Six Sigma bis zur Fehlerlosigkeit getrieben und dann gar als Allheilmittel zur Steigerung des Unternehmenserfolgs hochstilisiert (1). Doch ist dieses Vorgehen überhaupt realistisch oder vielleicht sogar kontraproduktiv?
QM – ein «totalitäres» System?
Dankbare Abnehmer der Massnahmen im Qualitätsmanagement sind die Führungsetagen von Unternehmen und Institutionen, die sich einer Flut von Haftpflichtklagen ausgesetzt sehen. Mit verstärkten Qualitätskontrollen versuchen sie, dem Prozessrisiko und den damit einhergehenden Prozess- und Schadenersatzkosten Herr zu werden. Allerdings droht immer schwerer der Hammer der Kausalhaftung. Selbst wenn nachweislich alle betrieblichen Abläufe sorgfältig ausgeführt waren, genügt der Nachweis, dass eine Schädigung ihren Ursprung auf einem bestimmten Betriebsgelände hatte,
Kapitaler Fehler im QM
um den inkriminierten Betrieb in die Haftung zu nehmen. Aus Furcht vor Klagen werden teure D&O- (Directors-and-Officers)-Versicherungen abgeschlossen, und die Qualitätskontrolle versucht man zum totalitären System auszubauen, wobei die Verantwortung dafür an tiefere Managementebenen delegiert wird. Ein kapitaler Fehler, sinkt doch dadurch nachweislich die Compliance, wie Studien zeigen (2).
Der CEO einer grossen Dienstleistungsfirma zeigte mir einst seine Aktensammlung voller Standard Operating Procedures. Hinter seinem Rücken ergaben weit über 1000 detaillierte Arbeitsvorschriften mehrere Ordnerstrassen von jeweils drei Metern Länge. Er selbst gab zu, nur gerade mal ein halbes Dutzend dieser SOPs zu beherrschen. Beschäftigte haben ein feines Gespür dafür, wer mitmacht und wer sich ausklinkt. Wenn das Qualitätsmanagement zum Lippenbekenntnis verkommt, sinkt der Gesamtertrag. Das Top-Management muss im QM-Zirkel unbedingt immer präsent sein.
Qualitätskommunikation – global
Zahlreiche Massnahmen zur Qualitätsverbesserung entfalten ihre Wirkung leider viel zu wenig – weil sie nicht ankommen. Die schiere Masse ist im wahrsten Wortsinn erschlagend, erschlagend für die, die sie ausführen sollen. Dadurch sinken die Chancen, die Prozesse in Produktion und Qualitätsmanagement optimal anzupassen. Die Lücke zwischen rascher Veränderung und Anpassungszeit frustriert die ausführenden Organe des Qualitätsmanagements (Grafik 1).
Im «Overkill» an immer neuen wechselnden Anforderungen kommen die Planvorgaben des QM kaum mehr richtig durch: Da Qualitätsmanagement in aller Regel als «Top-down-Ansatz» vermittelt
Planvorgabenversickern
wird (2), versickert ein guter Teil der Massnahmen auf halbem Weg, wobei die Tatsache, dass Produkte heute auf der einen Seite der Welt produziert und über sieben Weltmeere zum Konsumenten transportiert werden, die Aufgabe nicht einfacher macht. Die globalen Handelsströme führen zu höchsten Anforderungen an die Sicherheitskommunikation. Wie die Informationskultur in der Qualitätsund Sicherheitskommunikation aussehen sollte:
- Umfassender, rascher und offener Informationsfluss
- Schnelle Entscheidungen
- Feedback
- Eigeninitiative fördern
- Kooperatives Verhalten fördern
- Das Fuder nicht überladen
Zwar gibt es immer wieder Bekenntnisse zum gelebten Qualitätsbewusstsein in den Betrieben. Fatalerweise erinnern sie an die Propagandaplakate an den Fabriken in den ehemaligen Ostblockstaaten. Die Realität ist vom Idealfall aber immer noch weit entfernt. Schuld daran ist erneut eine Schere, nämlich die zwischen den eigenen Ansprüchen und den zur Verfügung stehenden Mitteln.
Der homo oeconomicus will die eierlegende Wollmilchsau: Er will die Kosten senken und gleichzeitig die Qualitätsstandards erhöhen. Dies ist aber nur möglich, wenn mit grösster Effizienz vorgegangen wird, und hier machen Unternehmen und Institutionen noch immer sehr gravierende Fehler.
Wenn die Ressourcen fehlen, hilft als erstes eine Reduktion auf das Wesentliche. Dieser Weg ist naheliegend und ökonomisch sinnvoll. Wo der Schaden, wenn er denn eintritt, gering ist, reicht im Qualitätsmanagement in der Regel die Stichprobe statt einer umfangreichen und arbeitsintensiven Vollkontrolle. In Zeiten ewig knapper
Weniger ist mehr
Mittel gilt es, die richtigen Prioritäten zu setzen. Dann wird weniger zu mehr: QM muss sich am Paretooptimum orientieren. Nur rund ein Fünftel aller Prozesse sind wirklich matchentscheidend. Das lässt einen riesigen Raum für Vereinfachungen.
Das dadurch wieder frei werdende Geld und die dadurch wieder frei werdende Zeit lassen sich besser nutzen. Vor allem Produktionsund Produktplattformen helfen sparen, da sie die Ressourcen konzentrieren. Nicht umsonst hat sich in der Industrie seit den 90er-Jahren eine Abkehr von Industriekonglomeraten und Konzentration der Unternehmen auf Kernkompetenzen durchgesetzt. Eine dezentrale Vernetzung macht zwar durchaus Sinn, aber nur wenn die Kommunikation zwischen den Einheiten offen bleibt. Eine ökonomische Verkapselung führt zur Bunkermentalität, die vom gemeinsamen grossen Ziel, nämlich der Überlebensfähigkeit des Gesamtunternehmens, ablenkt.
Das von oben verordnete Qualitätsmanagement wird immer wieder grandios scheitern, da untere Etagen die Vorgaben zwar de jure erfüllen, aber diese nicht mit Leben erfüllen. Schuld an diesem «Reformstau» sind frustrierende und zum Teil überladene Vorschriften, die dann auch noch von oben einseitig vorgegeben werden. Kommen die Vorgaben nur als Diktat, und sind die Diktierenden dann bei der Ausführung gar noch nicht einmal präsent, ist sogar klägliches Scheitern vorprogrammiert.
Über Intrapreneurship zu Qualitätszielen
Wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Unternehmens oder eines Instituts Qualitätsvorreiter werden sollen, brauchen sie eigene und an vernunftgemässen Handlungssträngen orientierte Vorgaben. Und diese sollen sie am besten selbst mit erarbeiten. Denn nur so ist garantiert, dass sie sich mit der Aufgabe identifizieren. Dem Unternehmer oder Entrepreneur steht dann im Idealfall ein ganzes Heer von Intrapreneurs gegenüber, das sich die Ziele seines Brötchengebers zu eigen macht. Die amerikanischen Managementschulen sprechen von «empowerment ». Ein derartiges Vorgehen ist langfristig ausgerichtet, da es Unternehmen/ Institutionen durchgehend vitalisiert (5). Es setzt ein ganz und gar untechnokratisches Menschenbild voraus. Geprägt ist es vom Vertrauen in das Potenzial des Einzelnen. Das spricht durch-
Vertrauen in das Potenzial des Einzelnen
aus nicht gegen effektive Zusammenarbeit im Team. Aber wo Raum für persönliche Weiterentwicklung und Eigenverantwortung, ja eine gewisse Fehlertoleranz gegeben wird, dort entsteht eine Lernkultur, von der die Teams und in der Folge die ganze Unternehmung profitieren. Zugang zu den notwendigen Ressourcen und offener Umgang mit Informationen sind selbstverständlich. Nur so entsteht Vertrauen als Basis für echte Zusammenarbeit (6).
Die Einbindung aller an der Qualitätsverbesserung Beteiligten bringt zahlreiche Vorteile. Wer nicht Prozessopfer, sondern -meister ist, der geht viel motivierter in die ewigen Runden des Qualitätscirculus und eignet sie sich widerspruchsfreier an. Innovatives Mitdenken und Mitdenken bei der täglichen Arbeit wird gefördert. Somit lassen sich auch die Ziele eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) leichter erreichen.
Dieser Ansatz ist gleichzeitig eine der wichtigsten Grundlagen des psychologischen Vertrages zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (7), welcher wiederum eine der besten Voraussetzungen für bessere Leistungen durch höhere Arbeitszufriedenheit ist. Treibende Motivationsfaktoren für die meisten Mitarbeitenden in entwickelten Volkswirtschaften sind die Offenheit der Unternehmensleitung für neue Ideen und die Möglichkeit, Entscheidungen in ihrem Arbeitsbereich zu beeinflussen, also letzthin Mitbestimmungsmöglichkeiten.
Nun arbeiten alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereits sehr hart an der besten aller Betriebswelten. Daher macht es keinen Sinn, noch wie eine Art Zusatzbelastung QCSysteme über sämtliche Arbeitsbereiche zu ziehen. Was die Griechen Pleonexia nennen, die Tendenz zu immer mehr wollen, eine Unersättlichkeit des Willens, ist hier fehl am Platz. Im QC herrscht die Versuchung, alles und jeden in ein deskriptiv- präskriptives Korsett zu zwingen. Viele der ISO-Anweisungen wirken dabei unfreiwillig komisch (Grafik 2).
Der Mensch bleibt im eigentlichen Sinne auf der Strecke, wird in ein lineares statt komplexvernetztes Denkmodell gepresst. Er wehrt sich dann oft insgeheim mit Verachtung und Verdrängung, um sein eigenes Ich zu bewahren. Fürs Qualitätsmanagement sind dies gefährliche Mechanismen, da das Risiko vor allem völlig unerwarteter und dann unkontrollierbarer Fehler ansteigt.
Alle zusammen zum Wohl des Kunden
Ein multidisziplinärer Ansatz dagegen verspricht mehr Erfolg. Er würde die Komplexität beherrschbar machen. Komplexität bedeutet nicht Chaos. Ich arbeitete einmal in einem Unternehmen, das über 100 000 Artikelstammdaten hatte. Eine Firma mit über 100 000 Kontaktpunkten zu Kunden scheint nicht führbar. Aber dennoch war das Unternehmen sehr erfolgreich. Zum einen hatten viele Produkte eine Produktionsplattform als Basis. Dasselbe galt für die Distribution. Entscheidend aber waren die Mitarbeiter. Da es über 60 000 gab, konnte ein jeder seine individuellen Kompetenzen einbringen. Das machte die Komplexität beherrschbarer.
Gleichzeitig herrschte trotz aller Qualitätskontrollen eine Fehler verzeihende Kultur, denn es war allen klar, dass bei über 100 000 Produkten nicht immer alles reibungslos laufen konnte. Aber jeder gemachte Fehler führte zu Informationen. Informationen, die wiederum für Verbesserungen genutzt
QM der Zukunft ist partizipativ
werden konnten. Wichtig war es, diese aus den Prozessen stammenden Informationen (gleichsam Steilvorlagen für den kontinuierlichen Verbesserungsprozess) zu sammeln, zu analysieren und dann erneut dem Qualitätsmanagement zur Verfügung zu stellen.
Fazit
Partizipativ muss also das QM der Zukunft sein. Neben den Auditoren und Auftraggebern sowie den ausführenden QM-Verantwortlichen und Mitarbeitern gehören auch Kunden/Patienten sowie Zulieferer bis hin zu Regulatoren und Investoren mit ins Boot. Da es sich beim geleisteten Input um wertvolles Expertenwissen aus den verschiedensten Blickwinkeln handelt, sollte diese Einbindung bereits bei der Planung der QM-Massnahmen erfolgen (2).
Besonders viel können Unternehmen und Institutionen von Kunden und Konkurrenten lernen. Was spricht also gegen einen informellen Austausch? Niemand ist verpflichtet, gleich Firmengeheimnisse zu verraten. Mit den ausgetauschten Informationen wird auch die Arbeit des Qualitätsmanagements erleichtert. QM ist ein Boot, auf dem eine Menge verschiedenster Passagiere mitfährt. Damit ein derartig beladenes Boot gut durch zum Teil stürmische See kommt, braucht es die Fähigkeit, nichtlinear zu denken. Denn Qualitätsmanagement ist ein komplexes System, das sich nur vernetzt steuern lässt (8). Das hat weniger mit Chaostheorie zu tun als vielmehr mit integrativ interdisziplinärem Denken. Dazu muss das QC einerseits entschlackt, andererseits zu einem vernetzten System ausgebaut werden. Leider sind die gegenwärtigen QC-Werkzeuge lediglich in ihrem Ansatz integral, in ihren Vorschriften jedoch unilateral und für unvorhergesehene Änderungen ganz und gar nicht ausgelegt. Deshalb scheitern sie allzu häufig, und das zum Teil grandios. Dabei bräuchte es oft wenig, damit die Räder der QM-Maschine wirklich gut ineinandergreifen.