Lebensmittel: Täuschungen kratzen am Vertrauen
Ist ein Greyerzer aus Pruntrut ein richtiger Greyerzer-Käse? Darf man Wein etwas Ei zugeben? Gehören 20-tägige Eier noch ins Verkaufsregal? Kann Bündnerfleisch auch aus argentinischem Fleisch bestehen?
Dies und einiges mehr haben die Referentinnen und Referenten den Teilnehmenden des zweiten Schweizer Lebensmitteltages im Frühsommer 2016 in Luzern von SQS, bio.inspecta und OIC profimässig erklärt. Namhafte Experten – Lebensmittelingenieure, Kantonschemiker und spezialisierte Redaktoren aus Presse und Radio – beleuchteten Realitäten, Widersprüche und mögliche Entwicklungen vor dem Hintergrund der neuen Lebensmittelverordnung. Eines vorweg: Täuschung im Lebensmittelsektor gibts, Täuschung darf aber nicht sein!
Vertrauen ist die nötige Basis
Initiiert wurde die Thematik von zwei Exponenten der Branche, die es genau wissen müssen: Felix Müller, GL-Mitglied der Schweizerischen Vereinigung für Qualitäts- und Managementsysteme (SQS), sowie Ueli Steiner, Geschäftsführer von bio.inspecta. Beide sind sich einig: Es geht ums Vertrauen. Ueli Steiner sagte es so: «Als Gemeinschaft unabhängiger Zertifizierungsstellen sind wir verpflichtet, unsere Kunden ehrlich, wirksam und professionell zu auditieren und zu zertifizieren. Das so geschaffene Vertrauen soll via Produzenten und Handel in den Markt ausstrahlen, denn gerade bei Zertifikaten und Labels im Lebensmittelsektor ist Glaubwürdigkeit für Konsumenten von grosser Bedeutung vor dem Kaufentscheid». Gemäss Felix Müller ist ein Zertifikat nur so gut wie die Strukturen und Prozesse, die dahinterstehen. Und das wird jährlich anhand von Stichproben überprüft. So entstehe schliesslich ein gesamtheitliches Bild über die Wirkung von Prozessen: «Wir konzentrieren uns auf die Überprüfung von systematischen Vorgehensweisen, die Prozess sicherheit gewährleisten und über eine Momentaufnahme hinausgehen». «Internationale Kunden», so Ueli Steiner, «melden uns seit Mai 2016 alle ihre Zukäufe und Verkäufe an Waren – bio und konventionell. Nur dann können wir mit einer Rückverfolgbarkeits-Software laufend beurteilen, was unsere Kunden machen.»
Ist die Wahrheit oft zu unbequem?
«Selbst wenn die gesamte weltweite Ernte an Erdbeeren ausschliesslich für Joghurt verwendet würde, reichte das gerade einmal aus, um bloss 4 % der Nachfrage in Europa zu decken.» Mit dieser ernüchternden Feststellung verwies NZZ-am-Sonntag-Redaktorin Regula Pfister auf die Rolle der Werbung im Lebensmittelsektor. Der Anteil an Früchten im Joghurt ist also objektiv begründet klein. Die Mitautorin des Buches «Der Kult um unser Essen: Wo es herkommt. Warum es schmeckt. Wie es uns verführt» zeigte auf diesem Hintergrund weitere illustrative Beispiele, wie die Werbung geschickt mit Wunsch und Wirklichkeit im Lebensmittelbereich umgeht. Oliver Fueter, erfahrener Redaktor des SRF-Konsumentenmagazins «Espresso», blickte zurück auf 40 Jahre dieser Konsumenteninstitution. Den Typus des heutigen Konsumenten kennt die Redaktion aus mannigfachen Direktkontakten. «Informierter, kritischer und mutiger ist er», sagte Fueter, «aber auch orientierungsloser.» Gemäss den Erfahrungen von «Espresso» reagieren Konsumenten besonders sensibel, wenn es um die Gesundheit geht, um die Kinder, den Tierschutz und, natürlich, ums eigene Portemonnaie. Konsumenten erwarteten ehrliche und natürliche Produkte, Kommunikation auf Augenhöhe und rasche Reaktion auf Kritik und Missstände.
Falsche Erwartungen
Basis des Täuschungsschutzes sind Art. 1 und 18 des Lebensmittelgesetzes LMG (vergleiche Box). Täuschend im Sinne dieser Bestimmungen ist gemäss dem Schweizerischen Bundesgericht eine Bezeichnung, die geeignet ist, beim durchschnittlichen Publikum Verwechslungen herbeizuführen; das trifft insbesondere zu, wenn eine unwahre Herkunftsbezeichnung verwendet wird oder tatsachenwidrig der Eindruck erweckt wird, das Produkt oder seine Ausgangsstoffe stammten aus einer bestimmten Gegend oder das Produkt erfülle bestimmte gesetzliche Qualitätsanforderungen. «Der Täuschungsschutz im Lebensmittelrecht ist eine Gratwanderung», sagt Dr. Otmar Deflorin, Präsident des Verbandes der Kantonschemiker der Schweiz. Der oberste Kantonschemiker belegte sein Statement gleich mit einigen handfesten Beispielen aus der Praxis. Ihnen allen ist eigen, dass ein gewisser Informationsstand des Konsumenten vorausgesetzt wird oder die Motivation besteht
sich anhand der detaillierten Angaben auf dem Produkt mit der Sache vertraut zu machen. Das ist wohl im Alltag meist nicht gegeben. So blieben laut Deflorin denn meist falsche Vorstellungen über Herkunft, Zusammensetzung und Produktionsart im Raum.
- Beispiel «Le Gruyère Switzerland»: Dieser Käse hat die Geschützte Urspungs-Bezeichnung AOP=GUB. Greyerzerkäse stammt danach nicht nur aus dem Greyerzerland, sondern wird auch in Pruntrut, im Freiburgischen oder im Neuenburger Jura hergestellt.
- Beispiel Bündnerfleisch: Hier gilt die IGP=GGA (Geschützte geografische Angabe). Hier ist es legal, Fleisch aus Südamerika oder Europa, das in der Schweiz getrocknet wird, als Bündnerfleisch anzubieten.
- Beispiel Eier: Laut Hygieneverordnung des EDI Art. 54 dürfen Eier längstens während 21 Tagen nach dem Legen an Konsumentinnen und Konsumenten abgegeben werden.
- Beispiel Wein: Anhang 2 zur Verordnung des EDI über alkoholische Getränke besagt über «Zulässige önologische Verfahren und Behandlungen sowie ihre Grenzen und Bedingungen»: Klärung durch einen oder mehrere der folgenden önologischen Stoffe: 1. Speisegelatine, 2. Proteine pflanzlichen Ursprungs aus Weizen oder Erbsen, 3. Hausenblase, 4. Kasein und Kaliumkaseinate, 5. Eieralbumin, 6. Bentonit, 7. Siliziumdioxid in Form von Gel oder kolloidaler Lösung, 8. Kaolinerde, 9. Tannin, 10. Chitosan aus Pilzen, 11. Chitin-Glucan aus Pilzen
Illegal getäuscht
Verboten sind laut LMG dagegen insbesondere:
- Aufmachungen irgendwelcher Art, die einem Lebensmittel den Anschein eines Heilmittels geben;
- Hinweise, die einem Lebensmittel Eigenschaften der Vorbeugung, Behandlung oder Heilung einer menschlichen Krankheit zuschreiben oder die den Eindruck entstehen lassen, dass solche Eigenschaften vorhanden sind; Gemäss Art. 48 LMG wird mit Busse bis zu 40 000 Franken bestraft, wer vorsätzlich über Lebensmittel falsche oder täuschende Angaben macht.
- Beispiel Calcium: «Calcium wird für die Erhaltung normaler Knochen benötigt» (O.K.); «Milch hilft gegen Osteoporose» (verboten)
- Beispiel Vitamin C: «Vitamin C trägt zu einer normalen Funktion des Immunsystems bei» (O.K.); «Vitamin C hilft gegen Skorbut» (verboten)
Repräsentative Probenahmen gegen Täuschung
Dr. Helmut Kandler, stv. Kantonschemiker, Zug, zitierte aus Art. 61 LGV Lebensmittelbuch. Dieses enthält Empfehlungen für die Untersuchung und die Beurteilung von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen. Die empfohlenen Probenahme- und Analyseverfahren haben international anerkannten Regeln oder Protokollen, namentlich derjenigen der CEN, der ISO oder des Codex Alimentarius oder anderen für den Zweck geeigneten oder gemäss wissenschaftlichen Protokollen entwickelten Verfahren zu entsprechen. Eine Probe ist repräsentativ, wenn sie Aussagen über die Grundgesamtheit des Warenloses zulässt. Gemäss Kandler ist die Probenahme in den vergangenen 20 Jahren zunehmend verbessert und reglementiert worden. Dies hat zu merklichen Verbesserungen geführt. Eine repräsentative Probennahme und Probenvorbereitung könne aufwendig und kostenintensiv sein. Ursprungskontrollen seien überaus zweckmässig. Diese setzen im Besonderen eine lückenlose und rückverfolgbare Dokumentation (Analysenzertifikat + Probennahme-Protokoll) voraus. «Die Kosten, welche aus nicht sachgerechten Probenahmen-Verfahren resultieren, übersteigen die Kosten für ein sachgerechtes Probenahme-Verfahren häufig erheblich», ist Kandler überzeugt.
Anonyme Rohstoffe: Sind Warenflussprüfungen bei Importen vertrauenswürdig?
Für Lebensmittelingenieur Philip Albrecht steht fest: «Wer mit seinen Zulieferern langfristig gute und faire Handelsbeziehungen pflegt, schützt sich so gut wie möglich vor Missbrauch und sichert sich damit den ökonomischen Erfolg.» Diese Einstellung sei wichtig, denn in Zukunft verlangten die Konsumenten mehr und mehr nach transparenten Märkten. Dabei sei es hilfreich, die Vertrauensbildung gleich dreifach abzustützen, nämlich auf den Menschen, auf die Supply Chain und auf das «Papier». Beim Menschen gehe es darum, die Geschäftspartner gut zu kennen, andere Kulturen zu verstehen und alle Stakeholder in Prozesse miteinzubeziehen. Bei der Supply Chain empfiehlt er: Transparenz schaffen, direkte Bezugsquellen wählen, Risikomanagement durchführen, soziale Kontrolle miteinbeziehen, Warenflüsse steuern, Umwelt einflüsse mitberücksichtigen. Schliesslich sei das «Papier», das Dokument zu hinterfragen bezüglich Seriosität und Reputation der Prüfstelle, Kompetenz des Prüfers, Repräsentativität sowie Interpretation der Resultate. Gemäss Albrecht sind Warenflussprüfungen nützlich, wenn eine Absicherung gegen Dritteinwirkung erfolgt und die Drittkontrolle unabhängig ist. Und er betont: «Kriminelle Energie lässt sich durch Zertifikate nicht ausschalten.»