Kompetenzen eines grösseren Corps

Stefan Lanzrein, Chef der Regionalpolizei Berner Oberland (Kantonspolizei Bern), hat an der Hochschule Luzern – Wirtschaft eine EMBA-Masterarbeit* zum Thema «Die Polizei als lernende Organisation» mitverfasst. Welche Lehren zieht er daraus in die Praxis, wo gesellschaftliche Entwicklungen nicht dynamischer sein könnten?

Kompetenzen eines grösseren Corps

 

 

 

Herr Lanzrein, es gibt Mitarbeitende auf der stationierten und mobilen Polizei, etwa in der Einsatzzentrale oder in der Fahndung. Die Regionalpolizei Berner Oberland ist stets im Dienst im Büro, auf Strassen, Seen, Pässen, Gebirgen. – Wie fördern Sie auf so unterschiedlichen Berufsebenen die Kollegialität unter den Mitarbeitenden?
Stefan Lanzrein: Die Kollegialität unter Poli-zeiangehörigen ist sehr hoch. Ein wesentli-cher Grund ist sicher der gemeinsame und verbindende Werdegang via Polizeischule. Dienstübergreifende Weiterbildungen und vor allem gemeinsame Einsätze fördern und vertiefen den Zusammenhalt weiter

 

In meiner Region setzen wir besonders auf letztgenannten Aspekt: die Bewältigung von Aufgaben und Ereignissen in Teams för-dert das gegenseitige Verständnis, dient dem Informationsaustausch, ermöglicht einen Wis-senstransfer und fördert den Gemeinsinn in unterschiedlichen Diensten.

 

Ziehen Sie überhaupt eine Linie zwischen übergeordnetem Leadership und interdiszi-plinärem Teamwork innerhalb einer Orga-nisation wie der ihrigen?
Es ist für die Kantonspolizei bedeutend, dass Mitarbeitende Qualitäten sowohl als Leader wie auch als Teamplayer zeigen, dies jeweils in unterschiedlicher Konstellation, von Fall zu Fall. Rückt eine Patrouille zu einem Ereignis – einem Verkehrsunfall oder zu einer Schlägerei – aus, wird auf der Anfahrt abgesprochen, wer für die Ereignisbewältigung («Einsatzkoordi-nator Front») und wer für die Ermittlungen («Einsatzleiter Fall») zuständig sein wird.

 

Dienststufe und Erfahrung spielen da-bei in der Regel keine Rolle. Werden zur Ereig-nisbewältigung zusätzliche Patrouillen be-nötigt, werden diese in diese Grundstruktu-ren «Einsatzkoordinator Front/Einsatzleiter Fall» eingegliedert. Der «Einsatzkoordinator Front» braucht deshalb öfters Leaderqualitä-ten, um seiner Führungsfunktion gerecht zu werden. Und da es sich um alltägliche, immer wieder wechselnde Konstellationen handelt, muss vorausgesetzt sein, dass sich jemand in beiden Rollen gut zurechtfindet.

 

Was verstehen Sie unter konstruktiver Kritik innerhalb eines Corps?
Auf der einen Seite steht die Fähigkeit, in ad-äquater Form Rückmeldungen zu geben. Dies bedeutet, dass man in der Lage ist, einen Sach-verhalt präzise zu schildern, einen Entscheid oder ein Verhalten und nicht die dahinter ste-hende Person in den Fokus zu rücken, einen entsprechenden Rahmen zu wählen, einen passenden Ton anzuschlagen und mit Emotio-nen zurückhaltend umzugehen. Auf der ande-ren Seite wird die Fähigkeit erwartet, kritische Voten entgegenzunehmen, zu reflektieren und adäquat zu reagieren. Es wird also erwartet, dass man sich für Rückmeldungen interessiert zeigt, sich mit Kritik auseinandersetzt und dies dem Gegenüber auch klar signalisiert. Weiter soll der Fokus auf die Sache gelegt werden – man soll sich als Person nicht infrage gestellt fühlen. Schliesslich ist auch der Kontakt mit der oder dem Kritikübenden aufrechtzuerhalten.

 

Ich persönlich erwarte darüber hinaus, dass alle Beteiligten eine gewisse Offenheit mitbringen und ernsthaft darüber nachden-ken, ob es nicht auch anders, als von ihnen angenommen oder behauptet, gewesen sein könnte («Kontingenz»).

 

Fliessen Punkte aus Ihrer Masterarbeit auch in eine interdisziplinäre Polizeiausbildung? Inwiefern?
Der Kommandant der Kantonspolizei Bern hat den Inhalt der Masterarbeit wohlwol-lend zur Kenntnis genommen, und sicher-lich auch deshalb wurde nun auf sein Ge-heiss hin ein Projekt an die Hand genom-men, welches das Thema «Lernende Organi-sation» aufgreift und konkrete Massnahmen einbringen soll. Im Fokus soll dabei die Wei-terentwicklung unserer Feedbackkultur ste-hen. Vorschläge, welche auch unsere Aus-und Weiterbildung betreffen, sind dabei gut vorstellbar.

 

Wie «messen» Sie die Lernprozesse? Welche Instrumente setzen Sie dabei ein?
Hierfür steht ein breites, oftmals auch situativ einsetzbares Instrumentarium zur Verfü-gung. Als Beispiele seien hier Leistungsprü-fungen und Verhaltensbeurteilungen (in Be-zug auf Selbst-, Sozial-, Fach- und Methoden-kompetenz) und Mitarbeiterbeurteilungen (siehe konstruktive Kritik) mit Zielvereinba-rungen erwähnt.

 

Wo liegen Ihrer Meinung nach die grössten Potenziale einer lernenden Polizeiorganisation?
Wie Sie erwähnt haben, bewegt sich auch eine Polizei in einem dynamischen Umfeld. Eigene Einsatzerfahrungen, Erfahrungen anderer Polizeikorps,­ gesellschaftliche und rechtliche Entwicklungen, Rückmeldungen aus der Be-völkerung – um nur einige Faktoren aufzu-zählen – erfordern eine stetige Überprüfung des eigenen Handelns.

 

Die Weitergabe der aus diesen Dynami-ken resultierenden Konsequenzen in ordent-lichen Schulungs- und Weiterbildungs-Pro-zessen ist naturgemäss aufwendig und gele-gentlich langwierig, dies gerade bei einem verhältnismässig grossen Korps wie demjeni-gen der Kantonspolizei Bern mit ungefähr 2500 Mitarbeitenden. Umso wichtiger ist es, wenn das Potenzial zum Lernen, zur Verän-derung bei jedem einzelnen Mitarbeitenden verinnerlicht und damit quasi in die Polizei-organisation eingebaut ist. Immerhin gilt es, der Bevölkerung unter den gegebenen Rah-menbedingungen die bestmögliche Sicher-heit zu gewährleisten und die Gesundheit der Mitarbeitenden gut im Auge zu behalten.

 

Stichwort: Digitale Herausforderungen. Wie machen Sie Ihre Organisation fit für die in Echtzeit kommunizierende Social-Media-Generation?
Die Kantonspolizei Bern zieht in diesem Be-reich auf vielen Ebenen mit – sei es bei Ermitt-lungsmethoden, bei den dabei verwendeten Techniken, bei der Ausrüstung, im Rahmen der Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern. Hinzu kommt, dass neue Generatio-nen von Polizeiangehörigen mit diesem Thema weitgehend aufgewachsen sind und deshalb bereits bei Eintritt ins Korps und auch darüber hinaus viele neue Erkenntnisse und die nötige Affinität für dieses Thema mitbringen.

 

Wie beeinflusst dies die Entwicklung Ihrer lernenden Organisation?
Ich bin überzeugt, dass hier erhebliches Poten-zial vorhanden ist, gerade für den Wissens­ transfer in entsprechenden Netzwerken. Teil-weise ist dies bei der Polizei bereits Realität, wobei aber eine Beschränkung auf thematisch gut eingrenzbare, bereits zuvor gut vernetzte Gruppen feststellbar ist. Aus meiner Sicht müs-sen nun auch die Nutzungsmöglichkeiten für einen breiteren Personenkreis geprüft werden.

 

Ich sehe aber auch erhebliche Herausforderungen, beispielsweise in Bereichen des Qualitätsmanagements.

 

Welche Lehren ziehen Sie aus Feedbacks aus der Bevölkerung? Wie werden die Feedbacks ausgewertet und wie werden die «Learnings» gegen aussen kommuniziert?
Feedbacks aus der Bevölkerung werden sehr ernst genommen. So wird zunächst bei den in-volvierten Polizeiangehörigen eine Stellung-nahme eingeholt und der Einsatz wird gegebe-nenfalls mit ihnen besprochen. Anschliessend erfolgt eine Rückmeldung an die Feedback-gebende Person, sei dies schriftlich oder mündlich, telefonisch oder im persönlichen Gespräch. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass besonders bei mündlicher Kommunika­ tion in den allermeisten Fällen sehr konstruk-tive Gespräche zustandekommen, und auch kontroverse Angelegenheiten erfreulich un-kompliziert erledigt werden können.

 

Intern werden die Feedbacks zudem zentral erfasst und periodisch systematisch ausgewertet. Damit sollen allfällige Zusam-menhänge erkannt werden, welche dann wiederum in die Aus- und Weiterbildung der Kantonspolizei Bern einfliessen.

 

Gibt es weit wichtigere Ziele als die digitale Transformation, die Sie für den Polizeidienst sehen?
Meiner Meinung nach ist die Kantonspolizei Bern sehr gut aufgestellt, dies gilt auch für die Regionalpolizei Berner Oberland. Veränderte Anforderungen oder sich bietende Chancen versuchen wir rechtzeitig zu erkennen, um frühzeitig handeln zu können. So haben wir in den vergangenen Jahren beispielsweise bei unseren Gebirgsspezialisten die Trends bei den im Gebirge betriebenen Sportarten aufge-nommen und unser Team entsprechend wei-terentwickelt.

 

Im Zentrum steht für mich aber die ak-tuelle Sicherheitslage und die sich konkret daraus ergebenden Konsequenzen.

 

Bilden Sie sich auch wieder weiter? Ihre Motive?
Selbstverständlich! Obwohl die zweijährige EMBA-Weiterbildung an der HSLU für mich sehr dienlich war und ich sie übrigens auch sehr habe geniessen können, steht für mich aber nun wieder eine Konzentration auf The-men im Vordergrund, mit welchen ich im Rahmen meiner aktuellen Tätigkeit konfron-tiert bin. Erstens finde ich die Beschäftigung mit polizeilichen Themen noch immer höchst interessant, und zweitens empfinde ich grosse Befriedigung, wenn ich Erlerntes direkt in meine tägliche Arbeit einfliessen lassen kann.

 

Zugegeben, auch aufgrund der sehr po-sitiven Erfahrungen an der HSLU kann ich mir durchaus vorstellen, zu einem späteren Zeitpunkt wieder eine neue, polizeifremde Weiterbildung anzugehen.

 

 

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