Herausforderung Komplexität

«So einfach liegen die Dinge leider nicht!» Ein inzwischen viel gehörter Satz. Doch warum ist das so? Weil das Geschehen in der Wirtschaft ungeheuer komplex geworden ist. Der Umgang mit dieser Komplexität will gekonnt sein. Worauf es dabei besonders ankommt, erläutert der Schweizer Krisenspezialist und Leadership-Coach Professor Laurent Carrel im Interview.

Herausforderung Komplexität

 

 

 

 

Professor Carrel, Komplexität im wirtschaftlichen Bezug, was ist das eigentlich?

Komplexität ist heute – Neudeutsch ausgedrückt – «the name of the game ». Letztlich dreht sich eine Vielzahl wirtschaftlicher, politischer, sozialer oder ökologischer Herausforderungen unserer Zeit, ebenso

 

Kein einfaches Wenn-Dann

 

wie alle neuartigen Krisen, um diesen Begriff. Alle sind komplexer Natur und stellen den Manager im Besonderen in drei Bereichen auf die Probe: Bei der Voraussage der Zukunft, beim Entschärfen von Risiken und bei der Entschlussfassung. Komplexität im wirtschaftlichen Bezug, und darin liegt ihre Herausforderung, ist vereinfacht ausgedrückt die kaum mehr gegebene Durchschaubarkeit der Dinge. Es gibt keine einfachen Wenn-Dann- Beziehungen mehr.

 

Worin liegt für ein Unternehmen die Gefahr dieser Komplexität?

Die Gefahren sind vielfältig, ich stelle vier in den Vordergrund: Die Unternehmensführung kann nicht mehr voraussagen, was geschehen wird, wenn einzelne Aspekte einer komplexen Situation oder seltene Ereignisse miteinander agieren und zu nicht beabsichtigten Konsequenzen führen. Scheinbar einfache Massnahmen können erhebliche Folgen haben, während massive Eingriffe wirkungslos bleiben. Es besteht die Gefahr, dass die Führung verkennt, wie die Steuerbarkeit des Systems bzw. die Voraussicht beschränkt bleiben. In dieser Situation tritt die zweite Gefahr auf: Unternehmer und Manager neigen dazu, bei den Voraussagen auf teures Expertenwissen zu vertrauen. Dabei wissen wir inzwischen, dass die Prognosen über die Wirtschaftsentwicklung regelmässig versagten, wenn Dynamik in das System kam.

 

Also gerade dann, wenn man verlässliche Prognosen am meisten braucht?

Ja, etwa an Wendepunkten oder in Krisen. Die dritte, erhebliche Gefahr besteht im Umstand der kognitiven Einschränkungen des Gehirns, alle Aspekte eines komplexen Problems erfassen zu können, obschon dies viele Führungspersonen nicht wahrhaben wollen. Die Folge ist, dass Manager im Irrglauben sind, sie überblickten die Gesamtsituation ganz allein. Und

 

HausgemachteKomplexitätsfalle

 

viertens: Letztlich ist die unternehmerische Komplexitätsfalle auch hausgemacht. Selbstorganisation und Prozesse führen zu einem nicht mehr überblickbaren Grad an Komplexität, weshalb manche Unternehmungen in kritischer Selbstanalyse diesem Umstand in einem Complexity Index (CI) Rechnung tragen.

 

Wie kann dieser Gefahr auf Unternehmensebene begegnet werden?

Im 21. Jahrhundert werden jene Wirtschaftsführer erfolgreich sein, welche die Komplexität und das systemisches Denken als die neue Realität anerkennen und Instrumente entwickeln, um sie zu erfassen und als Chance zu nutzen. Nur so können sie ihre Handlungsfreiheit wahren.

 

Woran denken Sie da?

Ich denke vor allem an die Verbesserung der Prognose-Methoden. Traditionelle Voraussage-Methoden, die komplexen Situationen nicht gerecht werden, treten in den Hintergrund. Stattdessen kommen Simulationen, Modelle (wie zum Beispiel Customer-Relationship- Management Models), Szenarien, Wild Cards oder «Schwarze Schwäne », also Ereignisse, an die noch niemand gedacht hat, zur Anwendung. Solche Modelle berücksichtigen auch eine tiefe Eintretenswahrscheinlichkeit mit extremen Auswirkungen.

 

Und das hat welche Vorteile?

Bei komplexen Entscheidungssituationen wird der Input einer Vielfalt verschiedenartiger Ansichten, Methoden oder Annahmen drastisch erhöht. Mit andern Worten, erfolgreiche Leader wenden das grundlegende Gesetz von der erforderlichen Varietät (Law of Requisite Variety) des britischen Neurophysiologen und Kybernetikers W. Ross Ashby an, um ein komplexes System zu steuern. Risiken werden zudem vermindert, indem man in kleinen Schritten und mittels kontrollierbarer Experimente vorwärtsschreitet. Man lernt fortlaufend und setzt die Erkenntnisse unmittelbar um. Flexible Strategien beruhen zum Beispiel auf einem Set vereinbarter Grundregeln der Entscheidungsfindung, die unveränderbar sind, von allen jederzeit eingehalten werden und den direkt Betroffenen an der Front erlauben, eigenverantwortlich und flexibel je nach Situation optimal zu entscheiden. Der hausgemachten Komplexitätsfalle entgehen sie mittels einer Systemvereinfachung der Unternehmung, weil ein zu komplexes Geschäftsmodell in Zeiten der Krise besonders für Verluste anfällig ist. Es wird alles daran gesetzt, die eigene Komplexität nicht durch Hinzufügen neuer Prozesse oder Hierarchiestufen zu vergrössern.

 

Welche Qualifikationen braucht es dazu?

Auf der Führungsstufe braucht es nicht weniger als eine grundlegend neue Denk- und Führungskultur. Leider steht den notwendigen Veränderungen nach wie vor eine Unternehmenskultur der Command and Control Economy im Weg. Untersuchungen haben ergeben, dass die strategische Führung, die mit komplexen Problemen konfrontiert ist, erfolgversprechender wird, wenn die kooperative Zusammenarbeit im Unternehmen gefördert, die gegenseitigen Verantwortlichkeiten erhöht und die dezentrale Problemlösung an der Basis dank Übertragung von Verantwortlichkeiten und selbständige Entscheidungsbefugnis gefördert werden. Voraussetzung ist allerdings, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die gegenseitigen Aufgaben und Abhängigkeiten verstehen, ihr Wissen teilen, die Hindernisse und Ziele der andern mitberücksichtigen, dass zudem Personen, die sich bemühen, in Teams oder in der Belegschaft integrierend zu wirken, gefördert werden und ein Klima des Vertrauens herrscht.

 

Bezogen auf diese Fähigkeiten erkennen Sie hier einen Nachholbedarf?

Angesichts der Tatsache, dass in vielen Unternehmungen das systemische Denken noch in den Kinderschuhen steckt, würde sich Frederic Vester, der Vater des vernetzten Denkens, im Grabe umdrehen. Fairerweise muss man allerdings auch sagen, dass in unseren Genen und in der Evolution des Gehirns

 

KooperativeZusammenarbeitfördern

 

das mechanistische Ursache-Wirkung- Denken tief verankert ist, schliesslich war es bis in jüngster Vergangenheit bei komplizierten Umständen noch hilfreich. Für die Bewältigung adaptiv-komplexer Problem oder Krisen ist es ungeeignet und hat ausgedient.

 

Das tönt ja nicht gerade optimistisch…

Die gute Nachricht ist, dass systemisches Denken lernbar ist, gleich wie emotionale und soziale Kompetenzen. Denn diese sind in komplexen und ungewissen Zeiten unabdingbar, um erfolgreich zu führen. Dazu gehören besonders die persönliche Sichtbarkeit und Ansprechbarkeit des Leaders, sein aufmerksames Zuhören, eine authentische und wahrheitsgetreue Kommunikation sowie Empathie gegenüber den Verunsicherten im Unternehmen. Ohne Vertrauen ist es unwahrscheinlich, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei

 

Ungewisse, chaotische Situationen

 

ner aufgezeigten Vision oder dem Weg aus der Krise folgen. Führungspersonen sind in komplexen Situationen oder Krisen gezwungen, auch Regeln zu brechen, und sie müssen den Mut haben, Risiken einzugehen. Hierzu ist eine auf Vertrauen basierende Gefolgschaft des ganzen Teams erforderlich.

 

Inwieweit sollte in der Breite der Belegschaft ein Bewusstsein für den wachsenden Einfluss der Komplexität auf das Betriebsgeschehen vorhanden sein?

Dies ist ein Schlüsselelement, um komplexen Herausforderungen unternehmerisch mit Erfolg zu begegnen. Die im Herbst veröffentlichten globalen Forschungsergebnisse von Gallup ergeben, dass weltweit im Durchschnitt gerade mal 11 Prozent der Angestellten mit innerem Engagement bei der Arbeit sind. Das ist eine alarmierende Zahl, die unsere Beobachtungen bestätigen: Leader müssen statt autoritärem Führungsgebaren die «cognitive diversity», das heisst die Diversität von Erfahrungen, Ausbildung, Einstellungen oder Meinungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, drastisch fördern. Sie bilden Kernkompetenzen in Teams bzw. Stäben zur Bewältigung komplexer Probleme oder Krisen. Ebenso wichtig wird deren Durchmischung nach Alter, Herkunft oder Gender. Ohne intellektuelle Neugier können kaum kreative Lösungsoptionen erarbeitet werden. Hier tun sich Leader und Manager sehr schwer. Ausgeprägten Alpha-Tieren sollte wieder ein Hofnarr zur Seite gestellt werden, der wagt zu sagen, was die andern nur denken. Wie oft beobachten wir in der sich abwärts drehenden Krisenspirale nur mehr Ja-Sager um den Entscheidungsträger, der ihm widersprechende Ansichten als Verrat abstraft.

 

In letzter Zeit wird Erfahrung wieder zunehmend als positiver Wert gesehen. Gilt das auch im Management von Komplexität?

Das Denken in Kategorien des industriellen Zeitalters im Bereich Strategie, Organisationsstruktur oder Leadership, das bis ca. 1970 als geeignet erschien, ist im 21. Jahrhundert angesichts der raschen Veränderungen, der Unsicherheiten und der Komplexität nicht mehr hilfreich. Das Paradigma: Was sich gestern bewährt hat, können wir dank unserer Lehren morgen erneut mit Erfolg einsetzen, ist überholt. Wir fliegen blind, in diesem Sinn kann langjährige Erfahrung ein einschränkender Faktor sein, denn die heutige Devise lautet: «Let go of the old mental model!»

 

Gibt es einen Zusammenhang von betrieblicher Krisenstabilität und der Professionalität des Managements im Umgang mit Komplexität?

Den gibt es mit Bestimmtheit. In beiden Fällen ist systemisches Denken unabdingbar. Um betriebliche Krisenstabilität sicherzustellen, müssen wir bereits vor der Krise eine holistische Betrachtungsweise favorisieren, zum Beispiel durch eine interdisziplinäre Arbeitsweise bei der Risikobeurteilung, beim Erarbeiten vernetzter Szenarien, beim Erstellen einer gemeinsamen Vision oder einer Portfolio- Strategie zur Krisenprävention und Krisenvorbereitung. Gleichzeitig fördern wir eine interdisziplinäre Ausbildung und Kri-senübungen mit ausgefallenen Szenarien.

 

Um ein Unternehmen komplexitätsstabiler zu machen, wo sehen Sie den entscheidenden Ansatzpunkt dafür?

Erfolgversprechende Handlungsstrategien bewegen sich im Spannungsfeld von Reduktionismus und Varietät. Das heisst nach dem Motto «conquer complexity»: Einerseits Ordnung machen, Komplexität verringern, die vielfältigen Herausforderungen einfacher und mittels Teilproblemen

 

Fähigkeiten zur Kommunikation

 

übersichtlicher machen und in verständlicher Form abbilden. Aber Achtung, die Warnung Edward De Bonos ist ernst zu nehmen: Einfachheit ist erst von Wert, nachdem man das Gesamtproblem verstanden hat, vorher ist sie wertlos.

 

Was sollte ein Unternehmen konkret tun?

Die Eigenvarietät wird verstärkt durch anpassungsfähige und flexible Führungssysteme, durch Variantendenken bei der Lagebeurteilung. Die Komplexitätserkennung erfolgt unter Einbezug aller Führungsstufen, wir pflegen einen intensiven, interdisziplinären Dialog im Verbund aller Betroffenen oder Stakeholder. Dazu gehört eine äusserst aktive und umfassende Informationsbeschaffung. Was müssen wir unbedingt wissen und verstehen, und zwar aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln? Dazu benötigen wir klug zusammengesetzte, interdisziplinäre Teams oder Stäbe, in welchen vielseitige und auch kritische Ansichten vertreten sind. Dank intellektueller Neugierde, Kreativität und Variantendenken werden unterschiedliche Lösungsvarianten erarbeitet und bewertet. Damit wird insgesamt die Eigenvarietät verstärkt. Ziel ist, die Zahl der Wahlmöglichkeiten zu erhöhen und den Entscheidungsspielraum zu vergrös

 

Offen und lernwillig bleiben

 

sern. Im eigentlichen Führungsprozess, zum Beispiel bei der Aktionsführung in komplexen Krisen, sind neue, adäquate Methoden anzuwenden.

 

Professor Carrel, und worauf kommt es an, um von diesem Punkt aus dann auch tatsächlich das angestrebte Ziel zu erreichen?

Der Kreis schliesst sich: Wir haben gesagt, eine grundlegend neue Denk- und Führungskultur ist unabdingbar. Komplexe Herausforderungen oder Krisen verlangen nach einem neuen Typ von Unternehmens- Kapitän, der vernetzter und in verstärktem Masse in systemischen Gesamtzusammenhängen denkt. Zudem sucht er den Dialog mit seiner Crew, welche die Strategie hautnah mitträgt und für stetigen Antrieb sorgt. Er zeichnet sich demnach nicht nur durch seine Fähigkeit zum systemischen Denken und strategischen Handeln aus, sondern durch seine besonderen Fähigkeiten zur menschlichen Kommunikation. Das angestrebte Ziel in ungewissem und komplexem Umfeld wird er mit grösseren Erfolgschancen erreichen, wenn er lernwillig bleibt und der Devise nachlebt, dass sich und andere führen heisst, sich und andere besser zu verstehen.

 

Ein herzliches Dankeschön für diese Hinweise.

 

 

 

 

 

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