Hannes führt Protokoll

M ontagmorgen, 8.00 Uhr. Hannes sitzt im Büro und bereitet sich auf die Geschäftsleitungssitzung vor. Ein wöchentliches Ritual. Beginn 8.30 Uhr, Kaffee um 10 Uhr. Letzterer wird wegen der überfrachteten Traktandenliste jeweils spontan gestrichen. Offizieller Schluss 11.45 Uhr, faktisch nie vor 12.30 Uhr. Deshalb genehmigt Hannes sich den Kaffee prophylaktisch und lässt seinen Apfel zwischen den Zähnen knacken. Der Apfel ist neu, früher wars Kuchen. Seit dem internen Programm «fit-for-work» wählen die Geschäftsleitungsmitglieder die Zwischenverpflegungen nach dem Vorbild-Ansatz aus.

Mitten in die physischen und psychischen Vorbereitungen klingelt sein Handy – die Büronummer ist bereits aufs Sekretariat umgeschaltet. Sein Chef sucht ihn. «Könntest du heute das Protokoll der Sitzung führen? Frau Blatter ist krank. Weil du am wenigsten Traktanden hast, möchte ich dir diese wichtige Aufgabe übertragen. Du weisst doch, im Grunde ist der Protokollführer die wichtigste Person – neben dem Chef.» «Mach ich», gibt Hannes leicht mürrisch zurück. Unwillig denkt er sich: «Ich muss ja. Von wegen ‹die wichtigste Person›…eine plumpe Schmeichelei.» Hannes fühlt sich eben gerade nicht als Zweitwichtigster im Unternehmen.

 

Pünktlich – wie immer – begrüssen sich alle freundlich, und der Chef eröffnet mit dem seit Jahren immer gleichen, offiziell-witzigen Spruch «dann platzen wir mal». Ein kurzes, inszeniertes Anwärm-Mitlachen und man setzt sich – wie immer – auf die gleichen Plätze. Der Chef beginnt: «Ich möchte euch alle herzlich begrüssen». Hannes schreibt mit und stolpert über das Wort «möchte». Warum «möchte»? Er könnte es einfach tun. Soll Hannes bei Traktandum 1 «Begrüssung» nun «Absichtserklärung» schreiben? Zeit, um darüber nachzudenken, bleibt ihm keine. Zackig gehts weiter mit den Worten «wir haben heute eine ‹sportliche› Traktandenliste (auch dieser Spruch ist immer derselbe, genauso wie das kalkulierte Lachen aller).

 

Der Verkaufsleiter präsentiert die Verkaufszahlen der vergangenen Woche. Diese sehen seit längerer Zeit mies aus. Seine Stimme war schon mit mehr Selbstbewusstsein getränkt. «Warum habt ihr nicht mehr Gas gegeben?» fragt der Chef. Der Verkaufsleiter: «Die Marktsituation ist ausserordentlich. Die Mitbewerber produzieren unterdessen fast ausschliesslich in China und haben bessere Preise». Der Produktionsleiter rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her: «Wir arbeiten bereits mit den Kosten am unteren Limit. Ich kann nicht akzeptieren, dass

 

Hannes macht sich einen Sport daraus, Wendungen wie «man sollte» oder «man müsste» zu zählen

 

wir an den schlechten Verkaufszahlen schuld sind.» Der Chef greift ein und unterbindet die Schuldzuweisungen mit den Worten: «Man müsste halt schauen, wo wir Optimierungsmöglichkeit haben, damit wir kostenmässig wieder etwas konkurrenzfähiger werden.» Alle nicken nonverbal und mit gemurmeltem «genau richtig». Der Chef hat es wieder einmal auf den Punkt gebracht. Hannes protokolliert fleissig, bis ihn der Ausdruck «man müsste halt…» stocken lässt. In seinem Protokoll fehlt nun, wer was bis wann macht. Vielleicht ist auch diese Äusserung nur eine Absichtserklärung.

 

Bereits ist man mit den Traktanden in Verzug. Der Chef schlägt vor, ausnahmsweise auf die Kaffeepause zu verzichten. «Kein Problem», hallt es aus der Runde. Der HR-Leiter gibt zu bedenken, dass man vielleicht eine ganztägige Sitzung planen könnte, um den Pendenzenberg abzubauen. «Gute Idee», ist das Echo, der Chef präzisiert: «Das sollten wir angehen.» Hannes schreibt mit und überlegt sich: «Absichtserklärung oder Ziel?»

 

In zügigem Stakkato takten sich die Geschäftsleitungsmitglieder durch die Geschäfte. Hannes beobachtet, wie einige offiziell am Tablet mitschreiben. Bei der Rückkehr in sein Büro wird er EMails von seinen Kollegen aus der GL erhalten, die sie am Vormittag schrieben. Das lässt sich gut getarnt erledigen. Den Streber markieren, aber E-Mails schreiben.

 

Noch ein paarmal erwischt sich Hannes beim Gedanken «Absichtserklärung». Er macht sich einen Sport daraus, Wendungen wie «man sollte» oder «man müsste» in einer persönlichen Statistik zu zählen: Siebenmal ‹man müsste› und einmal ‹man sollte›.

 

Nach vier Stunden geschäftigem Sitzen kommt der Chef zum Schluss: «Ich hoffe, dass Ihnen die Nachspielzeit nicht geschadet hat». Auch immer der gleiche Spruch. Es ist 12.30 Uhr und der Chef verabschiedet sich mit dem üblichen Abgang: «Ich möchte mich herzlich bei Ihnen bedanken.» Es wäre somit die letzte Absichtserklärung des Vormittags gewesen…

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