Hannes führt die «Du-Kultur» ein

Die erste Sitzung der Geschäftsleitung nach der langen Sommerpause hat gedauert. Hannes war sich dessen schon zuvor bewusst gewesen, kam gut vorbereitet und hatte auch klare Pläne vorgelegt, wie im zweiten Semester in der Produktion noch etwas an der Effizienzschraube gedreht werden könnte, um die gefährdete Gewinnmarge noch etwas aufzuholen. Ein anspruchsvolles Unterfangen, zumal die Märkte ebenfalls flau sind.

Hannes führt die «Du-Kultur» ein

 

Der Teamgeist mit dem neuen CEO verpflichtet. Weitreichende Entscheidungen wie Schichtkürzungen oder Fremdvermietungen von Maschinenstrassen an Partnerunternehmen werden nun im Team der Geschäftsleitung austariert. Gemeinsam wird dann ein Ent-scheid gefällt. Das Einzelkämpfertum hat ausgedient. Das ist Hannes sympathisch, denn es entlastet ihn als Produktionsleiter sehr.

 

Die Anträge von Hannes wurden diskutiert. «Diskutiert» heisst: jeder gibt seinen Senf dazu, obwohl er von Technik, Produktion, Kaizen und KVP überhaupt keine Ahnung hat. Entschieden wird höchstens, dass noch nicht entschieden wird. Voten wie «da muss meiner Meinung nach Hannes nochmals über die Bücher» sind die vorgeschobenen Ar-gumente, wichtige Entscheidungen nicht zu fällen. Das macht Spass: alle reden mit, niemand will die Konsequenzen tragen. Die Geschäfts-leitung mutiert zum Abklatsch politischer Gremien im Land.

Ein Entscheid wird gefällt – jetzt wird «Du» gesagt
Aber heute hat Hannes sich getäuscht. Da schlägt doch tatsächlich die HR-Division vor, das Teamklima gezielt weiter zu fördern. Schluss-endlich trage eine gute Motivation mehr zur Produktionssteigerung bei als eine digital optimierte Steuerung einer Produktionslinie. Die Kollegen sind begeistert. Gemeinsam wird der Entscheid gefällt, dass das Programm «Förderung der Firmenkultur durch mehr Motivation im Team» heisst und vor allem nichts kosten darf. Da entscheidet der CEO, der sich gerne als «Macher-Typ» bezeichnet, dass man doch ein-fach die «Du-Kultur» einführen sollte. Geht schnell, wirkt schnell und kostet nichts. Das Gremium nickt das ab und gibt Hannes den Auftrag, die Umsetzung zu planen. Das ist zwar nicht gerade das, was Hannes sich aus dieser Sitzung versprochen hat, aber es bleibt ihm nichts an-deres übrig, als sich dahinter zu machen.

Im Detail steckt der Du-Teufel
Zurück in seinem Büro beginnt er, die entsprechende Weisung zu entwerfen. Ab sofort sollen sich alle «Du» sagen, unabhängig von der Hierarchie. Das ist modern und zeugt von Offenheit und Aufge-schlossenheit. Seine Gedanken machen sich selbstständig: Gefühlt werden so Hierarchien abgeschafft, um sie dann durch die Hintertür noch stärker zu pflegen. Aber was heisst hier «ab sofort»? «Ab sofort» geht nicht, befindet er. Was ist mit denjenigen, die jetzt im Urlaub oder auf Geschäftsreise sind? Die kommen nächsten Montag zurück und werden von ihren Mitarbeitenden mit «Du» angesprochen. Das ist zu abrupt. Also muss ein Stichtag her. Er beginnt an der Weisung zu feilen.

 

Hannes definiert: Ab 1. Oktober dieses Jahres gilt die «Du-Kultur». Und weil auch Leute im Dreischichtbetrieb betroffen sind, wird die Zeit 00.00 Uhr ebenfalls definiert. Zu Beginn der Schicht begrüsst der Bereichsleiter noch mit «Guten Abend Herr Meier», verabschiedet wird er mit «Tschüss Matthias». Das wirkt nur auf den ersten Blick etwas grotesk und gestelzt, aber die Gruppe spürt so am intensivsten, wie ernst es der Geschäftsleitung mit dem Thema «Wertschätzung» ist.

 

Gleichwohl weiss Hannes beispielsweise vom Finanzchef, dass er sich schwer tut mit dem «Du»-Sagen. Eigentlich tun das viele. Kein Wunder, denn die Branche und ganz besonders das Unternehmen waren klar hierarchisch geprägt. Ist es ja heute noch, denn es gibt Ab-teilungen, in denen sich selbst langjährige Kollegen noch «Sie» sagen. Aber das ist jetzt alles vorbei. «Da muss man halt umdenken», sagt sich Hannes und unterstreicht in der Weisung den Passus für alle obligato-risch. Aber findig wie er ist, kreiert er doch noch einen kleinen sprach-lichen Notausgang.

Die rettende Übergangsphase
Wer in einer Übergangsphase von sechs Monaten Mühe hat, vom «Gu-ten Tag Herr Meier, konnten Sie den Bericht schon schreiben?» auf das joviale «Hallo Bruno, hast du das Gekripsel schon fertig gebastelt?» zu wechseln, für den gibt’s eine Alternative. «Guten Morgen, wie sieht’s aus, ist der Bericht schon fertig?»

 

«Das ist gut», denkt Hannes und ist wieder einmal stolz, die Qua-dratur des Kreises gefunden zu haben. Dazu erfüllt das Unternehmen weitere Hürden in der geschlechterneutralen Formulierung. Wer nicht Menschen mit «Sie» oder «Du» anspricht, sondern nur über Sa-chen redet, kann «Frau» und «Mann» sowie «Sie» oder «Du» nicht mehr verwechseln. Das ist wahrlich ein monumentaler Schritt im kontinu-ierlichen Verbesserungsprozess.

 

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