Grenzen der Arbeitsintensität
Überstunden erwartet jeder Chef. Eine Arbeitszeitverkürzung ohne Betrachtung der steigenden Arbeitsintensität und der gesundheitlichen Konsequenzen greife aber zu kurz, meint Axel Haunschild, Direktor des Instituts für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft an der Leibnitz-Universität Hannover, im Interview mit Management & Qualität. Der Experte referiert demnächst in der Schweiz.
„Immer dort, wo es um den Umgang mit Ziel- und Interessenkonflikten geht, kann es keine Patentrezepte geben“, sagt Axel Haunschild, Arbeitswissenschafter.
Hat unsere Gesellschaft die Grenze der zu leistenden Arbeitsstunden erreicht?
Die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden sind heute ungleich verteilt und liegen bei in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmern zwischen ca. 35 Stunden bis hin zu ca. 60 Stunden in Branchen, in denen keine Tarifverträge bestehen und viele (dann häufig unbezahlte) Überstunden zumindest implizit erwartet werden (siehe Beratungsfirmen, Rechtanwaltskanzleien, Kreativwirtschaft).
Den Blick auf die Arbeitsstunden zu richten, ist daher zu kurz gegriffen. Allein eine Arbeitszeitverkürzung wirkt beispielsweise Erschöpfungszuständen nicht entgegen, sollte die verbleibende Arbeitszeit durch Hetze, Arbeitsdruck oder eingeschränkter Handlungsautonomie geprägt sein.
Zusammengefasst: Die Grenze der zu leistenden Arbeitsstunden/Arbeitsbelastung ist für manche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer früher erreicht als bei anderen. Eine Arbeitszeitverkürzung ohne Betrachtung der steigenden Arbeitsintensität und begleitenden Anforderungen greift zu kurz.
Wirtschaftlichkeit versus Gesundheit. Gibt es denn wirklich so etwas wie ein Patentrezept für Ausgeglichenheit?
Immer dort, wo es um den Umgang mit Ziel- und Interessenkonflikten geht, kann es keine Patentrezepte geben. Die Gestaltung von Arbeit findet seit der Entstehung marktwirtschaftlicher Unternehmen (speziell kapitalistischer Produktionsformen) im Spannungsfeld von Rationalisierung und Humanisierung statt. Wobei es heute auch Unternehmen gibt, die sich über die gesetzlichen Vorgaben hinaus für die gesundheitlichen Interessen ihrer Mitarbeiter einsetzen.
Unternehmen, die ein ernsthaften Interesse an gesunderhaltenden Arbeitsbedingungen haben, sollten in partizipativen Prozessen die Wahrnehmungen und die Erfahrungen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erheben und aufgreifen sowie zu strukturellen Veränderungen ihrer Arbeitsbedingungen bereit sein. Dies setzt häufig aber das Zurückstellen kurzfristiger ökonomischer Interessen voraus und ist daher bei hohem wirtschaftlichen Erfolgsdruck immer schwerer umzusetzen.
Braucht es künftig – angesichts der steigenden Burnout-Raten – neue Arbeitsmodelle?
Arbeitsmodelle müssen sich an arbeitswissenschaftlichen Kriterien gesunderhaltender und motivierender Arbeit orientieren. Solche Arbeit ist für einen Mitarbeitenden bewältigbar, berücksichtigt individuelle Unterschiede in der Leistungsfähigkeit, lässt Anforderungs- und Belastungswechsel zu, ist mit einer als gerecht empfundenen Entlöhnung verbunden – macht Sinn, wird wertgeschätzt, ermöglicht Erfolg, schliesslich auch Anerkennung und persönliche Weiterentwicklung . Dies bedingt soziale Unterstützung.
Welche Tipps geben Sie Arbeitnehmenden, die sich an den Grenzen der Arbeitsbelastung sehen?
Ob Arbeitsbelastungen auch zu individuellen Beanspruchungen, zum Beispiel Erschöpfung bis hin zur Krankheit, führen, hat immer auch individuelle Einflüsse. Es ist daher hilfreich, das eigene Verhältnis zur Arbeit zu reflektieren und sich über die eigenen Erwartungen, Ziele und das eigene Arbeitsverhalten Gedanken zu machen. Dies können zum Beispiel die Grenzziehungen zwischen Arbeit und anderen Lebenssphären sein, die Fähigkeit, den Erwartungen anderer auch einmal nicht zu entsprechen, oder die Fähigkeit, immer mal wieder Kraft zu tanken. Auch ist es sinnvoll, kraftgebende Ressourcen und kraftraubende Aktivitäten und Strukturen im eigenen Leben zu identifizieren.
Wie können jedoch feste Arbeitsstrukturen, in denen sich ein ausgelasteter Arbeitnehmer bewegt, individueller ausgerichtet werden?
Sehr wichtig ist es daher auch, dass gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen über die individuelle Belastungssituation gesprochen wird. Auch eine (angeleitete) Befassung mit arbeitswissenschaftlichen Diagnosen aktueller Entwicklungen und Probleme der Arbeitswelt kann dabei helfen, die eigene Situation nicht als individuelles Schicksal oder sogar Schuld zu begreifen, sondern als ein mit andern geteiltes, kollektives Problem. Dies ist der erste Schritt in Richtung einer auch politischen, sicher unternehmerischen Einflussnahme auf aktuelle Arbeitsbedingungen.
Axel Haunschild spricht am Wissenschaftsdialog Academia Engelberg vom 12. bis 14. Oktober 2016, zum Thema „Im Grenzbereich – At the Limit“.