Genaue Reifegradmessung
Selbst das schönste Konzept ist bekanntlich noch kein fertiges Produkt. Bis zur Serienreife ist deshalb noch viel Entwicklungsarbeit nötig. Damit Fehler aber nicht erst bei der Endabnahme entdeckt werden, sollten Zielabweichungen schon frühzeitig identifiziert werden können. Zur objektiven Messung dieser Produktreife wurde eine neue Methode entwickelt.
Die enorm gestiegene Produktkomplexität und immer kürzere Time-to-Market-Strategien führen häufig zu neuen Problemen bei der Produktqualität. Diese verzögern nicht nur den Start der Produktion, sondern lassen auch die Zahl der Rückrufaktionen deutlich steigen. So sind zum Beispiel bezogen auf mechatronische Komponenten herkömmliche Erfahrungs
Entwicklungsstandabgleichen
werte nur bedingt übertragbar. Wie lässt sich etwa der Entwicklungsstand einer Baugruppe mit der Projektplanung abgleichen, wenn zum Planungszeitpunkt noch nicht bekannt ist, welche Funktionen in Hardware und welche in Software abgebildet werden?
Den Reifegrad bestimmen
Die Life Cycle Engineers GmbH in Mainz hat deshalb ein Berechnungsverfahren entwickelt, mit dem die Produktreife in jeder Entwicklungsphase systematisch und objektiv für jede Funktion bestimmt werden kann, sodass Korrekturmassnahmen schon wesentlich früher greifen können. «Ausgehend vom aktuellen Projektfortschritt bzw. Meilenstein beschreibt der Reifegrad eines Produktes die Abweichung vom definierten funktionalen Ziel in Abhängigkeit von der Auslegungssicherheit», erklärt Geschäftsführer Matthias Degen die Methode, «so ist etwa ein geschätztes Gewicht in der Konzeptphase noch zu tolerieren, für die Detailkonstruktion bildet es jedoch als Berechnungsgrundlage ein echtes Risiko und reduziert damit den hier möglichen Reifegrad.»
Das Unternehmen berät Industrieunternehmen mit dem Ziel, Produktentstehungsprozesse nachhaltig zu optimieren, um innovative, wettbewerbsfähige Produkte mit höherer Profitabilität realisieren zu können. Zu den Kunden zählen grosse und mittelständische Unternehmen aus den Branchen Maschinenbau, Anlagenbau, Medizintechnik, Automobil- und Elektronikindustrie sowie der Luftund Raumfahrt.
Messen und gestalten
«Grundsätzlich geht es bei der Reifegradmessung jedoch nicht um eine weitere Methode, sondern darum, vorhandene Entwicklungs
Entwicklung auf gemeinsamer Datenbasis
methoden auf einer gemeinsamen Basis zum Beispiel vom Projektmanagement und Lastenheft durchgängig zu gestalten», unterstreicht Matthias Degen. «Dies schafft die Möglichkeit, während der einzelnen Entwicklungsphasen auf die gemeinsame Datenbasis aus unterschiedlichen Sichten zu schauen.» Während Lastenheft und QFD die Eigenschaften des zu entwickelnden Produktes initial definieren, begleitet die Messung des Reifegrades die Produktentwicklung. Wurde etwa bei einem Scheinwerfersystem, dessen Lichtführung an den Strassenverlauf angepasst werden soll, die maximale Dämpfung nach einem Lenkradausschlag schon zu 80 oder erst zu 100 Prozent erreicht? Auch wenn eine erste Auslegungsberechnung diesen Zielerreichungsgrad theoretisch trifft, der reale Reifegrad ist natürlich auch von der Qualität der jeweiligen Bewertungsmethode (grobe Kalkulation, Simulation, Funktionsmuster, …) und ihrer spezifischen Verlässlichkeit abhängig. Die Auslegungssicherheit einer Simulation ist darum höher einzustufen als die einer noch kostengünstigeren groben Kalkulation. In jeder Phase der Entwicklung stellt sich jedoch die gleiche Frage: Wurde die an dieser Stelle mögliche Reife wirklich erreicht oder hinken wir unseren Fähigkeiten hinterher? So verliert natürlich eine noch so verlässliche Auslegungsmethode an Aussagekraft, wenn immer noch unsichere Eingangsgrössen verwendet werden. Diese Lücke zwischen dem möglichen und dem realisierten Reifegrad macht die Methodik folglich sichtbar. Wird dieser Rückstand dann nicht aufgearbeitet, steigen die Probleme weiter an und platzen möglicherweise dann beim Test des ersten Prototypen.
Reifegradmessung im Projektmanagement
Die Methode der Reifegradmessung beginnt deshalb mit der Bildung eines funktionalen Produktmodells, welches alle Anforderungen (zum Beispiel Drehmoment wandeln oder Massenstrom erzeugen) und deren Eigenschaften vollständig beschreibt. Die dazu nötigen Informationen liegen meist schon verteilt vor, etwa in einer QFD, in der FMEA, in einem Produktportfolio- System oder in Stücklisten. Zusätzliche Zielwerte befinden sich unter anderem im Requirement-Management, dem Lastenheft oder weiterer Spezifikation. Alle Anforderungen werden nun hierarchisch gegliedert, mit den jeweiligen messbaren Zielwerten quantifiziert und erst dann wird jede Funktion den physischen Komponenten des Produktes zugeordnet.
Für eine wirksame, präzise Entwicklungs- und Projektsteuerung ist ausserdem eine Gewichtung der Funktionen notwendig. Schliesslich sind nicht alle Anforderungen und Eigenschaften für den Markt gleich bedeutend. Diese Priorisierung hilft darüber hinaus, Zielkonflikte zu vermeiden. So können konkurrierende oder sogar gegenläufige Ziele mancher Funktionen sich gegenseitig beeinträchtigen. Durch die Untergliederung der Funktionen und ihrer Gewichtung lassen sich die Auswirkungen aller Projektentscheidungen und Massnahmen auf die weitere Entwicklung jedoch systematisch und zuverlässig beurteilen.
Die jeweiligen Absicherungsmethoden wie etwa die Konzept- oder die Simulationsberechnung werden anschliessend den einzelnen Meilensteinen zugeordnet. Die Reihenfolge entspricht dabei der inneren Logik des Entwicklungsprozesses und stellt sicher, dass zum richtigen Zeitpunkt sowohl Daten wie Experten, Messmethoden oder Dienstleister zur Verfü-
Präzise Absicherungsmethoden
gung stehen. Auch plant das Projektmanagement dazu alle notwendigen Engineering-Reviews.
In einem nächsten Schritt wird den einzelnen Absicherungsmethoden eine jeweils mögliche «Soll-Reife» bzw. «Mindest-Sicherheit» zugeordnet – für jeden Meilenstein und für jede Funktion. In diese Werte fliessen vor allem die Erfahrungen aus anderen Entwicklungsprozessen mit ein (Bild 1). Eine so entstandene Idealkurve der Reifegrade verläuft somit analog zur geforderten Auslegungssicherheit (Bild 2). Bei einer Neuentwicklung wird diese Kurve folglich mit niedrigeren Werten starten als etwa bei einer Variantenkonstruktion, wo logischerweise von Anfang an bekannte bzw. verlässlichere Eingangsgrössen vorliegen – somit kann sich die Idealkurve auch dem Innovationsgrad des neuen Produktes anpassen.
Die Methodik wird nun in das Projektmanagement komplett integriert. So können etwa bei den Engineering Reviews die aktuell erreichten Ergebnisse jeder Funktion systematisch mit den jeweils möglichen Zielwerten verglichen werden. Abweichungen, geänderte Funktionen oder notwendige Gewichtungen werden so transparent und können der aktuellen Situation angepasst werden. Dies ist besonders bei sogenannten «Moving Targets» von grossem Nutzen. Eine einmal erarbeitete Systematik lässt sich schliesslich auch auf weitere Produkttypen oder modifizierte Innovationsgrade übertragen.
Produktportfoliomanagement
Aus diesen Gründen ist die permanente und objektive Beurteilung des Reifegrades besonders für das Produktmanagement von grosser Bedeutung. «Machen wir die richtigen Dinge – richtig und zum richtigen Zeitpunkt?» Der Produktmanager bestimmt nicht nur, welche Produkte in das Produktportfolio aufgenommen werden, sondern er ist auch dafür verantwortlich, dass die gewünschten Eigenschaften
und Zielgrössen, wie sie im QFD oder im Lastenheft definiert worden sind, erreicht werden. Bei Abweichungen möchte er deshalb möglichst frühzeitig eingreifen können.
Deshalb war die beschriebene Methodik von Life Cycle Engineers schon mithilfe von Excel-Tabellen praxisgerecht umgesetzt worden. Dies ermöglichte bereits einen erfolgreichen Einsatz bei diversen
Die Innovationspipeline im Griff
Beratungsprojekten; jedoch stösst solch eine Softwarelösung früher oder später an ihre Grenzen. Wo gab es also ein System, das flexibel genug war, unterschiedlichste Charakteristika eines Produktes aus QFD, FMEA und Risikomanagement zu integrieren, das sich ausserdem an diverse Innovationsgrade anpassen konnte? Und wo gab es andererseits ein Unternehmen, das im Markt mit Projektund Produktportfoliomanagement erfolgreich tätig war?
Integriert in die Planisware Softwarelösung
Als Partner konnte schliesslich der französische Softwarehersteller Planisware gefunden werden, dessen Lösungen sowohl in der Automobilindustrie, in der Medizinund Militärtechnik sowie in der Pharmazie vertreten sind. So werden beim Produktportfoliomanagement in Planisware die Produkte eines Unternehmens sowohl in ihrer Summe wie auch einzeln betrachtet, mit ihren Funktionen, Charakteristika und Zielwerten beschrieben und verwaltet. Durch die vielfältigen Herausforderungen und Erfahrungen aus der Grossindustrie ist das System darauf ausgelegt, den Entstehungsprozess der Produkte in der Innovationspipeline über den gesamten Produktlebenszyklus zu unterstützen. Dadurch besitzt es Möglichkeiten, die weit über das klassische Projektmanagement hinausgehen.
Aus Sicht des Herstellers Planisware wiederum ist die Reifegradmessung für ihre aktuelle Produktstrategie von grosser Bedeutung. «Die grösste Bedeutung für die Reifegradmessung sehe ich vor allem in den Zielsegmenten Automobilindustrie – bei OEMs und Zulieferern – und in der Luft- und Raumfahrtbranche », bestätigt Pierre Demonsant, Planisware CEO, «denn diese anspruchsvolle Thematik wird in diesen Branchen in Zukunft von ganz besonderer Wichtigkeit sein.» Auch für Systemanbieter werde sie als Brückenthema an Bedeutung gewinnen, «…so werden bestimmte CAD-Daten einen wichtigen Input für die Reifegradbetrachtungen in Planisware darstellen und deshalb wird auch die Integration zwischen PM-Werkzeug, CAD- und ERP-Systemen für diese Anbieter zu einer Herausforderung werden», ergänzt Gilles Chêne, Geschäftsführer der Planisware Deutschland GmbH.
Entdeckung von strukturellen Problemen
Mit der Integration der Reifegradmessung in das Planisware-Produktportfoliomanagement kann nun der Projektfortschritt anhand inhaltlicher Kriterien bewertet werden. «Für den Produktmanager ist dieses neu geschaffene und äusserst wirksame Controlling-Werkzeug eine wichtige funktionale Ergänzung der bisherigen Planisware- Lösung – und dies in dreifacher Hinsicht: einmal bei der Umsetzung seiner Entwicklungsziele, des Weiteren zur Weiterentwicklung des Produktportfolios und schliesslich zur Konzeption neuer Produkte », beschreibt Gilles Chêne die Vorteile des Tools.
Denn mithilfe dieses neuen Funktionsbausteins können Projektmanager innerhalb ihrer Planisware- Umgebung die Produktreife zu jedem Zeitpunkt im Projekt bestimmen und die vom jeweiligen Reifegrad abgeleiteten Massnahmen direkt im aktualisierten Projektplan berücksichtigen. Darüber hinaus stellt das integrierte Berichtswesen detaillierte Statusberichte und
Produktreife im Projekt bestimmen
Analysen zur Produktreife, der funktionalen Zielerreichung und der Prognosesicherheit zur Verfügung.
So ist es nun möglich, nicht nur augenblickliche bzw. als singulär betrachtete Entwicklungsrückstände zu identifizieren, sondern auch sich wiederholende Entwicklungsprobleme zu entdecken und in den Griff zu bekommen. Wenn etwa bei einem bestimmten Meilenstein die Lücke zwischen Soll- und Ist-Reifegrad häufig einen ähnlichen Abstand aufweist, ist anzunehmen, dass hier ein strukturelles Problem vorliegt.
Wenn bei einer Simulation oder einem Prototypentest die Messergebnisse immer wieder als relativ unsicher eingestuft werden müssen, stellt sich die Frage, ob denn hier die nötigen Voraussetzungen wirklich vorhanden sind? Stehen etwa geeignete Messeinrichtungen oder Fachleute nicht zur Verfügung. Oder wenn beim Start einer Änderungsentwicklung viel zu niedrige Reifegrade erzielt werden: Warum können die Erfahrungen aus Vorprojekten nur unzureichend genutzt werden? Kann auf die vorhandenen Unterlagen, Daten oder Modelle etwas nicht zugegriffen werden oder ist das Entwicklungsteam nicht optimal zusammengesetzt? Die konsequente Beantwortung solcher Fragen wird helfen, die Entwicklung gezielt zu optimieren. «Somit bietet die Integration der Reifegradmessung in Planisware Industriekunden die Chance, ihre Entwicklungsrisiken deutlich zu reduzieren, die Produktentwicklung transparenter zu steuern und neue Produkte mit der geforderten Qualität im Markt erfolgreich zu platzieren», fasst Matthias Degen die neuen Möglichkeiten noch einmal zusammen.