Führungskulturen: Adieu Chef – bonjour Leader
Am 10. Januar 2020 lud das Kurszentrum Aarau zum 3. Feierabendgespräch zum Thema «Neue Organisationsformen und Führungskulturen» ein und stellte die Frage: «Bessere, zukunftstaugliche Arbeitswelt oder nur Hype?». Die Gespräche gaben einmal mehr Einblick in Erfahrungen mit neuen Organisationsformen und Führungsmodellen.
Das 3. Feierabendgespräch zum Thema «Neue Organisationsformen und Führungskulturen» stiess auf grosses Echo. Das Thema brennt unter den Nägeln – der grosse Saal im Kurszentrum Aarau war bis auf den letzten Platz gefüllt. Wie sollen Firmen auf eine sich schnell ändernde Umwelt reagieren? Wie organisiert sich ein Unternehmen optimal, um mit dem Wandel Schritt zu halten und im Wettbewerb mit anderen zu überleben?
Neue Organisationsform bedeutet auch, dass die Chefs ihre Führungsaufgabe und die Mitarbeiter ihre Rolle überdenken müssen, damit neue Formen des Zusammenarbeitens lebendig werden. «Agile Organisation» – so lautet die zurzeit meistgehörte Antwort. Will heissen: Maximale Selbstorganisation und Selbstverantwortung, statt auf Anweisung zu handeln. Weg von strenger Hierarchie und Silodenken, hin zu unternehmerischem Entscheiden und Handeln auf allen Ebenen.
Anne Bickel von der Entwicklungsorganisation Swisscontact betreut und durchläuft diesen Prozess seit gut einem Jahr in ihrer Institution. Sie weiss, wie herausfordernd ein solcher Wandel ist, stellt er doch insbesondere die Führungsleute vor eine neue Situation, die rasch mit dem Gefühl einhergeht, dass bisherige Routinemuster in einer agilen Organisation nicht mehr funktionieren. Aber auch unterstellte Mitarbeitende fühlen sich oft verunsichert, wenn sie neuerdings selbständig entscheiden sollen:
«Darf ich das veranlassen, ohne einen Vorgesetzten zu fragen?» Dazu braucht es Mut und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Solche Veränderungsprozesse sind nicht von heute auf morgen umzusetzen, zeigte Anne Bickel eindrücklich in ihrem Erfahrungsbericht. Nur mit einer grossen Offenheit aller Beteiligten für diese Neuorganisation kann der Wandel gelingen. Die Erwartungen, wie diese Aufgaben zu erfüllen sind, nehmen in vielen Gesprächen einen wichtigen Platz ein. Bei Swisscontact hat man dafür extra die Funktion von Rollen-Coaches in jeder Organisationseinheit geschaffen.
Hartmut Kretschmer betreut als Coach Firmen bei solchen Transformationen – und sieht dabei seine eigene Berufsgruppe durchaus auch selbstkritisch. Viele Coaches können die neuen Organisationsformen in der Theorie höchst verlockend präsentieren. Viel anspruchsvoller ist jedoch in der Praxis die Begleitung der Mitarbeitenden. Neben Rollen-Verantwortlichkeiten müssen vor allem auch Fragen zum Teamverständnis und zur Kommunikation geklärt werden. Speziell wichtig ist es, dem Identitäts- und Sicherheitsbedürfnis der Mitarbeitenden zu begegnen.
Muss nun jedes Unternehmen seine Organisation auf «agil» trimmen? – Bickel erkennt in der rollenbasierten Zusammenarbeit eine grosse Wertsteigerung – sowohl was die Effizienz wie auch die Personalführung anbelangt. Kretschmer ist zudem überzeugt, dass Firmen links überholt werden, die die Grundsätze der neuen Führungsformen nicht integrieren. Dennoch sehen beide auch Limitationen: Eine rollenbasierte Organisationsstruktur mit wenig bis keiner Hierarchie lässt sich nicht überall gleich gut umsetzen. Und nicht über jede Grösse von Unternehmung stülpen. Empfehlenswert scheint, agile Formen in kleineren Unternehmen gesamthaft zu realisieren und bei Grossfirmen in spezifischen Organisationsbereichen.
Und: Eine agile Strategie ist kein basisdemokratischer Ansatz. Letztendlich haften nach wie vor Geschäftsleitung und Verwaltungsrat.