Fatigue Risk Management bei der Rettungsflugwacht

Fluggesellschaften wären unvorsichtig, wenn sie sich nicht um Risikoregulierungen und damit auch um die Auswirkungen langer, ermüdender Creweinsätze sorgten. Ein internationaler Guide über «Fatigue Risk Management Systems» reguliert mitunter Piloteneinsätze. Viel Erfahrung in der Implementierung von Instrumenten zum Schutz der Mitarbeiter hat bereits die Schweizerische Rettungsflugwacht Rega.

Fatigue Risk Management bei der Rettungsflugwacht

 

 

Der unterschiedliche Umgang mit «Müdigkeit» wird besonders in der Fliegerei offenkundig. Die International Civil Aviation Organisation (ICAO) hat diesbezüglich in Zusammenarbeit mit der Air Transport Association (IATA) und der Pilotenvereinigung IFALPA neuere Erkenntnisse zusammengetragen und 2011 in einem Leitfaden zur Implementierung von Fatigue Risk Management Systems (FRMS) publiziert. Allerdings, eine identische oder pauschale Implementierung von FRMS ist schwierig. Schliesslich tun es sich Aufsichtsbehörden wie das Bundesamt für Zivilluftfahrt BAZL nicht leicht, zu allgemeine Checklisten für operative Risiken im Luftfahrtwesen zu kontrollieren. Gleichwohl sollte ein FRMS weniger komplex, mitunter situationsabhängig und zu jederzeit überprüfbar sein.

 

Die Rega hat das Fatigue Risk Management bereits vor der ICAOPublikation untersucht. Auf wissenschaftlicher Basis und mit externen Fachexperten wurde erforscht, ob und wie sich beispielsweise kumulative Schlafdefizite ihrer Piloten zusammensetzen und auswirken. Auf der Basis dieser Analysen sind Risikoreduktionsstrategien entwickelt worden.

Umsichtiger Arbeitgeber

 

«Die Rega tut beim Fatigue Risk Management im Rahmen der Flugund Ruhezeiten mehr als gesetzlich vorgeschrieben wird», meint Stefan Becker, Leiter Unternehmensentwicklung. Risk Management bedeutet für ihn, die Mitarbeiter nicht einfach durch stringente Fragebögen zu kontrollieren, sondern ihnen guten, genügenden Schlaf zu ermöglichen, weiter deren Eigenverantwortung

 

Erneut und tagtäglich schicken sich Heliwie auch Jet-Crews an, die Sicherheitskultur der Rega zu leben und zu pflegen.

 

verantwortung zu fördern. Stefan Becker: «Bei uns nimmt die ‹Just Culture› eine entscheidende Rolle ein.» «Je übermüdeter man jedoch ist, desto schwerer wird es, die eigene Leistungsfähigkeit selbst richtig einzuschätzen. Bei unserer Rettungstätigkeit ist jedoch immer höchste Aufmerksamkeit erforderlich. Dass wir FRMS eine hohe Bedeutung zusprechen, kommt jedem unserer Patienten zugute», meint Becker. Experten bekennen jedoch, dass FRMS oft einem Unternehmensrealismus weichen müssen, bei dem allgemeine Betriebskosten und die Produktivität den Vorrang vor nicht stringent kalkulierbaren Sicherheitsposten einnehmen.

 

Stefan Becker: «Solche kurzsichtigen Betrachtungen sind für die Rega unangemessen. Für die Sicherheit unserer Crews, Patienten und Dritten gehen wir jeweils einen Schritt weiter, als dies der Gesetzgeber vorsieht.» Tatsächlich betreiben nur wenige Schweizer Betriebe Fatigue Risk Managament Systems. Die Rega schreibt daher nicht nur in Bezug auf die Rettungsfliegerei Pioniergeschichte. Die private, gemeinnützige Stiftung zeigt sich über FRMS als umsichtiger und innovativer Arbeitgeber.

Sicherheit auf jeder Ebene

 

Bei der Rega ist Fatigue Risk Management integraler Bestandteil des Crew Resource Management. In regelmässigen Abständen reflektieren die Crewmitglieder gemeinsam ihre Einsätze und geben einander dabei im Rahmen der Rega-«Just Culture» persönliches und sachliches Feedback. Dieses Verfahren wird von den Mitarbeitern sehr geschätzt.

 

Der leitende Helikopter-Fluglehrer (Postholder Crew Training) der Rega, Thomas Gnägi, erklärt im Rega- Center in Kloten: «Erst nach der Analyse möglicher Mitigationsverfahren erfolgt der eigentliche Flugeinsatz. » – Bevor ein Rettungshelikopter oder ein Ambulanzjet in die Lüfte steigt, habe der verantwortliche Pilot zunächst fünf wichtige Punkte zu berücksichtigen:

 

1. Relevante Daten einholen

2. Fluggerät und sonstige Hardware kontrollieren

3. Operation durch Flugverantwortliche definieren

4. Mögliche Ausnahmen/Zwischenfälle identifizieren

5. Safety-Risiken aller Beteiligten kennen

 

Mittels diesen prozess-relevanten Abklärungen entscheide der Pilot, ob er beispielsweise einen schwierig zu erreichenden Ort anfliege und Risiken für Crewmitglieder und Patienten durch gesamteinheitliche Massnahmen weiter reduziert werden können, so Gnägi weiter.

 

6. Eigentliche Performance ausüben

 

Solche Planungseinheiten und Verfahren klingen einfacher, als sie tatsächlich sind – insbesondere bei den nicht planbaren Rettungsflügen. Gesetzliche und operative Parameter können deshalb nur soweit greifen, wie Belegschaften funktionieren oder, wie Stefan Becker unterstreicht «wie Crewmitglieder miteinander umgehen».

 

«Stress macht man sich»

 

Hierbei referiert der Leiter Unternehmensentwicklung auf eine nicht unbedeutende Klausel im Rega-Arbeitsvertrag für Flugbesatzungen: «Alle unsere Flugangestellten haben das Recht, Einsatzaufträge, welche die Sicherheit beeinträchtigen, abzulehnen.» Seien es Primär- oder Sekundäreinsätze, die Rega ist bestrebt, ihr Flugpersonal nie überzustrapazieren und Übermüdungen konsequent und effizient vorzubeugen. Ein respektvoller Umgang in allen Situationen gehört zur «Just Culture» der Rega.

 

Sollte sich also ein Besatzungsmitglied «irgendwie unwohl oder müde fühlen», sei es unablässig, selbständig die anderen Crewmitglieder darüber zu informieren, um gemeinsam geeignete und sichere Vorgehensweisen abzustimmen. «Geht es um Leib und Leben», meint der leitende Fluglehrer Gnägi, «appellieren wir an jeden Mitarbeitenden, primär an die Sicherheit zu denken und unser Credo ‹Patient first – Safety always› einzuhalten.»

 

Obgleich bei der Rega drei Spezialisten in einem Helikopter wirken, sei eine Crew nur so gut wie das singuläre Besatzungsglied. Thomas Gnägi, selber auch Einsatzpilot auf beiden Rettungshelikoptertypen der Rega (siehe Infoboxen), verweist denn auch auf das vielleicht bedeutendste Element der «Just Culture» bei der Rega: «Wenn sich ein Crewmitglied einem Einsatz, vielleicht auch wegen eines Schlafdefizits, nicht gewachsen fühlt oder Sicherheitsbedenken hat, wird ohne langes Hin und Her der Einsatz nicht angenommen oder zugunsten der Si-

 

Ein respektvoller Umgang in allen Situationen gehört zur «Just Culture» der Rega.

 

cherheit abgebrochen.» Die Koordination der Einsatzcrews stützt sich bei der Rega in der Weise auf die Ressourcen und Kräfte, dass eine Crew nicht nur schnell zum Einsatzort gelangt, sondern darüber hinaus auch in der Lage sein muss, mehrere Einsätze hintereinander oder eine ungeplante Einsatzverlängerung auszuführen. Fatigue Risk Management stellt daher eines der wichtigsten Werkzeuge im Einsatz von Rettungskräften dar.

 

Die Rega tut ihr Möglichstes, um mit Fatigue Risk Management jeden vermeidbaren Stress für Crewmitglieder einzudämmen. «Bei Alarm soll niemand zum Heli hetzen. Unnötige Adrenalinschübe können nämlich zu Fehlleistungen führen. Die fünf Sekunden, die es braucht, um die Gesamtübersicht zu gewinnen und ruhig und gelassen in den Helikopter zu steigen, lohnen sich im Sinne einer sicheren Operation», verweist Unternehmensentwickler Stefan Becker auf ein Vorgehen, welches viele Berufskollegen teilen. Der erfahrene Pilot Thomas Gnägi teilt diesen Aspekt, er fügt in einem ausgeglichenen Ton bei: «Stress macht man sich.»

 

Routine vor Übermotivation

 

In längeren Trainingseinheiten üben Rega-Piloten das Handling schwieriger Situationen. «Wir trainieren zum Beispiel das Arbeiten unter steigendem Sauerstoffmangel. Damit simulieren wir die Müdigkeit », führt Gnägi weiter aus. Hierdurch, sicher auch durch obligatorische Ruhepausen optimiert die Rega die Konstitution ihrer Belegschaft. Stefan Becker weiter: «Aufmerksamkeitsverluste werden insbesondere durch lange Dienstzeiten sowie durch kumulative Schlafdefizite hervorgerufen. Niemand kann nächtelang durcharbeiten und klaren Verstandes ein Flugzeug oder einen Helikopter pilotieren. »

 

Eine transatlantische Flugstudie der NASA belege mitunter den Aspekt, dass nur schon ein 30-minütiger Kurzschlaf die Leistung der Langstreckenpiloten um 24 Prozent verbessert. «Kontrollierter Kurzschlaf an Bord, genauso wie regelmässige Pausen fördern die Leistungsfähigkeit und die Konzentration. »

 

Becker beobachtet gleichwohl, dass jedes Crewmitglied die vorgegebenen Ruhepausen unterschiedlich zur Erholung nutzt: «Der eine er- holt sich bei einem Spaziergang, der andere reagiert sich aktiv an einer Kletterwand ab. Nur über die Nacht ruhen die Helikoptercrews auf vorgeschriebene Art und Weise in den Rega-Basen, um für kommende Einsätze fit zu sein.»

 

Die Rega orientiere sich jedenfalls nicht an starren Richtlinien oder Regulierungen. Sie stützt sich lieber auf Routine und Teamspirit in ihrer Sicherheitskultur: «Jeden Morgen halten wir jedoch ein Briefing ab – unabhängig davon, ob dieselben Leute bereits kurz vorher miteinander auf Rettungsflügen waren oder eben nicht», unterstreicht Thomas Gnägi, Postholder Crew Training. – Sich über das Befinden eines Crewmitglieds erkundigen, letztendlich konstruktive Kultur ausleben, sei in seinem Berufsumfeld «lebenswichtig».

 

www.rega.ch

 

Mehr über den «Implementation Guide» über Fatigue Risk Management Systems unter www.iata.org/publications

 

 

 

(Visited 545 times, 1 visits today)

Weitere Artikel zum Thema