Digitaler Zwilling ermöglicht neue Nutzenpotenziale

Digitalisierung und Industrie 4.0 sind heute allgegenwärtig und dankbare Argumen-tationsgrundlage für Entscheidungen und Investitionen. Technologiesprünge gab es auch in der Vergangenheit, aber noch nie war das Momentum so gross, noch nie haben Technologieaspekte so breiten Einzug gehalten und unser tägliches Leben so spürbar verändert wie beispielsweise moderne Smartphone-Apps.

Digitaler Zwilling ermöglicht neue  Nutzenpotenziale

 

Seit mehr als einem Jahrzehnt haben umfas-sende «Product Lifecycle Management (PLM)»-Konzepte Einzug gehalten, die auf ei-ner integrativen Plattform basieren und Me-thoden und Prozesse für strategische Unter-nehmensprozesse unterstützen. Als Erweite-rung zu den früher stark von Engineering und Mechanik geprägten Ansätzen bietet PLM ei-ne disziplinübergreifende Integrationsplatt-form für Mechanik, Elektrik/Elektronik, Soft-ware und Dokumentation sowie Digital Ma-nufacturing-Lösungen zum Zusammenfüh-ren von Entwicklung und Produktion.

Digitaler Zwilling – was ist das?
Der digitale Zwilling geht noch einen Schritt weiter, er soll als komplettes digitales Abbild nicht nur sämtliche Informationsaspekte be-inhalten, sondern auch das mechatronische Verhalten im Zusammenspiel mit anderen Objekten.

 

Damit können Aspekte einer realen Produktionsanlage überprüft werden, ohne die laufende Produktion zu tangieren. Bei-spielsweise kann bei Problemen mit einer Maschine in der realen Produktionsanlage das Zusammenspiel von Mechatronik-Kom- ponenten (Beladetür, Sensoren, Aktoren, I/O-Signale, SPS-Programm etc.) rein virtuell am digitalen Zwilling analysiert werden.

Domänen des digitalen Zwillings
In Anlehnung an die drei grundlegenden Lifecycle-Phasen Entwicklung, Herstellung und Betrieb bzw. Service kann der digitale Zwilling in drei unterschiedliche Domänen gegliedert werden (Produkt-, Produktions-und Service-Zwilling).

 

Der Produkt-Zwilling ist das digitale Ab-bild eines Produkts, was zu Beginn einer Ent-wicklung entsteht und schrittweise ausge-prägt wird, bevor das reale Produkt zu existie-ren beginnt. Die Produktrepräsentation bein- haltet die Produktstruktur sowie weitere defi-nierende Inhalte wie Geometrie in M-CAD, Elektro-Schema in E-CAD, Software etc.

 

Der Produktions-Zwilling ist das digitale Abbild einer Fabrik und der benötigten Ferti-gungs-, Montage- und Prüfprozesse. Die Fab-rik kann in mehrere Linien untergliedert sein und Fertigungseinrichtungen, Produktions-maschinen und Handhabungsgeräte beinhal-ten. Montage- und Prüfprozesse werden auf eine Prozessstruktur abgebildet, die Teile oder Baugruppen über mehrere Montagestu-fen konsumiert, bis das Produkt komplett as-sembliert ist.

 

Der Service-Zwilling ist das digitale Ab-bild von Service-Zusammenhängen (Ver-schleiss- und Ersatzteile, Servicepläne) sowie von Betriebszuständen eines physischen, rea-len Objekts. Mit der Erfassung von Betriebsda-ten (Temperatur, Verschleissindikatoren etc.) kann der aktuelle Zustand standortunabhän-gig gesammelt werden in einer Cloud, um je nach tatsächlicher Nutzungscharakteristik nö-tige Servicearbeiten spezifisch vorzugeben.

Nutzung zur virtuellen Inbetriebnahme
Mit einem digitalen Zwilling können bei der Entwicklung mechatronischer Produkte in-terdisziplinäre Methoden eingesetzt werden, um zu Beginn ein mechatronisches Konzept zu erstellen, das als Basis für die einzelnen In-genieursdisziplinen dient, damit die Teams hochgradig parallel und effizient arbeiten können. Darüber hinaus lässt sich auch der Prozess zur Inbetriebnahme verbessern. In der Vergangenheit sind die einzelnen Kompo-nenten erst vor Ort zusammengekommen und die Inbetriebnahme war ein langwieriger, risikobehafteter und aufwendiger Prozess, da Probleme erst spät erkannt werden. Basis für eine reale Inbetriebnahme ist die reale Maschi- ne, welche erst nach der Entwicklungsphase verfügbar wird.

 

Demgegenüber steht der digitale Zwil- ling bereits frühzeitig zur Verfügung und kann schon während der Entwicklungsphase zur virtuellen Inbetriebnahme genutzt werden, be- vor das erste reale Teil gefertigt wird. Der digi- tale Zwilling emuliert dabei Mechanik, Akto- rik und Sensorik der späteren realen Anlage und bietet eine realitätsnahe 3D-Darstellung. Für die Automatisationsentwicklung ergeben sich neue Möglichkeiten, da der Steuerungs- code frühzeitig gegen den digitalen Zwilling getestet und optimiert werden kann, wobei grundsätzlich zwei Möglichkeiten bestehen:

 

  • Hardware in the loop (HiL),
  • Software in the loop (SiL).

 

Im Fall von Hardware in the loop (HiL) in- teragiert der digitale Zwilling mit einer rea- len Steuerung, d.h. die Steuerungs-Hardware ist über eine Verkabelung mit einem PC ver- bunden. Eine solche intelligente Verbindung der virtuellen mit der realen Welt wird als Cyber-physikalisches System (CPS) bezeich- net. Auf der Steuerung wird der aktuelle Stand des SPS-Codes ausgeführt in Wechsel- wirkung mit dem Simulationsmodell im digi- talen Zwilling. Zwischen beiden Systemen erfolgt ein Signalaustausch und über die 3D- Visualisierung wird der Programmablauf rea- litätsnah dargestellt.

 

Im Falle von Software in the loop (SiL) interagiert der digitale Zwilling mit einer virtuellen Steuerung, die gesamte Funktionalität befindet sich auf einem PC. Dies kann in einer frühen Phase vorteilhaft sein, wenn die reale Steuerung noch nicht verfügbar ist.

 

Mit der virtuellen Inbetriebnahme lassen sich nicht nur Effizienzsteigerungen und kürzere Entwicklungszeiten erreichen, sondern auch ein deutlich höherer Entwicklungsstand der Software beim Eintritt in die reale Inbetriebnahme vor Ort auf der Baustelle. Dadurch kann die reale Inbetriebnahme in kürzerer Zeit, kostengünstiger und mit geringerem Risiko durchgeführt werden.

 

Eine weitere wichtige Anwendung für die virtuelle Inbetriebnahme sind Umbausze- narien im laufenden Betrieb, wofür in der Regel nur eine kurze Zeitspanne zur Verfügung steht, um die Hardware umzubauen und die neue Anlage mit der neuen Steuerung in Be- trieb zu nehmen. Da die zulässigen Stillstand- zeiten zwingend eingehalten werden müssen, sind hierfür Simulationsmethoden unabding- bar. Darüber hinaus lässt sich der digitale Zwilling ideal für Trainingszwecke nutzen, um Bedienpersonal am realen Steuerungssys- tem rein virtuell über HiL zu schulen.

Relevanz von Industrie 4.0
Viele Konsumenten nutzen mittlerweile das Internet, um online einzukaufen. Sales Konfiguratoren werden immer flexibler bis hin zu kundenindividuellen Produkten, woraus Mass-Customization-Anforderungen für Fabriken resultieren, um auch bisher noch nie ausgeprägte Varianten möglichst automatisiert und kostenoptimal herzustellen. Für den Hersteller folgt daraus ein Zwang, die internen Prozesse zu optimieren, immer weiter zu automatisieren und neue Möglichkeiten durch die Digitalisierung schneller aufzugreifen als die Mitbewerber. Wo ist dieser Handlungsbedarf nun am grössten?

 

Entscheidend für Bedarf und Potenzial bzgl. Industrie 4.0 sind weder die Branche noch die Produktkomplexität, sondern die Charakteristik der Unternehmensprozesse, d.h. wie das Produkt am Markt verkauft wird (als Standardprodukt oder mit Variabilität). Effiziente Industrie-4.0-Prozesse braucht es primär bei hoher Produktvarianz und zumindest mittleren Stückzahlen, was am ehesten für einen «Configure To Order»-Prozess zutrifft.

Motivation und Handlungsbedarf
Auch in der Vergangenheit gab es Technologietrends mit vielversprechenden Vorzügen. Motivation und Notwendigkeit für die Digitalisierung mit Industrie 4.0 gehen jedoch darüber hinaus, weil sich das Geschäftsumfeld dramatisch verändert. Disruptive Innovationen führen immer schneller zum Verfall von Geschäftsmodellen, mit denen namhafte Unternehmen bisher langfristig erfolgreich waren. Seit dem Jahr 2000 sind gut die Hälfte der Fortune-500-Unternehmen verschwunden, Hauptauslöser dafür war die Digitalisierung. Bis zum Jahr 2020 sollen rund 50 Milliarden Geräte im Internet sein und ein Umsatzwachstum über 250 Milliarden Dollar bewirken. Dies hat viele CEOs wachgerüttelt und dazu geführt, dass Industrie 4.0 auf ihrer CEO-Agenda angekommen ist.

 

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