Die Lernfabrik
Wie kann Lean Management nachhaltig vermittelt werden? Im Rahmen eines Kooperationsprojektes haben ein deutsches Pharmaunternehmen, die TU Berlin und das Fraunhofer IPK eine Lernfabrik aufgebaut, mit der dies erreicht werden kann.
Unter den Top-15-Pharmaunternehmen in Europa, verglichen nach Umsatz, belegen deutsche Unternehmen eine Spitzenposition. Bundesweit gehört die Pharmabranche mit knapp 900 Unternehmen und 110 000 Mitarbeitern zu den ältesten und bedeutendsten Branchen [1]. Das ehemals stabile Umfeld dieser hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. So führt z.B. der Ablauf der Patentrechte wichtiger Medikamente bei den Pharmaunternehmen zu Umsatz- und Gewinnrückgängen [2]. Im Gegenzug werden immer höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung nötig, um die Zahl der Wirkstoffzulassungen konstant zu halten. Um den Trends entgegenzuwirken, haben Pharmaunternehmen damit begonnen, interne strukturelle Veränderungen, die Reduktion von Komplexität sowie Kostensenkungen zu fokussieren [3]. In diesem Zusammenhang hat sich branchenübergreifend das Konzept des Lean Management durchgesetzt. Das Konzept «Lean» zielt auf die Verschlankung von Produktionsprozessen durch die Reduzierung von Verschwendung ab [4]. Die Gestaltung solcher schlanken Prozesse erfordert Mitarbeiter, die für die Wahrnehmung von Problemen im eigenen Arbeitsumfeld sowie für die kontinuierliche Verbesserung von Prozessen qualifiziert sind, jedoch sind diese kaum vorhanden. Durch den Aufbau und Betrieb einer Lernfabrik kann dieser Qualifizierungsbedarf nachhaltig gesichert werden. Innerhalb einer Lernfabrik wird theoretisch erlerntes Wissen im Rahmen einer realitätsnahen, partizipativen und erlebnisorientierten Simulation angewendet und führt so zur Entwicklung von Kompetenzen.
Fachliche Qualifizierung
Die spezifischen Methoden und Vorgehensweisen des Lean Management sind nicht nur einer Fachdisziplin zuzuordnen. Daher bedarf es bei dem Aufbau und dem Betrieb einer Lernfabrik mehrerer Fachdisziplinen. So ist zum Beispiel in der Pharmabranche die Prozesssicherheit die Grundlage für das Vertrauen der Kunden in das Produkt und damit die Qualität nicht verhandelbar. Eines der wesentlichen Verfahren zur Sicherung der Qualität ist beispielweise die Standardisierung, das der Fachdisziplin des Qualitätsmanagements zuzuordnen ist. Durch den hohen Automatisierungsgrad in der Prozessindustrie sind neben der Qualität die Ausbringung und Auslastung der Anlagen kostenbestimmend. Die Auslastung der Anlagen hängt von der technischen Verfügbarkeit und damit von der Problemlösefähigkeit der Instandhalter und der Linienmitarbeiter ab. Diese Aufgabe und die Erstellung und kontinuierliche Verfolgung der Schlüsselkennzahlen (KPI) im Produktionsbereich fällt in die Fachdisziplin Produktionsmanagement. Letztlich zählt beim Kunden neben der geforderten Qualität auch eine mengen- und termingerechte Lieferung. Damit ist die dritte Fachdisziplin, die Logistik gefragt, die diesbezüglichen Anforderungen und Methoden in der Lernfabrik zu vermitteln. Die Pharmaindustrie hat das Ziel, an der Schnittstelle von Produktion und Logistik dem Flussprinzip zu folgen und Lerninhalte der Layoutgestaltung sowie zukünftig der «ziehenden» Steuerung von Chargen mit Just-In-Time (JIT) und Mechanismen Just-in-Sequenz (JIS) und dem zwischenbetrieblichen Supply Chain Management zu berücksichtigen [5].
Während in der fachlichen Qualifizierung aufeinander aufbauende Lehrmodule, wie z.B. Problemlösungsprozess, 5S und Standards in einer Lernfabrik, einfach darge-stellt werden können, stellt das Leistungsmanagement mit seinem gesamtbetrieblichen Verständnis von Ursachen und kostenbezogenen Wirkungen eine übergreifende Herausforderung dar. Die damit verbundenen Teamdialoge anhand fallbezogener Informationstafeln (Performance Boards) zielen auf eine Verhaltensänderung ab. Mentale Veränderungen zur Einstellung gegenüber dem Unternehmen sowie der Identifizierung mit den Zielen und Rollenerwartungen sollen in allen Schulungsphasen angestossen werden.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass ein leistungsfähiges Pharmaunternehmen sich durch angemessene und nachhaltige Kundenbefriedigung (Logistik), marktgerechte Preise (Produktionsmanagement und Prozesssicherheit), vorhersehbar hohe Produktqualität (Qualität) und Innovationskraft [6] auszeichnet. Damit sind die angesprochenen Fachdisziplinen und die soziotechnische Dimension mit der Anleitung zum Mentalitätswandel gefordert, interdisziplinär das Schulungskonzept der Lernfabrik zu gestalten (Abbildung 1). Gemeinsam mit einem Praxispartner der Prozessindustrie haben die TU Berlin, vertreten durch die Fachgebiete Logistik, Qualitätswissenschaft sowie Montagetechnik und Fabrikbetrieb, sowie das Fraunhofer IPK ein Konzept zusammen erarbeitet und zur Umsetzung gebracht. Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedenen Projektpartner wurde so ein ganzheitliches Konzept erarbeitet, welches unterschiedliche Ansätze, Denkweisen und Methoden verschiedener Fachdisziplinen berücksichtigt.
Die Lernfabrik
Bisherige Lernfabriken fokussieren Simulationen und Planspiele der Automobil- und Maschinenbaubranche [7] und sind daher für die Pharmabranche nur bedingt geeignet, da sich die Produktionscharakteristika wesentlich voneinander unterscheiden. Das von den Projektpartnern entwickelte Konzept einer Lernfabrik beinhaltet pharmaspezifische Simulationen und Planspiele, die differenziert nach unterschiedlichen Zielgruppen ausgestaltet worden sind. Neben der Methodenvermittlung sollen die Mitarbeiter für «Lean» sensibilisiert werden, um so einen Mentalitätswechsel herbeizuführen, der mit den übergeordneten Unternehmenszielen, wie z.B. Kundennähe und Wirtschaftlichkeit, übereinstimmt.
Um die Vorteile der Lernfabrik als Lernumgebung bestmöglich für die Trainings zu nutzen, basiert das Konzept der Trainings grundlegend auf dem Wechsel zwischen Beobachtung, Theorie und Praxis. Für jedes der sieben Lehrmodule (Abbildung 2) erfolgt eine Beobachtung von alltäglichen, verbesserungswürdigen Prozessen oder Situationen in der Lernfabrik, die durch Statisten dargestellt werden. Anschliessend erfolgt die Vermittlung der entsprechenden theoretischen Grundlagen, die als Basis zur Optimierung der in der Lernfabrik beobachteten Situation dienen. Daraufhin findet die direkte praktische Anwendung der erlernten Inhalte im produktionsnahen Umfeld der Lernfabrik statt, um durch aktive Beteiligung und Selbsterkenntnis der Teilnehmer das erworbene Wissen zu festigen. Dementsprechend wurde ein Schulungsablauf entwickelt, der dem Konzept Beobachtung, Theorie und Praxis Rechnung trägt. Die Ausarbeitung der Schulungsunterlagen erfolgte durch die jeweiligen Projektpartner entsprechend ihrer Expertise. Bei der Konzeption der Praxisübungen wurden Szenarien erarbeitet, an denen die Lerninhalte praxisbezogen dargestellt werden können. In die Erstellung der Szenarien flossen die Praxiserfahrungen der Mitarbeiter ein, um die Unternehmensspezifität und den Bezug zum realen Arbeitsplatz zu unterstreichen.
Realistische Produktionsszenerie
Die entwickelte Lernfabrik bildet realitätsnah eine vollständige Tablettenproduktion (Solida-Produktion) ab, in der Statisten als Werker agieren und streng nach Good-Manufacturing- Practice-Regeln arbeiten. Dadurch wird es den Teilnehmern ermöglicht, ihr eigenes Handeln aus einer externen Sicht zu reflektieren. Darüber hinaus wird der immanente Veränderungswunsch der Teilnehmer angeregt. Diese gesamte Tablettenproduktion wurde auf ca. 400 m² realisiert. Hierfür wurde ein nicht mehr ge
Bisherige Lernfabriken sind für die Pharmabranche nur bedingt geeignet.
genutzter Produktionsbereich vollständig saniert und multifunktional umgestaltet, ohne den Produktionscharakter des Bereiches zu zerstören. Die so entstandene Lernfabrik gliedert sich in drei wesentliche Bereiche, bestehend aus Eingangsbereich, Seminarraum und dem Kern der Lernfabrik, dem Produktionsbereich, auf. Im Produktionsbereich befinden sich alle zur Herstellung von Tabletten erforderlichen Geräte und Maschinen sowie benötigte Einsatzstoffe, die zur Simulation genutzt werden. Zu diesen Simulationen zählen Team-Dialoge zu verschiedenen Konfliktsituationen im Alltag, die durch die Teilnehmer in Rollenspielen geübt werden, um die spätere Akzeptanz für die Notwendigkeit des Lean Management im Unternehmen weiter zu erhöhen.
Das Konzept der Lernfabrik sieht die Vermittlung von sieben Lehrmodulen vor. Da «Lean» viele Methoden und Vorgehensweisen besitzt, wurden vorab Lernziele für unterschiedliche Zielgruppen defi- niert und mit den Unternehmenszielen des Praxispartners synchronisiert. Die drei identifizierten Gruppen haben einen unterschiedlichen Fokus hinsichtlich der Lernziele: Produktionsmitarbeiter
Der Transfer des Gelernten auf den eigenen Arbeitsbereich findet nun effizienter statt.
sollen vor allem lernen, «Lean zu handeln», während für die Meister «Lean gestalten» und für das Management «Lean steuern» im Vordergrund steht.
Das Trainingskonzept wurde erstmalig in einem Pretest mit den Lean- und Operational-Excellence- Experten des Praxispartners durchgeführt und entsprechend ihrem Feedback angepasst. Dadurch wurde der Reifegrad des Konzepts weiter erhöht. Zudem stellte es sich als vorteilhaft heraus, dass die Trainings von je einem Trainer des Praxispartners und einem der TU Berlin bzw. des Fraunhofer IPKs durchgeführt werden. Diese Konstellation gewährleistet einerseits die Pharma-Spezifität und andererseits einen unternehmensunabhängigen Einfluss in den Trainings. Aus ersten durchgeführten Trainings zeigte sich, dass besonders die vertikale und horizontale Heterogenität der Teilnehmer (Teilnehmer aus verschiedenen Funktionen und Standorten; Teilnehmer auf verschiedenem operativen Level) zum gewünschtem unternehmensinternen Austausch führt.
Fazit und Ausblick
Das Konzept der Lernfabrik speziell für die Pharmabranche umzusetzen, hat sich als sehr sinnvoll herausgestellt. Insbesondere bei den Produktionsmitarbeitern zeigte sich, dass der Transfer des Gelernten auf den eigenen Arbeitsbereich effizienter stattfindet. Dies resultiert aus der hohen Interaktion zwischen Trainern und Teilnehmern sowie der starken Aktivierung in den praktischen Übungen. Die positive Resonanz der Teilnehmer zu den Trainings widerspiegelt diesen Eindruck. Als besonders lobenswert wird von den Teilnehmern die praxisnahe, interaktive Vermittlung der Methoden und Vorgehensweisen des Lean Management erwähnt. Wünschenswert aus Sicht der Teilnehmer für die Zukunft ist die Erweiterung der Lernfabrik um die Lehrmodule Single Minute Exchange of Die (SMED) und Total Productive Maintenance (TPM), um die ganzheitliche Verbesserung im Unternehmen voranzutreiben.
Für die TU Berlin und das Fraunhofer IPK ergeben sich durch die gemeinsame Nutzung der Lernfabrik die Möglichkeiten, Studenten und Industriepartner in Lean Management zu schulen, gemeinsame Veröffentlichungen zu verfassen und Abschlussarbeiten sowie Praktika zu vergeben. Bereits seit dem Wintersemester 14/15 führt die TU Berlin die beiden Lehrveranstaltungen «Logistiksystemplanung » und «Produktionsmanagement erleben» in der Lernfabrik durch. Zukünftig sind die Etablierung einer pharmaorientierten Mastervertiefung sowie Kooperationen bei Forschungsprojekten durch die Beteiligung des Praxispartners denkbar.