Die «kleine» Perle
Die R&M-Kunden fragten vermehrt nach Glasfasersystemen, R&M antwortete mit einem neuen Produktionsstandort und einer neuen Produktionsstrategie: Da liegt es nahe, sich zu Beginn der Produktionsprozesse anzunehmen. Lean Production bietet vielfältige und bewährte Methoden, die Produktion zu optimieren.
Ein Firmenleben, vor allem das eines 49-jährigen Familienund Traditionsunternehmens wie Reichle & De-Massari AG (R&M) in Wetzikon, passt sich regelmässig dem wirtschaftlich veränderten Umfeld an. Die sich ändernde Rahmenbedingung bei R&M war die stetig wachsende Kundennachfrage nach Glasfasertechnologien zu international kompetitiven Preisen.
Zuerst die Strategie…
R&M antwortete seinen Kunden in 2012 mit der Fertigstellung und Inbetriebnahme einer neuen Produktionsstätte in Bulgarien. Bis dahin erfolgte die Produktion der Glasfasersysteme «Made in Switzerland» weitgehend in Wetzikon. Dank dem neuen Standort kann R&M heute flexibel und wettbewerbsfähig auf den steigenden Bedarf und den immer anspruchsvolleren Herausforderungen im Projektgeschäft reagieren. Denn der Kunde möchte ein spezifisches Produkt in der von ihm erwarteten hohen Schweizer Qualität, zu einem möglichst schnellen Zeitpunkt, zu einem guten Preis.
Eine solche Kundenorientierung lässt sich allerdings nicht durch die alleinige Investition in eine neue Produktionsstätte realisieren. Neue Marktanforderungen, ein neuer Produktionsstandort – der richtige Zeitpunkt zu einem
«Ruck» durch das Unternehmen
Strategiewechsel, denn die Ausgangslage in der Produktion von Glasfasertechnologien hat sich nachdrücklich verändert: Alle Standardprodukte werden von nun an in Bulgarien und nicht mehr in Wetzikon gefertigt. Der Produktionsstandort in Wetzikon erhält eine neue Aufgabe: die Abwicklung von Expressaufträgen für Glasfasersysteme, dem sogenannten «Fast Track». Dies beinhaltet vor allem die Assemblierung kundenspezifischer Lösungen, welche nicht konfigurierbar sind.
…dann der Ruck: PEARL…
So hat die Führung von R&M die neue Strategie formuliert und kommuniziert. Dies ist wichtig – so erhalten alle Mitarbeiter ein Ziel für ihr Handeln. Die reine Definition einer lang- bis mittelfristigen Vision, einer wagen Wolke oder eines richtungsweisenden Nordsterns reicht ebenfalls nicht aus, um alle Mitarbeiter bei den Händen zu packen und auf die gemeinsame, neue Reise mit zu nehmen. Es muss ein «Ruck» durch das Unternehmen gehen.
Bei R&M heisst dieser Ruck von nun an PEARL (P=Performance, E=Empower, A=Accellerate, R=Resource, L=Lean). Die Initiative PEARL wurde vom gesamten Management gemeinsam erarbeitet, gestartet und im Unternehmen kommuniziert. Jetzt geht es daran, die Inhalte der Perle gemeinsam mit den jeweiligen Mitarbeitern der Abteilungen mit Leben zu füllen.
…dann Operations mithilfe von Lean
Die Perle mit Leben zu füllen, heisst, die untergeordneten Prozesse der neuen Strategie zu analysieren, zu verbessern, anzupassen oder zu revolutionieren. Gemäss dem Grundsatz: Operations follow Strategy. Innerhalb der Initiative PEARL sollen diese neuen Operationen bzw. Prozesse mit der Hilfe bewährter Lean-Methoden definiert werden, um die neuen Ziele der Strategie zu erreichen: Die Fertigung der Standardprodukte in Bulgarien, Bearbeitung des «Fast Tracks» in Wetzikon.
Start mit Lean Production
Die Einführung von Lean Production ist nicht das Ende von PEARL. Die Produktion selbst ist wieder ein Kunde innerhalb des Unternehmens, zum Beispiel der interne Kunde der Entwicklung. Fragt der externe Kunde von R&M, ein Unternehmen, ein Netzbetreiber oder Rechenzentrum, nach mehr und spezifischen Glasfasersystemen, wird die Produktion mehr und spezifischer produzieren müssen. Dies heisst beispielsweise für die Entwicklung, die Produkte so zu konfigurieren, dass sie in den bestellten Mengen und mit den gewünschten Produktspezifikationen hergestellt werden können. Dies wiederum involviert den Einkauf, den Verkauf, die Geschäftsleitung etc. – das im Lean Management bekannte Pull-Prinzip: Der externe Kunde «zieht» sein bestelltes Produkt durch das Unternehmen, durch alle Abteilungen
Genau deshalb wird PEARL nicht mit Lean Production enden. Der Vertrieb wird durch die neue Produktionsstrategie und die erhöhte Nachfrage ebenfalls beeinflusst sein. Lean Sales, Lean Development werden die weiteren Operationen unter PEARL sein. So werden
Strategie – IST-Zustand
nach und nach alle Prozesse aller Abteilungen am externen und internen Kundenwunsch ausgerichtet. Damit kann ein Fluss von Material, Mensch, Maschine und Information entstehen, der verschwendungsfrei Hand in Hand arbeitet und damit dem Kunden sein gewünschtes Produkt zur richtigen Zeit, in der gewünschten Qualität und zu den besten Kosten liefert.
Der Handlungsbedarf
Nur durch den Vergleich der neuen Strategie mit dem IST-Zustand kann ein konkreter Handlungsbedarf ermittelt werden. Der ISTZustand der Glasfaserproduktion in Wetzikon wurde mithilfe von Wertstromanalysen, Arbeitsverteilungs-, Arbeitsstapel-, Abtaktungsdiagrammen etc. ermittelt (Bild 1). Durch die neue Produktionsstrategie mit der Erweiterung der Produktion in Bulgarien wurde die Hypothese aufgestellt, dass die Produktion in Wetzikon auch mit weniger Verschwendungen und kürzeren Durchlaufzeiten betrieben werden könne.
Für den Hypothesentest bieten sich zwei bewährte Lean-Methoden an: Lean Line Design und die Nivellierung der Produktion auf einzelne Teilmengen (Taktzeiten). Im Laufe der IST-Analyse ergab sich aber, dass die Nivellierung der Produktion in Wetzikon keinen Sinn macht. Gemäss der neuen Produktionsstrategie sollen hier die «Fast Track»-Produkte hergestellt werden. Das Projektgeschäft mit speziellen Kundenanforderungen ist so gross, dass ein planbarer Nivellierungshorizont nicht möglich wäre. Die Gestaltung der Linie nach dem Konzept des Lean Line Designs muss diesem Umstand Rechnung tragen.
Lean Line Design
Der Fokus beim Lean Line Design, welches schlanke Fertigungslinien schafft, liegt auf der Planung des Mitarbeiterflusses. Ein idealer Mitarbeiterfluss wird durch die Weitergabemenge von jeweils einem Produkt erzeugt. So werden Bestände verhindert und Durchlaufzeiten verkürzt. Im Lean Line Design wird nach der Ermittlung der Bedarfe und ungeachtet aller Rahmenbedingungen und Versorgun
Den Mitarbeiterfluss planen
gen ein idealer Mitarbeiterfluss konzipiert und im Liniendesign verwirklicht. Die Versorgung und die Rahmenbedingungen werden später daran ausgelegt (Bild 2). Dies stellt einen der grössten Unterschiede zur traditionellen Konzeption einer Liniengestaltung dar
Die neue «Fast Track»-Produktion in Wetzikon muss aufgrund der sehr spezifischen und unterschiedlichen Kundenanforderungen hochflexibel und vor allem schnell sein. Bei der Lieferfüllungszeit von durchschnittlich vier Tagen will R&M unter keinen Umständen Einbussen hinnehmen. Dies bedeutet für die Produktion sehr kurze Durchlaufzeiten und kleinste Losgrössen, um bei jedem neuen Auftragseingang flexibel reagieren zu können.
Nach der Bedarfsanalyse gab es zwei Möglichkeiten, den Mitarbeiterfluss real auszuprobieren, um ihn dann später in ein LinienDesign zu übertragen: 1) Die Hasenlaufoptimierung und 2) die Abtaktung. Zwei Gruppen nahmen sich jeweils eine der Varianten vor.
Der Hasenlauf
Beim Hasenlauf gilt das Prinzip der Selbstständigkeit: Der erste Mitarbeiter übernimmt den ersten Auftrag und fertigt das Kabel an allen Stationen selbstständig bis zum Schluss. Der zweite Mitarbeiter erhält den zweiten Auftrag direkt nach dem ersten Mitarbeiter und läuft ihm wie ein «Hase» hinterher. Nach der Fertigstellung des Auftrages beginnt der erste Mitarbeiter wieder von vorne und durchläuft wieder alle Arbeitsschritte. Der Hasenlauf impliziert, dass alle Mitarbeiter für alle Arbeitsstationen ausgebildet sind und sie bedienen können. Vom R&M-PEARL-Team wurde dies als realisierbar eingestuft.
Während der Hasenlaufoptimierung wurde aber auch festgestellt, dass der Arbeitsschritt «Kleben» der Engpass werden könnte, den es zu meistern gilt. Das R&M-Team zeichnete und klebte mit Schablonen sein favorisiertes Liniendesign zusammen. Seine Lösung im Hasenlauf: mehrere Klebestationen mit spezialisierten Mitarbeitern. Die vorgelagerten sowie die nachgelagerten Arbeitsschritte werden von ein und demselben Mitarbeiter ausgeführt. Dieser ist für den ihm zugeteilten Auftrag vollumfänglich verantwortlich. Er trägt ihn jederzeit, ausser an den Klebestationen, mit sich.
In der realen Produktion soll dies mit einer Schiene und einem Seilzug an der Decke realisiert werden, an dem die zu bearbeitenden Kabel samt Auftrag mit einer speziell gefertigten Halterung befestigt sind. Durch den Seilzug ist es dem Mitarbeiter möglich, es an der notwendigen Arbeitsstation ideal und kabelstressfrei zu positionieren und es von einer Arbeitsstation zur anderen zu bewegen. Der Hasenlauf setzt aber auch voraus, dass die Einlastung der Aufträge so erfolgt, dass sich die Mitarbeiter an den Stationen nicht behindern. Denn vor allem bei der geplanten «Fast Track»-Produktion in Wetzikon werden sehr unterschiedliche Aufträge eingelastet, die nicht aller Arbeitsstationen bedürfen. Daher wurde in der Layoutplanung des Linien-Designs ein Auftragseinlastungsboard eingeplant. Dort werden die Aufträge auf laminierten Karten geordnet abgeholt. Durch die vom Kunden geforderte Flexibilität ist es dabei auch möglich, Aufträge vorzuziehen.
Die Abtaktung
Bei der Variante Abtaktung wurde versucht, möglichst viele Mitarbeiter innerhalb der Linie zuzuweisen, welche in Teilarbeitsschritten die Ware in Arbeit weitergeben. Hier liegt die Herausforderung bei der Verteilung gleich grosser Arbeitspakete an die Mitarbeiter, damit innerhalb der Linie keine unnötigen Wartezeiten entstehen. Durch das Anpassen der Anzahl der Mitarbeiter an die täglichen Kundenauftragsschwankungen muss die Linie mehreren Abtaktungsdiagrammen gerecht werden. Keine einfache Angelegenheit, wenn die Aufträge in ihrer Komplexität und Häufigkeit unterschiedlich sind. Bei dieser Variante
Die Linie anders gestalten
wurden klare Grenzen aufgezeigt, welche im Sinne einer «Fast Track»- Linie schwer erfüllbar sind.
Zwei Fliegen mit einer Klappe
Als die Gruppe der Hasenlaufoptimierung und die Gruppe der Abtaktung wieder aufeinandertrafen und sich ihre Layoutskizzen zeigten, war ein ähnliches Layout erkennbar, nur mit unterschiedlichem Mitarbeiterfluss und veränderter Arbeitsaufteilung. Die Gruppe kam gemeinsam zum Schluss, dass wider Erwarten die Hasenlaufoptimierung für die hochflexible Produktion in Wetzikon optimal ist. Für die mehrheitliche Produktion von Standardprodukten in Bulgarien allerdings ist die Abtaktung der optimale Produktionsablauf.
Vom Papier in die Realität: das Mock-up
Ein wichtiges Prinzip einer LeanKultur ist die Transparenz. Der Funke springt nicht auf die Belegschaft über, wenn die Strategien, IST-Zustände und Handlungsbedarfe in einigen wenigen Köpfen stecken. Die Visualisierung dieser Informationen in Form von Plakaten, aber auch in Form von Linienprototypen, dem Mock-up in Karton- oder 3D-Form (Bild 3), ist nicht nur für die effizientere Umsetzung der Linie wichtig, sondern dient auch als Simulator für die Schulung der Mitarbeiter. Hier können alle Kinderkrankheiten beseitigt und die Optimierungen verfeinert werden
Eine reale Produktionssimulation, wie im Mock-up, unterstützt die Visualisierung auch für andere Bereiche bei R&M. Die Entwicklung versteht nun leichter, welche Konfigurationen die Produktion zum reibungslosen Herstellungsprozess benötigt. Die Entwicklungsabteilung wird frühzeitig in die Gestaltung der Linie miteinbezogen, um eine reibungslose Weitergabe mit einheitlichen, kleinen Losgrössen auf den halbmanuellen Arbeitsprozessen zu ermöglichen und zu beschleunigen. Im Lean Line Design wird so die Produktion zum Kunden der Entwicklung und am Mock-up treffen sie sich!
Fazit
Ein einheitliches Produktionslayout für zwei Standorte mit unterschiedlichem Mitarbeiterfluss und unterschiedlicher Auftragseinlastung, die Optimierung des LinienDesigns für eine verschwendungsfreie Produktion sowie neue Ideen zum Handling der Produkte: Dies alles ist das erste Ergebnis aus einer kleinen Perle, die aus Kundensicht mit Lean Production begann und nun ihre Fühler aus interner Kundensicht in Richtung der anderen Bereiche streckt. Es ist angerichtet.