«Der informierte Patient» schafft neue Herausforderungen

Die «Customer Journey» umfasst den Weg, den ein Kunde vom ersten Kontakt mit dem Produkt bis zum Kaufabschluss und darüber hinaus zurücklegt. Analog betrachtet werden kann auch der Weg, den ein Patient vom Auftreten erster Symptome über die Diagnose und Behandlung bis hin zur Rehabilitation beschreitet. Klinische Informationssysteme (KIS) unterstützen diesen Prozess der «Patientenreise», müssen aber inskünftig mehr «patienten-gesteuert» gestaltet sein.

«Der informierte Patient» schafft neue Herausforderungen

 

 

Während der Sommermonate strahlte das Schweizer Fernsehen eine Unterhaltungssendung unter dem Titel «Ärzte vs. Internet» aus. Dabei massen sich jeweils ein Ärzte- und ein Laienteam darin, aufgrund von realen Schilderungen von Symptomen die richtige Diagnose zu stel-len. Während die Ärzte dabei «nur» auf ihr Fachwissen zugreifen durf-ten, konnten die Laien sich ihre Informationen aus dem Internet ho-len. Auch wenn in der «Endabrechnung» letztlich zumeist die Ärzte den Sieg davontrugen, war es doch erstaunlich, wie oft auch die «In-ternet-Teams» aufgrund ihrer Recherchen im Netz auf die richtige Dia­ gnose kamen – und dies bei nicht immer trivialen Krankheitsbildern wie etwa Morbus Crohn, Colitis Ulcerosa, Sekundäres Lymphödem, Psoriasis u. a. m. Auch die Ärzte mussten hin und wieder zugeben, dass sie in der Praxis erst über Internet-Recherchen durch die Patien-ten selbst auf die richtigen Diagnosen und Therapien gekommen sind.

Termin bei «Dr. Google»
Im Phänomen des «Informierten Patienten» besteht im Gesundheits-wesen mehr denn je eine Herausforderung für Ärzte und Spitäler. Ge-sundheitsinformationen sind inzwischen für fast jedermann zugäng-lich; «Dr. Google» ist immer häufiger die erste Konsultation vor dem ei-gentlichen Arztbesuch. Erstaunlich: Gemäss einer Studie der Bertels-mann-Stiftung rangieren dabei in Sachen Bekanntheitsgrad und Glaubwürdigkeit privatwirtschaftlich orientierte Internet-Plattformen wie Wikipedia, apotheken-umschau.de oder netdoktor.de deutlich vor den Angeboten öffentlicher Institutionen (z. B. in Deutschland die Website patienten-information.de der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung). Unabhängig davon, welche Plattform im Internet jemand für Informationen zur Gesundheit nutzt: Die Reise des Patienten beginnt mit dem Symptom, also noch vor dem ersten Kontakt mit einem Arzt.

Ärzte wehren sich gegen Bewertungen
Die Patientenreise müsste in der Regel nach einer erfolgreichen Be-handlung und Therapie resp. vollständigen Ausheilung zu Ende sein. Doch weit gefehlt: Die Reise geht noch weiter. Denn auf einschlägigen Portalen im Internet haben die Patienten immer mehr die Möglich-keit, die Qualität von Ärzten, Praxen oder Krankenhäusern auch zu bewerten. Die Folge: Der Nimbus der «Halbgötter in Weiss» verblasst, und die Ärzte sind den knallharten Mechanismen von Online-Platt-formen ausgesetzt. Aufsehen erregte im Frühjahr 2018 in Deutsch-land der Fall einer Dermatologin, welche die Entfernung ihres Profils auf dem nach eigenen Angaben umfassendsten Online-Arztverzeich-nis jameda.de gerichtlich durchsetzen wollte. Die Ärztin erhielt zwar vor dem deutschen Bundesgerichtshof in letzter Instanz Recht, die Plattform hat aber inzwischen Anpassungen vorgenommen, welche den ursprünglichen Klagegrund – die Plattform sei nicht neutral – hinfällig machte. Indes: Wie die neue Datenschutz-Grundverord-nung, welche ja ein «Recht auf Vergessen» persönlicher Daten be­ inhaltet, sich auf diese und ähnliche Plattformen auswirken wird, bleibt abzuwarten.

Qualität der Beziehung zwischen Arzt und Patient steigern
Mit immer besser informierten Patienten findet ein Paradigmawech-sel für Gesundheitseinrichtungen statt, wie etwa Bernhard Geist, Head of Product Management bei CompuGroup Medical SE, anläss-lich einer Beratertagung am Schweizer Sitz dieses eHealth-Unterneh-mens ausführte. «Der Arzt weiss es besser» werde zunehmend in Frage gestellt. Die Erwartungshaltung der Patienten verändere sich: Diese wollen verständlich informiert werden und möchten in den gesamten Prozess einbezogen bleiben, indem vorliegende Informationen sinn-bringend genutzt werden, damit eine Behandlung bestmöglich be-züglich Qualität, Planung, Koordination usw. durchgeführt werde, so Bernhard Geist. Letztlich geht es also um die Qualitätssteigerung in der Beziehung zwischen Patient und Arzt. Als Folge davon müssen nächste Generationen von Klinischen Informationssystemen als «Kern der Lösung» auf prozessorientierten Plattformen aufbauen und die Interaktion zwischen Patient, Arzt und Pflegepersonal noch stär-ker berücksichtigen.

Was ein modernes KIS leisten sollte
Die neuen Herausforderungen für ein KIS lassen sich denn auch wie folgt zusammenfassen:

 

  • Was ein modernes KIS leisten sollte Die neuen Herausforderungen für ein KIS lassen sich denn auch wie folgt zusammenfassen: Arbeitssituation des jeweiligen Akteurs (Arzt, Therapeut, Pflegeper-sonal usw.). Ferner bezieht es Daten, die der Patient selber beiträgt, mit ein. Behandlungspläne sind aufeinander abgestimmt, über Ter-mine und Massnahmen wird informiert. Die gesamte Patientenreise innerhalb einer Organisation, etwa einem Krankenhaus, lässt sich über das KIS koordinieren.
  • Es liegt eine durchgängige elektronische Patientenakte vor. Diese ist interprofessionell und interdisziplinär und stellt eine durchlässige Dokumentation zwischen ambulanter und stationärer Behandlung sicher. Ein modernes KIS funktioniert als ein systemübergreifendes durchgängiges Informationssystem.
  • Multi-Ressourcen-Planung mit dem Ziel, bei gleichbleibender Ef-fizienz eine maximale Behandlungsqualität zu erreichen: Dazu muss ein KIS in der Lage sein, für alle Arbeitsabläufe eine optimale Unterstützung zu bieten. So muss etwa über ein Management-resp. Behandlungscockpit die Aufenthaltsdauer oder Komplex­ behandlungen überwacht werden können. Ebenfalls muss das KIS die Mitarbeitenden im Krankenhaus entlang der gesamten Patien-tenreise vernetzen können. Dies ermöglicht denn auch mehr­ dimensionales Planen, um die vorhandenen Ressourcen bestmög-lich zu nutzen.
  • Vielfach fehlt heute das Wissen innerhalb der Institutionen bezüg-lich Benutzerschnittstellen bei einem KIS. Gleichzeitig steigen die Verwaltungsanforderungen in der Medizin laufend. Und viele KIS bieten keine mobile Unterstützung. Entsprechend notwendig ist ein individualisierbares Design des User-Interface, und dies ge-räteunabhängig. Eine mobile Anwendung und die Möglichkeit, gleich am Nutzungsort die Daten verarbeiten zu können, sind wei-tere Anforderungen an ein modernes KIS. Denn durch eine perfekte Benutzererfahrung lässt sich auch viel Zeit sparen.
  • Ein modernes KIS muss nicht nur Behandlungspläne abbilden kön-nen, sondern auch Unterstützung bei Entscheidungen bieten. Dazu greift es auf vorhandenes Wissen zurück, etwa auf bereits erprobte Pläne und Abläufe. Anhand strukturierter Dokumentation ist auch Leistungserfassung automatisiert. Gespeicherte Daten werden überwacht, und das KIS kann auch Daten für Gesamterkenntnisse aggregieren. Durch Machine Learning kann zudem die Aufenthalts-und Behandlungsplanung laufend optimiert werden – insbesonde-re vor dem Hintergrund, dass immer mehr Prozesse ambulant ver-laufen, kann dies ein entscheidendes Feature sein.
  • Und nicht zuletzt muss ein modernes KIS interoperabel und ser-viceorientiert sein. «Kommunikation mit minimalem Aufwand» muss die Devise lauten. Es dient letztlich als zentrale Kommunika-tionsplattform für die komplette Patientenreise und bildet die Basis für die Kollaboration aller Akteure in allen Prozessen.

Elektronisches Patientendossier wohl erst ab 2020
Eine «eierlegende Wollmilchsau» also? In der Tat könnte der Einwand gemacht werden, ein solches Informatik-System sei zu komplex. Ein KIS muss einfach, schlank und interoperabel sein, also nicht mit zu vie-len Features überladen, hört man seitens von Krankenhäusern. Die Di-gitalisierung des Gesundheitswesens durch moderne KIS sollte aber zum Ziel haben, Prozesse zu beschleunigen, transparenter zu machen (indem Doppelspurigkeiten vermieden werden) und damit kosten-dämpfend zu wirken. Eine Voraussetzung bildet dabei das elektroni-sche Patientendossier, das in der Schweiz gemäss Bundesamt für Ge-sundheit BAG 2020 eingeführt werden wird. Die Komplexität und seine dezentrale Organisation über die Kantone erweisen sich als gros­ se Herausforderungen. Hinzu kommt, dass es sich bei Patientendaten um äusserst sensible Informationen handelt, die einen entsprechen-den Schutz benötigen. Und hier scheint der Stein der Weisen noch nicht endgültig gefunden worden zu sein. Nichtsdestotrotz hat der Kanton Basel-Stadt das EPD vor Kurzem eingeführt. Bei diesem Sys-tem namens «myEPD» können die Patienten die Zugriffsrechte online im Detail selber bestimmen. Das Anlegen eines solchen EPD ist (noch) freiwillig; auch nicht dazu verpflichtet sind die Leistungserbringer selbst, also Ärzte, Apotheker oder Chiropraktiker. Diese haben immer noch Bedenken wegen der Datensicherheit.

 

Wie weit unter diesen Voraussetzungen das EPD ein Vorteil ist oder nicht, muss sich erst zeigen. Viele Fragen, etwa auch jene der Kos-ten, sind noch offen. Unabhängig davon dürften Patienten nach wie vor munter im Internet «Selbstdiagnosen» stellen. Ob der derart «infor-mierte Patient» die Zahl leichtfertiger Arztkonsultationen erhöht oder nicht, bleibe mal dahingestellt. Kostendämpfend wäre dies kaum – umso wichtiger sind Prozesse, welche teure Fehlbehandlungen ver meiden helfen. Die Informatik ist da ein Mittel zum Zweck.

 

 

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