Das agile Manifest

Die VUCA-Welt fordert offenen Umgang mit Veränderungen auf allen Ebenen des Unternehmens. Rückt der Kunde ins Zentrum, verschiebt sich der Fokus von ­Anforderungen an Produkte hin zum Mehrwert (eigentlicher Zweck) des Produktes/ der Leistung für den Kunden. Mit dem Manifest für agile Entwicklung wird dieser Wandel mit neuen Werten tief im Unternehmen verankert. Dieser Wandel hin zu Werteorientierung setzt die Bereitschaft auf einen Kulturwandel (siehe Teil 1 in der letzten Ausgabe) voraus und gelingt mit angepasstem Führungsverständnis und gestützt auf eine konsequente Unternehmensstrategie der Agilität.

Das agile Manifest

 

 

Eines der höchsten Gebote im Qualitätsma­ nagement ist es, die Kundenanforderungen zu verstehen und konform umzusetzen. Die normative sowie produktspezifische Kon­ formität, die der Kunde voraussetzt, wird durch die Digitalisierung deutlich weniger aufwendig werden. Müssen heute Gesetzes­ listen nachweislich sein, die die Kenntnis über die Anforderungen an ein Produkt oder eine Leistung oder deren durchgängige Er­ füllung im Unternehmen nachweisen, dürf­ te dies künftig komplett digitalisiert und ­automatisiert werden. Für diese Aufgabe eingesetzte Product oder Regulatory Mana­ ger dürften diesen datengetriebenen Auto­matismen – zumindest auf diese Aufgabe bezogen – weichen.

Die Unterscheidung von Anforderungen und Bedürfnissen
Die Herausforderung wird darin liegen, schnell auf individuelle Kundenanforderun­ gen zu reagieren – nötigenfalls in Echtzeit. Ein gängiges Instrument für die Ableitung von Kundenanforderungen an Produkte und Leis­ tungen ist das Quality Function Deployment (QFD). Wurde dazu schrittweise abgeleitet, welches Produktmerkmal, welche Funktion oder welches Leistungsmerkmal wie konst­ ruiert, verändert oder verbessert werden muss, um die Kundenanforderung zu erfül­ len, werden diese schrittweisen Vorgehen künftig zu zeitintensiv für Echtzeitanforde­ rungen sein. Eine Alternative aus der agilen Welt stellt das Framework Scrum aus der Toolbox der Softwareentwickler dar. Auch Scrum­ hat sich zwischenzeitlich von der strengen Softwareentwicklungs-Methode in die Projektvorgehen etabliert. Die Kunden müssen sich ebenfalls umstellen und über den gesamten Projektverlauf hinweg aktiv mitar­ beiten (Co-creation) sowie einen engagierten Ansprechpartner bereitstellen. Der Vorteil liegt darin, dass sie davon profitieren, dass sie jederzeit direkten Einfluss auf den Projektver­ lauf, die Umsetzung ihrer Bedürfnisse haben und über den Stand der Arbeiten im Bilde sind. Diese Vorgehensweise ist bezüglich der Anforderung, die Erwartungen der Kunden zu verstehen, kaum besser zu erfüllen.

 

Ein wichtiger Aspekt dabei ist die nachfolgend beschriebene strikte Abgrenzung zwischen den beiden Definitionen Kundenbedürfnisse und -anforderungen. Die Scrum-Methode entwickelt die Lösung ungeachtet der vermeintlichen Anforderungen der Kunden und fokussiert sich auf die übergeordnete Frage, den Nutzen, den Zweck, welcher das Kundenbedürfnis überhaupt ausgelöst hat, und strebt die Lösungssuche darauf basierend an. Dabei werden Kundenanforderungen als Ausgangs-Hypothese betrachtet. Innerhalb des iterativen Entwicklungsprozesses wird ausgehend von den Kundenanforderungen eine Lösung entwickelt. Die Umsetzung, das Resultat, wird als Experiment geführt, um den Zweck, die Motivation des Kunden, den Nutzen zu validieren. Neue Erkenntnisse fliessen in die nächste Iteration ein (siehe Grafik).

 

Eine Aufgabe des Qualitätsmanage­ ments ist, die Erfüllung von Anforderungen sicherzustellen. Dabei wird der Begriff An­ forderungen je nach Kontext unterschiedlich gedeutet oder verstanden: als Bedürfnisse des Kunden oder als Spezifikation an ein Pro­ dukt. Dazwischen liegt die Lösungsfindung, welche Probleme oder Bedürfnisse des Kun­ den in mögliche Lösungen ummünzt. Die Anforderungen an das Produkt, die Spezifi­ kationen, leiten sich aus der entwickelten Lösung ab.

Schrauben: Die Spezifikationen oder den Zweck erfüllen?
Beispiel: Bei einem Hersteller von Schrauben stellt typischerweise ein Qualitätsmanager si­ cher, dass die herzustellenden Schrauben der Spezifikation entsprechen. Die Anforderun­ gen der Kunden sind Schrauben gemäss Spe­ zifikation. Das Qualitätsmanagement stellt demnach sicher, dass die Schrauben diesen Anforderungen entsprechen, und verspricht sich damit die Erfüllung der Kundenzufrie­ denheit. So weit, so gut.

 

«Mit den agilen Methoden werden in Entwicklungsvor­ haben Kundenbedürfnisse viel weiter gefasst.»

 

Mit den agilen Methoden werden in Entwicklungsvorhaben Kundenbedürfnisse viel weiter gefasst. Die Frage ist nicht bloss, ob Schrauben Spezifikationen erfüllen, also rich­ tig erstellt sind. Die Frage ist: erfüllen die Schrauben ihren Zweck? Erst mit dem Nutzen der Schrauben erfüllen sie das ursprüngliche Bedürfnis. Dient die Schraube, um Bilder auf­ zuhängen, so erfüllt die Schraube ihren­ Zweck mit dem aufgehängten Bild. Mit dem Ver­ ständnis für das Bedürfnis, ein Bild an der Wand, kann die Entwicklung eines Produkt­ angebots weitergeführt und anstelle von be­ liebigen Schrauben zu spezifischen Bilder-­ Befestigungs-Systemen oder gar Dienstleis­ tungen führen. Je nach Innovationsbedarf kann die Entwicklung auf weitere Bedürfnis­ se ausgeweitet werden: Räume dekorieren, Diplome und Auszeichnungen zur Schau stel­ len, Idole vor Augen führen, Erinnerungen festhalten. Ein Produkt- oder Dienstleistungs­ angebot könnte entsprechend über Bilder be­ festigen hinausgehen und sich der Raumde­ koration oder anderer Themen annehmen.

Konsequenzen für das Qualitätsmanagement
Die Digitalisierung führt zu mehr Automati­ sierung, Standardisierung und Kostendruck. Differenzierung über zusätzliche Wertschöp­ fung ist eine mögliche, bewährte Strategie sich diesem Druck zu entziehen. Mehr Wert­ schöpfung bedeutet, Produkte und Dienst­ leistung für übergeordnete Kundenbedürf­ nisse zu entwickeln (im Beispiel: «Erzielte Erfolge zur Schau stellen» statt Befestigungen oder Schrauben und Diplome und Auszeich­ nungen aufzuhängen.)

 

Übergeordnete Bedürfnisse herauszu­ schälen, Produkte und Dienstleistungen dafür zu entwickeln, ist ein komplexer Prozess und wird daher idealerweise empirisch angegan­ gen. Wie bereits festgehalten, kann Qualität in empirischen Prozessen nicht alleine durch Überwachung der Prozessschritte sicherge­ stellt werden. Dies kann bedeuten, dass zu­ sammen mit der Lösung die Anforderungen an die Lösung sowie auch entsprechende Prüf- und Qualitätssicherungsverfahren mit­ entwickelt werden. Zukünftig bedeutet das, dass das Qualitätsmanagement in der Lage ist, dies verlässlich sicherzustellen. Als Beispiel für integrales Verfahren kann das A/B-Testing der Internet-Riesen herangezogen werden. Mit A/B-Testing werden unterschiedliche Va­ rianten einer Web-Applikation an verschiede­ ne Benutzer ausgeliefert. Durch Messung des Benutzerverhaltens wird die Web-Applika­ tion kontinuierlich verfeinert und verbessert. Entscheide über die beste Lösungsvariante werden durch prüfbare Hypothesen ersetzt. Die Sicherung der Kundenbedürfnisse ist in­ tegraler Bestandteil der Lösung, inklusive der notwendigen Prozesse zur Auswertung der Daten, zum Erkenntnisgewinn und zur ge­ zielten Steuerung der Weiterentwicklung. Ein griffiges Qualitätsmanagement für empiri­ sche Prozesse muss daher integraler Bestand­ teil des Prozesses selbst sein.

Verändertes Führungsverständnis/ Wertorientierung
ISO 9001 hat mit der letzten Revision in ihrem Modell die Führung in das Zentrum jeden Handelns gesetzt. Zeitgleich werden neue ­Anforderungen ans Bewusstsein der Mitar­ beitenden über das Managementsystem oder die ohnehin bestehenden Anforderungen wie Einbezug der Mitarbeiter, Kultur etc. gefor­ dert. Agilität gibt diesem teilweise gescheiter­ ten Versuch eine ganz neue Dynamik. War es bisher ein Softthema, ist es neu für die künfti­ gen Wertschöpfungsaktivitäten eine Voraus­ setzung und wird dadurch unumgänglich.

 

«Weg vom Entscheider hin zum Teamcoach.»

 

Entschliesst sich ein Unternehmen, dem Wandel agil zu begegnen, beeinflusst das nicht nur den übergeordneten Strategieentwick­ lungsprozess. Der herausforderndste Teil dürften der Kulturwandel und die diesbezüg­ liche Bereitschaft für eine neue und konse­ quentere Führungsrolle sein. Denn mit der Absicht, ein agiles Unternehmen zu werden, muss das Unternehmen auch ein einheitliches Verständnis darüber haben, wie es mit dem Wandel künftig umgehen möchte und welche Massnahmen für ein systematisches Vorgehen auf allen Stufen erforderlich werden.

 

Es benötigt die Bereitschaft aller Beteiligten, sich einzubringen und Verantwortung zu übernehmen, Vertrauen in die Mitarbeiter/ Kollegen zu haben, eine lösungsfokussierte Fehlerkultur zu leben, und nicht zuletzt braucht es Führungspersönlichkeiten, die sich und andere mehr an den erfüllten Leistungs- und Qualitätsansprüchen als an Einfluss und Status messen.

 

Als ein mögliches Beispiel wurde im vorangegangenen Kapitel die Co-creation genannt. Für erfolgreiche Co-creation ist beispiels­ weise der konstruktive Umgang mit Kritik genauso wichtig wie die Offenheit für gute Lösungsansätze, die ausserhalb des Unternehmens existieren und sich bewährten.

 

Alle Entscheidungen hinsichtlich der Kultur sollen auch for­ mal in den strategischen Grundlagen einer Organisation verankert bzw. erweitert werden. Häufig werden Impulse zur Anpassung von handlungsleitenden Grundlagen in der Organisation durch das Qualitätsmanagement angestossen. Beispiele können die in der Vi­ sion festgelegte Organisationsstruktur, eine im Leitbild dokumen­ tierte agile Unternehmungskultur oder ein agiles Führungs­ verständnis in den Grundsätzen sein. Die Softwareentwicklung orientiert­ sich hinsichtlich der Kultur am Manifest für agile Soft­ wareentwicklung (siehe «Agile Manifest»). Zwar bezieht sich das im Vergleich zur Vision oder zum Leitbild auf eine operative Ebene. Doch versteht sie sich gleichermassen als Grundstein jeden Han­ delns in einem Projekt.

 

Aus dem nachstehenden Manifest ist ableitbar, dass die agilen Werte stark auf das Menschenbild abzielen. Es wird davon ausge­ gangen, dass Menschen intrinsisch motiviert sind und der Treiber ihrer Motivation zu handeln nicht von Anreizsystemen und Vorga­ ben abhängig ist. Viel eher hängt er von Tatsachen ab wie über Sinn und Zweck für ein herausforderndes Ziel zu verfügen und/oder Wissen für eine Verbesserung und Mehrwert selbstorganisiert zur Verfügung stellen zu können. Dass sich dabei die Führung in ihrem bisherigen Rollenverständnis neu definieren muss – weg vom Ent­ scheider hin zum Teamcoach – versteht sich von alleine.

Agile Manifest
Ins Deutsche übersetzt, verankert das Agile Manifest Folgendes.

 

Wir erschliessen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen. Durch diese Tätigkeit haben wir diese Werte zu schätzen gelernt:
– Individuen und Interaktionen stehen über Prozessen und Werkzeugen.
– Funktionierende Software steht über einer umfassenden Dokumentation.
– Zusammenarbeit mit dem Kunden steht über der Vertragsverhandlung.
– Reagieren auf Veränderung steht über dem Befolgen eines Plans.
Das heisst, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite wichtig finden,
schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein.

 

Vergleicht man die Inhalte des Manifestes und die Ansätze, die hinter dem Modell AGIL einleitend beschrieben wurden, so ist fest­ zustellen, dass der Kulturaspekt «Zusammenhalt herstellen und ab­ sichern» sowie «Aufrechterhaltung von grundlegenden Strukturen und Werten» (AGIL) oft zu wenig konsequent gepflegt wurde. Zu stark liegt und lag das Augenmerk auf dem Handlungsbedarf «Anpas­ sung an Veränderungen» und «Ziele definieren und verfolgen» (AGIL). Der Grund für diese Unausgewogenheit liegt in fast allen Fällen dann vor, wenn Engpässe bezüglich Ressourcen (Zeit und Geld) bestehen.

 

Eine weitere gegenläufige Anwendung betreffend die obigen Grundsätze geschieht bei Projekten. Stellt die Organisation den Handlungsbedarf­ durch ein Verbesserungspotenzial oder eine Zielab­ weichung fest, wird ein Optimierungsprojekt mit Verantwortlichen sowie dem Projektziel entschieden. Diese Entscheidung erfolgt in der Regel durch die Linienvorgesetzten, wobei die Fachexperten als Pro­ jektteam damit betraut werden, ihr fachliches Wissen für diese spezi­ fische Lösungsfindung dieses Ziels zu erarbeiten.

 

Das klingt auf den ersten Blick durchaus sinnvoll. Doch wider­ spricht sie den Mechanismen des agilen Manifestes. Denn durch die Bestimmung des Projektziels wird bereits eine Stossrichtung zugrun­ de gelegt und dem Projektteam kaum die Chance eingeräumt, noch geeignetere alternative Lösungen anzustreben, die nicht nur Kunden-Anforderungen erfüllen, sondern darüber hinausgehenden Nutzen schaffen.

 

Teil 3 folgt in der nächsten Ausgabe. Teil 1 erschien in Ausgabe 6-2018. Für eine Bedürfnisanalyse zum Thema Agil und Qualitätsmanagement wer­ den Interessenten gesucht. Sind Sie interessiert? Nehmen Sie Kontakt mit uns
auf.

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