Chronologie eines Todesfalls

Auch acht Monate nach dem Rigi-Unfall eines koreanischen Touristen beschäftigt die Tragödie. Rechtliche Konsequenzen sind für die involvierte Bergbahn wohl keine zu erwarten, aber das Thema muss dennoch aufgearbeitet werden.

Chronologie eines Todesfalls

Wie reagierte die Firma auf den Unfall, wie kommunizierte sie und wie will man in Zukunft vorgehen? Stefan Otz war damals Geschäfts­ führer der Rigi Bahnen AG und kann heute das Vorgefallene gut ein­ ordnen. Es betraf eine koreanische Reisegruppe mit acht älteren Ehe­ paaren und einem jungen koreanischen Begleiter. Die Gruppe war auf einer Tour durch Europa und besuchte dabei Rigi Kulm; ein standar­ disierter Ausflug ohne lokale Betreuung.

 

Die Rigi war am 16. November 2018 nebelumhüllt. Nach der An­ kunft auf Rigi Kulm erklärte der koreanische Begleiter seinen Gästen, dass sie nun eine Stunde Zeit hätten, um den asphaltierten Weg zu­ rück nach Rigi Staffel alleine zu erleben. Die einzelnen Reisemitglie­ der kannten sich untereinander kaum und so lief jeder in seinem eige­ nen Tempo nach Staffel, wo sie und der Reisebegleiter später eintra­ fen. Erst dort stellten Guide und Ehefrau fest, dass eine Person fehlte. Man informierte umgehend den Bahnhofsvorstand, aber schon hier wurde deutlich, dass seitens der Asiaten niemand Englisch sprach.

Unfall
Wie genau sich der Vermisste von seiner Gruppe entfernte, ist bis heu­ te unklar. Ob er sich irgendwo auf einer Bank ausruhte oder Fotos machte; ab irgendeinem Zeitpunkt verlief er sich wohl. Zu erörtern, ob er dann bewusst den Gleisen nachlief oder einfach deshalb, weil er keinen anderen Weg fand, ist letztlich müssig. Traurige Tatsache ist, dass zu diesem Zeitpunkt ein normal verkehrender Zug bergwärts unterwegs war. Dabei sitzt der Lokführer hinten, also am Ende des Zuges, und ein Zugbegleiter steht ganz vorne bergwärts mit Sichtkon­ takt auf die Geleise. Obwohl der Zug mit nicht mehr als 20 km/h unterwegs war, beim dichten Nebel mit einem Sichtkontakt von viel­ leicht fünf Metern, gab es schlicht zu wenig Zeit, um eine auf dem Geleise laufende Person zu erkennen. Stefan Otz erklärt: «Bis der Zug­ begleiter eine Warnung auslösen konnte, die den Zugführer zum Not­ Stopp veranlasste, vergingen zu viele Sekunden. Der Tourist wurde direkt auf dem Geleise erfasst und verstarb leider auf der Stelle.»

 

Die bergwärts fahrenden Touristen bemerkten vom Unfall gar nichts; sie wurden «wegen technischer Probleme» zum Umsteigen auf einen Folgezug aufgefordert. Zurück an der Unfallstelle blieben die beiden Bahnangestellten; sie durften vorerst ja die involvierte Zugs­ komposition nicht bewegen; es war immerhin ein Tatort und von Amtes wegen musste dort wegen fahrlässiger Tötung ermittelt werden.

Sofortmassnahmen
Otz erinnert sich: «Ironischerweise tagten wir an diesem Freitag zum Thema Krisenmanagement und diskutierten über Vorgehen und Ver­ halten bei Notfällen. Anwesend waren Geschäftsleitung und Verwal­ tungsratspräsident und so konnten wir gleich vor Ort in Vitznau ein Kommandobüro einrichten. Ich blieb dort, während ein anderes Geschäftsleitungsmitglied zur Unfallstelle fuhr.»

 

Als erste Massnahme wurde die koreanische Gruppe nach Vitz­ nau gebracht, obwohl diese zu diesem Zeitpunkt noch nicht über den Unfall informiert war. Man führte sie in ein Hotel, stellte einen Saal zur Verfügung und organisierte Verpflegung. Es gab aber, und das ist das Tragische, keinerlei Kommunikation zu diesen Menschen. Denn von Schweizer Seite sprach niemand Koreanisch und von der Reisegruppe verstand niemand Englisch. Eine Information zu einem Todesfall konnte und wollte man nicht mittels Zeichensprache vermitteln.

 

Währenddessen trafen Polizei und REGA auf dem Berg ein, aber es dauerte Stunden, bis der Tod offiziell festgestellt wurde und die Leiche ins Spital Schwyz transportiert werden konnte.

 

Endlose Warterei
Unterdessen wurde es früher Abend und die Gruppe wartete noch immer in ihrem Hotel. Kein schönes Momentum, erinnert sich Stefan Otz: «Wir konnten einfach nicht reden und in Vitznau gibt es keine Koreanisch sprechende Person, die uns hätte helfen können. Wir ha­ ben einen koreanischen Teilzeitangestellten, der an diesem Tag aber im Kanton Zürich unterwegs war. Als wir ihn endlich erreichten, for­ derten wir ihn auf, umgehend anzureisen. Gleichzeitig kontaktierten wir das Konsulat in Bern und konnten dort einen Mitarbeiter über­ reden, sofort nach Vitznau zu reisen. Bis wir, zusammen mit einem Polizeivertreter und angereisten Schweiz­Koreanern, die Gruppe in­ formieren konnten, vergingen leider mehrere Stunden. Wir entschie­ den, alle Personen gleichzeitig zu informieren; das heisst, die Ehefrau erfuhr zusammen mit allen anderen vom Tod ihres Mannes. Entspre­ chend stark waren die unmittelbaren Reaktionen; mit Schmerz und Wut und allerlei Vorwürfen.»

 

Während die Ehefrau in Vitznau blieb, entschied sich die Grup­ pe zur Weiterreise nach Mailand. Der Leichnam wurde am nächsten Tag ins Rechtsmedizinische Institut des Universitätsspitals Zürich ge­ bracht, wo alle für die Heimreise notwendigen Papiere vorbereitet wurden.

Interkulturelle Probleme
Auffallend ist das ganz banale Problem der fehlenden Sprachkennt­ nisse und dass man deswegen Stunden brauchte, um eine Kommuni­ kation zu den betroffenen Touristen aufzubauen. Das sollte in der heutigen virtuellen Zeit nicht mehr passieren. Beispielsweise sind Flughafenbehörden immer wieder mit Touristen konfrontiert, deren Sprache sie nicht beherrschen. Dann wird mittels Telefonkonferenz und Unterstützung eines externen Dolmetschers geredet.

 

Hotspots im internationalen Tourismus, so wie die Rigi, sollten vorbereitet sein, um mit Besuchern der wichtigsten Quellmärkte un­ mittelbar reden zu können. Es braucht ja nicht gleich ein Todesfall zu sein. Auch ein einfacher Beinbruch benötigt unmittelbare Kommuni­ kation (Name, Schmerzen, Hotel, Angehörige usw.).

 

Die Unfallstelle selbst wurde nach der Freigabe durch die Polizei ohne Markierung gereinigt; es gab nicht mal einen Blumenstrauss. Als die Ehefrau am nächsten Tag die Todesstelle besuchten wollte, konnte diese nicht einmal mehr klar identifiziert werden. Aber auch das ist kein kulturelles Problem, denn auch hiesige Angehörige würden eine Todesstelle besuchen wollen.

Kommunikation
Während die Gruppe noch auf Informationen wartete, ging die Kan­ tonspolizei Schwyz bereits an die Medien. Richtigerweise hat die Ge­ schäftsleitung dazu Schlüsselwerte festgehalten, auf denen die exter­ ne Kommunikation basiert sein sollte: Erstens, die Gruppe war im Rahmen eines üblichen touristisch­operativen Ablaufes selbstständig unterwegs. Zweitens, der Verstorbene lief zwar nicht mit der Gruppe, hätte sich aber dennoch nicht verirren sollen, denn der Fussweg ist von guter Qualität. Drittens, der Unfall geschah in einem offenen und sehr steilen Gelände. Und zudem auf den Geleisen, deren Begehung letztlich weltweit verboten ist. Es war ein zwar tragischer Unfall, aber vollumfänglich aufgrund eines eigenen Verschuldens.

 

Unverständlich ist jedoch, dass die Polizei zu einem Zeitpunkt an die Medien ging, wo die Ehefrau noch von nichts wusste. Das hätte schlimme Folgen haben können, wenn beispielsweise Bekannte, die zufälligerweise einen Newsflash über einen Todesfall in der Schweiz lesen, ihren reisenden Freunden die Nachricht weitergeleitet hätten. Da es sich um ein Einzelschicksal handelte und nicht um einen Gross­ unfall auf der Autobahn, hätte man mit der Veröffentlichung warten müssen, bis die Ehefrau informiert ist.

Im Markt
Das lief laut Stefan Otz gut: «Mithilfe unserer Vertreterin in Seoul konn­ ten wir proaktiv kommunizieren. Die Nachricht machte in den Medien schnell die Runde, aber verlief sich ebenso schnell wieder. Die koreani­ sche Reisebranche hat diesen Todesfall zur Kenntnis genommen, aber die scheinbar klare Konstellation des Selbstunfalls hat die Sache nicht explodieren lassen.» Immerhin, auf privat­rechtlicher Basis ist der Fall zum heutigen Zeitpunkt noch pendent, denn die Angehörigen haben ihr koreanisches Reisebüro verklagt. Dass dies rechtliche Auswirkun­ gen auf die Rigi Bahnen AG haben könnte, kann zwar nicht gänzlich ausgeschlossen werden, ist aber, Stand heute, wenig denkbar.

Konklusion
Im Debriefing der Bergbahn wird festgehalten, dass es zwar ein Unfall aus Selbstverschulden war, aber dass man hätte schneller reagieren müssen. Dass es rund fünf Stunden brauchte, bis man die Gruppe in­ formieren konnte, ist letztlich inakzeptabel. Da wird man digital bes­ ser unterwegs sein müssen. In der Zwischenzeit hat die Geschäftslei­ tung ein Konzept ausgearbeitet, welches erlaubt, Simultandolmet­ scher der relevanten Fremdsprachen (Chinesisch, Koreanisch usw.) innerhalb einer Stunde einsetzbar zu haben.

 

Korrigiert werden muss aber auch der Schutz der betroffenen Person. Die Ehefrau hätte niemals vor der Gruppe informiert werden dürfen, und dies ist kein kulturelles Problem. Auch in der Schweiz würde man die direkt betroffenen Personen vorgängig und separat ansprechen.

 

Gesamtheitlich muss man den Verantwortlichen aber zugute halten, dass sie den Unfall operativ bestmöglich behandelten und auch, dass die Kommunikation an die Öffentlichkeit, beispielsweise bei einem Tele­Züri­Interview, fokussiert und unaufgeregt erfolgte. Dem­ entsprechend verschwand das Thema innert weniger Tage aus den Medien.

 

(Visited 437 times, 1 visits today)

Weitere Artikel zum Thema