Brachliegendes Wertschöpfungspotential
Unzufriedene Kunden sind keine Seltenheit. Eine Seltenheit hingegen ist das professionelle Bemühen der Unternehmen, diese Unzufriedenheit in Zufriedenheit zurückzuverwandeln. Bernd Stauss, emeritierter Professor für Dienstleistungsmanagement, hat kürzlich die 5. vollständig überarbeitete Auflage seines Standardwerks «Beschwerdemanagement – Unzufriedene Kunden als profitable Zielgruppe» veröffentlicht.
Das folgende Interview versucht Antworten auf die Frage weshalb sich die Unternehmen meist nur recht halbherzig mit Kundenbeschwerden und Reklamationen befassen.
Professor Stauss, Sie freuen sich über das Erscheinen der 5. Auflage Ihres Beschwerdemanagementbuches. Im Gegensatz dazu ist der nach wie vor wenig professionelle Umgang mit unzufriedenen Kunden keine Freude. Warum?
Bernd Stauss: Wissen Sie, es gibt Fehlvorstellungen, die haben sich einfach festgesetzt. Eine solch hartnäckige Fehlvorstellung ist die Annahme, ein sinnvolles Beschwerdemanagement kostet nur Geld, bringt aber nichts ein. Dabei liegt in diesem Bereich noch ein ganz beachtliches Wertschöpfungspotenzial brach. Doch das wollen die Unternehmen einfach nicht wahrhaben. Und so machen sie den Fehler, sich mit der an sie herangetragenen Unzufriedenheit meist mehr schlecht als recht zu befassen anstatt sie konsequent auszuräumen und die K u n den iiwieder für sich zu gewinnen. Und die Quittung für diese, Pardon, unprofessionelle Stümperei bekommen sie dann erfahrungsgemäss auch prompt: Die nun erst richtig verärgerten Kunden wandern ab und sind wiederum erfahrungsgemäss meist für immer verloren.
Wo liegt der entscheidende Denkfehler, der für die Misere des derzeitigen Beschwerdemanagements verantwortlich ist?
Nun ja, im Grundsätzlichen wie gesagt darin, dass das Wertschöpfungspotenzial, das in einem durchdachten Beschwerdemanagement zweifelsfrei schlummert, einfach nicht gesehen wird. Und aufgrund dieser Blindheit setzen die Unternehmen auf den ersten Fehler einen zweiten drauf! Anstatt eine konsequente Strategie der Minimierung von Kundenverlusten durch Unzufriedenheit zu fahren, verstärken sie ihre Anstrengungen zur deutlich teureren Neukundenakquisition, erhöhen dazu die Werbe- und Vertriebsbudgets, suchen aber verstärkte Kostensenkungspotenziale im Customer Care. Damit installieren die Unternehmen genau den Treibsatz, der die unzufriedenen Kunden nun endgültig geradezu aus dem Haus treibt. Das ist ein eindeutig kontraproduktives Lassen einerseits und Tun andererseits!
Aber was zum Teufel blockiert die Einsicht in diese Zusammenhänge und damit die Bereitschaft, in Sachen «Beschwerdemanagement» die Verhaltensweichen neu zu stellen?
Na ja, wenn Sie so wollen, wieder mal Menschliches, allzu Menschliches. Schauen Sie sich das ganz normale menschliche Reaktionsverhalten auf Kritik an. Die meisten sperren sich dagegen. Kritik und die Kritiker dürfen nicht mit überschäumenden Wertschätzung rechnen. Und Unternehmen sind nun mal auch nur ‹Menschen›. Und deshalb gibt es in den Unternehmen schon massive Widerstände gegen den Begriff ‹Beschwerde›. Er wird unmittelbar mit Kritik, Ärger und Zuweisung von Schuld verbunden. So vermeiden Unternehmen diesen Begriff auch möglichst sowohl in der Kommunikation von Kontaktangeboten als auch bei der Bezeichnung der entsprechenden Ansprechstellen. Überall stossen Sie auf die Verzuckerung der Sache: Kontakt, Service, Feedback. Und weil diese Scheu vor Kritik, diese Angst, das Kind beim Namen zu nennen und den Tatsachen beherzt ins Auge zu blicken, nun mal da ist, herrscht in den meisten Unternehmen auch die Tendenz, die Beschwerdezahlen zu (unter)drücken. Das fängt schon bei der Einordnung einer Kundenäusserung an. Fast immer gibt es eine intensive Diskussion darüber, was denn eine Beschwerde sei, wobei eine grosse Neigung besteht, darunter nicht jede Äusserung von Unzufriedenheit zu verstehen, sondern möglichst nur Meldungen objektiv feststellbarer Fehler. Auf diese Weise werden Beschwerdezahlen künstlich kleingerechnet. Das ist selbstschädigender Selbstbetrug.
Beschwerden und Reklamationen sind also ein absolut ungeliebtes Kind in der Unternehmensfamilie?
Was die Praxis doch wohl hinreichend belegt, oder? Und das Verrückte an der Sache ist nun: Die Unternehmen installieren ein mitunter durchaus aufwendiges Verbesserungsmanagement, schütten durchaus auch mal ganz beachtliche Summen für Verbesserungsvorsachläge an ihre Mitarbeiter aus, tun sich aber schwerer als schwer, die über Beschwerden und Reklamationen kostenlos ins Haus getragenen Verbesserungsvorschläge unzufriedener Kunden als solche anzuerkennen, zu akzeptieren und auszuwerten. So, und nun brechen wir auch mal eine Lanze für die Unternehmen. Bei der ganzen Misere um das Beschwerdemanagement dürfen wir einen wiederum menschlichen, allzu menschlichen Faktor auf keinen Fall ausser Acht lassen: Mitarbeiter scheuen, ja hassen die Auseinandersetzung mit unzufriedenen Kunden geradezu, auch deshalb, weil diese Kunden fern jeder feinen englischen Lebensart und gebotenen Contenance gern die Sau rauslassen! Wer lässt sich schon ungerührt selbst bei kleinen und kleinsten Abweichungen vom Erwarteten gottergeben hemmungslos beschimpfen?
Oder hinters Licht führen!
Tja, beides ist leider in wachsendem Masse an der Tagesordnung. Kunden fallen zunehmend nicht nur mit enthemmtem Verhalten auf, sondern auch mit Übertreibungen bei und im Erfinden von Beschwerden und Reklamationen. So wie der Versicherungsbetrug nahezu zum Volkssport geworden ist, so wird auch zunehmend versucht, sich beschwerend oder reklamierend Vorteile zu verschaffen. Doch die möglicherweise durch das Vorspiegeln falscher Tatsachen entstehenden Schäden wiegen oft leichter als die Misshelligkeiten, die ein Kunde aus ungebremster Wut über eine unprofessionelle Reaktion auf eine Beschwerde oder Reklamation für das Unternehmen beispielsweise in der Netzgemeinde heraufbeschwören kann. Dennoch müssen Unternehmen keineswegs betrügerisches Verhalten belohnen, genauso wenig wie Mitarbeiter beleidigendes Verhalten hinzunehmen haben. Strategisch wie taktisch bedachtes, Nach- und Vorteile sorgfältig abwägendes Vorgehen sollte also auch vor dem Beschwerdemanagement nicht Halt machen. Was aber an der grundsätzlichen Tatsache nichts ändert: Die Krux im Umgang mit Beschwerden und Reklamationen ist im Ursprung kein Reaktionsproblem, sondern ein Aktionsproblem. Frustrierte Kunden wenden sich mehr und mehr unmittelbar an Inhaber oder Vorstandsmitglieder in der Hoffnung, hier Gehör zu finden, eine persönliche Antwort und Hilfe zu bekommen. Eine Hoffnung, die meist auf Sand gebaut ist, werden diese Eingaben doch erfahrungsgemäss auf der Stelle nach unten weitergereicht und die Sache nimmt ihren bekannten unrühmlichen oder aus der Sicht der Unternehmen schädlichen Gang. Diesem einerseits unwürdigen, andererseits unproduktiven Gang der Dinge sollte ein Ende gemacht und ein der Unternehmensgrösse angemessenes Beschwerdemanagement ins Leben gerufen werden.