Bipolar bedacht handeln!

«Im ausgewogenen Zusammenspiel von Verändern und Bewahren liegt das Geheimnis anhaltend erfolgreicher Unternehmen», sagt Dr. Hans-Joachim Gergs, Dozent am Executive Education Center der TU München und Organisa­ tionsentwickler in einem deutschen Automobilkonzern. Und so begründet er seine Feststellung.

Bipolar bedacht handeln!

 

Sich der dynamischen Technologie- und Marktentwicklung anpassen zu können, ohne dabei in der Agilitätsfalle zu landen, darin sieht der erfahrene Organisationsentwickler Dr. Hans-Joachim Gergs die Über-lebensversicherung für Unternehmen. «Um das sicherzustellen, sind zwei Aufgaben im Verbund zu lösen: kontinuierliche Anpassung an sich verändernde Umweltanforderungen (Adaption) und Sicherung der sozialen Integration der Organisation (Stabilisierung). Den Lö-sungsweg zeigt Talcott Parsons mit seinem AGIL-Schema auf.» Der amerikanische Soziologe Talcott Parsons, der unter anderem auch zwei Jahre in Heidelberg studierte und dort auch promovierte, war eine­ der Galionsfiguren der Soziologie der 40er- bis 60er-Jahre und als Berater der amerikanischen Regierung wesentlich an der Entwick-lung des Marshallplans beteiligt. Bereits in den 1950er-Jahren be-schäftigte er sich mit dem Zusammenspiel von Agilität und Stabilität.

Das AGIL-Schema
«Mit dem von Parsons entwickelten AGIL-Schema wird es möglich, den Zusammenhang von Agilität und Wandel auf der einen Seite und sozialer Integration sowie Stabilität auf der anderen Seite zu fassen», sagt Gergs. Parsons, der sein AGIL-Schema auf der Grundlage von em-pirischen Ergebnissen aus der Kleingruppenforschung entwickelte, erkannte in den zusammen mit seinem Kollegen Bales durchgeführ-ten empirischen Studien: Die untersuchten Gruppen bestanden nur dann dauerhaft, wenn sie vier grundlegende Funktionen erfüllten:

 

  1. Adaptation (Anpassung/Zukunftsbezug): Die Fähigkeit eines so-zialen Systems, auf die sich verändernden äusseren Bedingungen zu reagieren, sich anzupassen.
  2. Goal Attainment (Zielverfolgung/Zukunftsbezug): Die Fähig-keit eines sozialen Systems, eigene Ziele zu definieren und zu ver-folgen (langfristige Programme und Strategien).
  3. Integration (Eingliederung/Gegenwartsbezug): Die Fähigkeit eines sozialen Systems, Kohäsion (Zusammenhalt) und Inklusion (Einschluss) im Inneren herzustellen und abzusichern (Rollen, Po-sitionen, Arbeitsorganisation etc.).
  4. Latency bzw. Latent Pattern Maintenance (Aufrechterhaltung/ Gegenwartsbezug): Die Fähigkeit eines sozialen Systems, zur dauerhaften Gewährleistung seiner inneren Ordnung grundle-gende Werte und Normen auszubilden und aufrechtzuerhalten (Identität, Kultur).

 

Gergs: «Während Adaptation und Goal Attainment für Anpassung und Veränderung eines sozialen Systems stehen (Agilität), sichern Integration und Latency die Stabilität und Ordnung innerhalb des Systems.» Wie Parsons herausfand, stehen alle vier Funktionserfor-dernisse in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zuein-ander und müssen deshalb als gleich wichtig angesehen werden. Eine Funktionsgruppierung kommt damit dauerhaft nicht ohne die andere aus. «Da diese Interdependenzen oft erst mit zeitlicher

 

Verzögerung spürbar werden, lässt sich das Management in der ge-genwärtigen Situation zur Überbewertung der Anpassungsfähig-keit (Agilität) verführen. Dieses Ungleichgewicht gefährdet den Bestand der Organisation», sagt Gergs. Auch neuere empirische Studien der Organisationsforschung zeigten: Organisationen im permanenten Umbruch tendieren zu Desintegration und damit zu einem deutlichen Rückgang ihrer Leistungsfähigkeit; langfristig erfolgreich arbeitende Unternehmen ziehen ihre innovative Leis-tungskraft aus der ausgewogenen Mischung von Verändern und Bewahren.

«Jahrhundert-Champions»
Woraus resultiert die Attraktivität dieser Verführung? «Mit der Um-stellung auf organisatorische Instabilität zur Förderung der Agilität ist ein dramatischer Zuwachs an Reaktionsfähigkeit, Innovationsge-schwindigkeit und Flexibilität verbunden! Leider aber auch ein zen-trales Folgeproblem, die Notwendigkeit zur ‹Re-Stabilisierung› der Organisation. Die Frage lautet also, wie lassen sich Unternehmen flexibilisieren, ohne deren inneren Zusammenhalt zu gefährden?» Gergs verweist auf die Untersuchungsergebnisse von Stadler und Wältermann (2012). Sie untersuchten sogenannte «Jahrhundert-

 

Champions», Unternehmen, die über mehr als 100 Jahre hinweg wirtschaftlich erfolgreich geblieben sind (Münchner Rückversiche-rung, Siemens, Shell usw.). Ihre Ergebnisse machen deutlich: Die rei-ne Innovationsfähigkeit ist nicht der zentral erklärende Faktor für die Langlebigkeit dieser Unternehmen. Was die langlebigen Unter-nehmen von den Vergleichsunternehmen unterscheidet, ist ihre ­Fähigkeit, bei aller Anpassung die Kultur und Identität des Unter-nehmens zu wahren beziehungsweise sie auf evolutionäre Art und Weise zu verändern.

 

«Die Stärke der Jahrhundert-Champions liegt augenscheinlich darin, dass sie die richtige Balance zwischen Erneuerung und Anpas-sung auf der einen Seite sowie Tradition und Identität des Unterneh-mens auf der anderen Seite wahren», kommentiert Gergs und lenkt die Aufmerksamkeit weiter auf eine Studie der Managementforscher Probst und Raisch (2005) der Universitäten Genf und St. Gallen. Sie untersuchten die 100 schwersten Unternehmenskrisen zwischen 2000 und 2005. Ihre Erkenntnis: Neben exzessivem Wachstum ist insbesondere unkontrollierter Wandel ein bedeutsamer Auslöser von Unternehmenskrisen. Exzessiver Wandel und permanenter ­Unternehmensumbau führen zu gravierenden Folgeproblemen. Als typisches Beispiel dafür nennen sie den Technologiekonzern ABB. Nach 60 Übernahmen in unterschiedlichsten Branchen und einem wahren Restrukturierungsrausch blieb aus dem einstigen Vorzeige-unternehmen der 1990er-Jahre ein verzettelter, heimatloser Konzern übrig. Der ständige Richtungswechsel und der radikale Umbau führ-ten zum kompletten Verlust der Unternehmensidentität. Ähnlich die Situation bei Vivendi Universal oder Enron. Auch hier ging im Zuge exzessiven Wandels die Identität des Unternehmens verloren, sodass Führungskräfte und Mitarbeiter zum Schluss nicht mehr erklären konnten, was die Grundlage des jeweiligen Geschäfts ist.

Agilität und Stabilität schliessen sich nicht aus
Gergs: «Augenscheinlich opfern chronisch fluide Unternehmen auf längere Sicht ihre Leistungsfähigkeit auf dem Altar der Agilität. Dieser Zusammenhang wird auch durch Untersuchungen zu agilen Unter-nehmen aus der IT-, Medien- und Internetbranche bestätigt. Dabei müssen sich Agilität und Stabilität keineswegs ausschliessen.» Das leg-ten die empirischen Erkenntnisse der amerikanischen Forscher ­Hatum und Pettigrew (2010) offen. Sie fanden heraus: Stark anpas-sungsfähige Unternehmen weisen zugleich eine starke Identität auf.

 

«Langfristig erfolgreiche Unternehmen stellen nicht in revolutionärer Weise alles infrage.» Hans-Joachim Gergs

 

Auch Rita McGrath (2013) von der Columbia University in New York stiess in ihren Untersuchungen auf den Zusammenhang von kontinu-ierlicher Arbeit an der Unternehmensidentität und der Balance zwi-schen Stabilität und Wandel, um dauerhaft erfolgreich zu sein.

 

Gergs: «Langfristig erfolgreiche Unternehmen stellen nicht in re-volutionärer Weise alles infrage, sondern passen sich evolutionär unter Berücksichtigung der eigenen Kultur und Identität, die in Verände-rungsprozessen bewusst reflektiert und mit weiterentwickelt wird, den Veränderungen an. Eine agile Unternehmensstruktur erfordert immer eine aktive und reflektierte Auseinandersetzung mit der Identität des Unternehmens. Damit wird in langfristig erfolgrei-chen agilen Unternehmen das Problem der Re-Stabilisierung nicht auf der Ebene von Organisationsstrukturen und Arbeitsprozessen gelöst, sondern auf der Metaebene von Normen, Werten, sprich von Kultur und Identität. Identitätsarbeit wird damit zur Voraus-setzung für die nicht-destabilisierende Umsetzung agiler Konzepte und Methoden in Unternehmen.»

Zwischen Wandeln und Bewahren
Agilität und Stabilität stehen also nicht im Widerspruch zueinan-der, sondern bedingen sich gegenseitig. Der israelische Organisati-onsforscher Moshe Farjoun (2010) fordert aus diesem Grund, die antagonistische Betrachtungsweise von Agilität und Stabilität auf-zugeben. In seinem viel beachteten Aufsatz «Beyond dualism: sta-bility and change as a duality» arbeitet er heraus, dass Wandel und Stabilität als zwei Seiten der gleichen Medaille betrachtet werden müssten und dass Stabilität die Grundlage von Veränderungsfähig-keit sei. Schnelle Anpassungs- und Innovationsfähigkeit seien nur vor dem handlungsentlastenden Hintergrund von Routinen mög-lich. Das sei das janusköpfige Gesicht der Routine, die sowohl ­Geburtshelfer für Veränderung als auch deren Totengräber sein könne. Farjoun zufolge werde zu gerne übersehen, dass Organisati-onen keine Veränderungen einführen können, wenn sie sich nicht gleichzeitig auf die bestehenden Strukturen und Kulturen stützen. Stabilität und Wandel seien damit nicht zwei voneinander unab-hängige Phänome, sondern stünden in einem dialektischen Ver-hältnis zueinander.

 

«Wie lassen sich Unternehmen flexibilisieren, ohne deren inneren Zusammenhalt zu gefährden?» Hans-Joachim Gergs

 

Gergs: «Diese Zusammenhänge wahrzunehmen und in das ak-tuelle Managementhandeln umzusetzen, darin besteht die Kunst der Unternehmensführung im 21. Jahrhundert. Organisieren als ein per-manentes Oszillieren zwischen Verwandeln und Bewahren, zwischen Risiko und Sicherheit zu begreifen, erfordert eine kontinuierliche
­Reflexionsarbeit im Unternehmen.»

 

 

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