Arznei-Engpässe in der Schweiz

Effektive Engpässe: Handelt es sich um ein Vertriebsproblem? Wie lange könnte der Medikamentenstopp andauern? Arzneimittelhersteller sollen verpflichtet werden, schneller und detaillierter über alle nicht verfügbaren Medikamente der Spezialitätenliste zu informieren. Zudem sollen Pflichtlager für Medikamente von hohem therapeutischem Wert oder ohne Substitutionsmöglichkeiten eingerichtet werden.

 

Bei vielen Produktegruppen wie Antibiotika, Insulin- oder Hormonpräparaten besteht praktisch eine vollumfängliche Auslandsabhängigkeit, erfährt man online ohne Umschweife zum Thema «Heilmittel» des Eidgenössischen Departments für Wirtschaft, Bildung und Forschung.

So heisst es weiter: Sowohl bei den Anbietern wie auch bei den Produktionsstandorten hat eine Konzentration stattgefunden. Dass die Lagermengen aus Kostengründen auf allen Stufen abgebaut wurden, ist also ein offenes Geheimnis.

«Die Versorgungsketten von Heilmitteln sind dadurch entsprechend anfälliger geworden », schreibt das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung BWL.

Gemäss BWL ist die Information über den Heilmittelbestand jedoch nach wie vor freiwillig und betrifft nur lebenswichtige Substanzen. Weil die Lieferungen unregelmässiger ausfallen, es an speziellen Informationen über Lieferunterbrüche und sonstige Engpässe fehlt, pocht indes der Apothekerverband pharmaSuisse auf eine aktuelle Heilmitteldatenbank.

Mehr noch, die Heilmittelhersteller respektive Zulassungsinhaber sollen verpflichtet werden, für Transparenz in der Lieferkette zu sorgen.

Grundproblem: Um den Gewinn zu steigern, lassen Pharmaunternehmen die Wirkstoffe oft ausschliesslich in Ländern wie Indien oder China produzieren. Dort sind sie zum Teil von einem einzigen Hersteller abhängig, auch wenn die Medikamente unterschiedlich heissen und auf diversen Kanälen vertrieben werden. Um Geld zu sparen, legen Arzneimittelhersteller kaum noch Vorräte an, sondern produzieren nur noch nach Bedarf. «Die Heilmittelversorgung ist allfälliger geworden»

Wenn die Produktion eines knappen Medikaments wieder anläuft, werden zunächst die Länder beliefert, in denen die Unternehmen die besten Preise erzielen. Aus einleuchtenden Gründen sind die Schweiz und die regionalen Apotheken davon ziemlich abhängig, ob sie über ein genügend breites Kontingent an Pflichtmedikamenten und Heilmitteln verfügen können.

Forderung nach staatlichem Eingriff

Ibuprofen, Antibiotika oder Narkosemittel – natürlich gibt es gravierende Unterschiede bei Medikamenten. In vielen Bereichen fehlt es jedoch an effektiven Medikamentenbeständen. Oft wissen selbst die Apotheker nicht, wieso speziell das eine Heilmittel vom Markt genommen wurde. Seit fünf Jahren führt Enea Martinelli selber eine Liste aller fehlenden Medikamente im Schweizer Markt unter www.drugshortage.ch.

In dieser Zeit hätten die Lieferengpässe laut dem Chefapotheker der Spitäler Meiringen, Frutigen und Interlaken stetig zugenommen: «Als ich angefangen habe, dachte ich, 150 seien wahnsinnig viel. Anfang 2019 waren es 600.» Weil die Enpässe (engl.: shortages) zum Teil auch immer länger dauern würden, sei das gesamte Spitalpersonal gefordert.

«Der Aufwand, alles so zu organisieren, damit der Patient hiervon nichts merkt, ist enorm geworden», gesteht Martinelli 2019 in einem Beitrag des Schweizer Fernsehens SRF.

So müsse man öfters Medikamente ersetzen. Die Wirkstoffe in den Pillen sind jedoch nicht nicht immer die gleichen. Chronisch Kranke stellt man deswegen auf andere Therapien um. Das bringt nicht nur einen Mehraufwand mit sich, sondern auch Kosten, viel Frust und Ärger. Patienten müssen wegen Rezepturen öfters zum Hausarzt. Vielfach sind Ersatzmedikamente teurer.

Einfache Lösungen gibt es laut Martinelli nicht: «Wir haben unsere Lagerbestände erhöht in den letzten Jahren. Aber es ist sehr schwierig vorauszusehen, welche Produkte es betrifft.» Man könne auch nicht von jedem Medikament einen Jahresbedarf am Lager haben: «Da stehen wir selber im Risiko. Es ist verderbliche Ware. Sie verfällt irgendwann.»

Grauzone Medikamentenhandel

Ein Beispiel ist der Blutdrucksenker mit dem Wirkstoff Valsartan. Anfang Juli 2018 wurden weltweit Chargen von Blutdrucksenkern mit dem Wirkstoff Valsartan, der mit N-Nitrosodimethylamin (NDMA) in erhöhter Konzentration verunreinigt war, vorsorglich zurückgerufen. Der chinesische Hersteller konnte nicht mehr liefern, sein Produkt war mit dem krebserregenden NDMA verunreinigt. Am 24. August 2018 lagen die Laborergebnisse für den Schweizer Markt bei Swissmedic vor:

Auf dem Schweizer Markt zugelassene und aktuell erhältliche Valsartanpräparate entsprachen den gesetzlichen Anforderungen. Trotzdem wurde das Blutdrucksenkmittel nicht mehr geliefert.

Im Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung BWL kennt man die Problematik der Medikamenten-Monopolisierung. Ueli Haudenschild leitet die Abteilung Heilmittel. Haudenschild verzeichnet seit Jahren ein Ungleichgewicht bei der Arzneiverteilung: «Es ist ein globalisierter Markt, vor allem bei den Billigprodukten. Massenware wie zum Beispiel Generika und viele Impfstoffe werden zu fast 100 Prozent importiert», so der Geschäftsstellenleiter Ernährung & Heilmittel, «der Wirkstoff wird meist in Billiglohnländern produziert. Und zwar für den ganzen Markt.»

Die Gründe für Lieferengpässe sind vielfältig und haben ihre Ursache oft nicht einmal in der Schweiz.

 

Hauptgründe:

  • Probleme bei Herstellung oder Beschaffung des Wirkstoffs oder eines Hilfsstoffs
  • Herstellungsprobleme
  • Sicherheitsprobleme am Herstellort (in der Schweiz oder im Ausland)
  • Verzögerungen bei den Behörden (bezüglich Inspektionen des Herstellortes oder des Medikamentes).

 

Weitere Ursachen:

  • ein unerwarteter Anstieg der Nachfrage in der Schweiz oder in anderen Ländern (z.B. durch den Ausfall eines anderen Medikamentes und der darauffolgenden Kettenreaktion oder durch die «Tenders» d.h. öffentlichen Ausschreibungen, die zu Verschiebungen führen – zum Teil oder indirekt die Schweiz betreffen).
  • Verschiedene Unterbrüche in der Lieferkette (z.B. durch Streiks)
  • andere Faktoren, die ausserhalb des Einflusses der Lieferanten oder Hersteller liegen (z.B. Naturkatastrophen).

«Kurzsichtiges Billigstprinzip»

Auf dem Medikamentenmarkt entwickelt sich eine gefährliche Dynamik. Immer mehr neue Hochpreismedikamente überschwemmen den Markt: «Zwei Prozent der Medikamente sind für beinahe 50 Prozent der Kosten zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung verantwortlich», heisst es in einer Mitteilung von pharmaSuisse. «Durchgehende Rahmenbedingungen gefordert»

Die Pharmaunternehmen stellen die Herstellung kostengünstiger oder patentauslaufender Originalmedikamente aus Gründen der Rentabilität ein.

Der Schweizer Apothekerverband sowie Parlamentarier wie Bea Heim («Parlamentarische Initiative 19.465: Volksapotheke zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten und Impfstoffen») und weitere unmittelbar Involvierte ziehen nun an einem Strick, um die Versorgungssicherheit der Bevölkerung aufrechtzuerhalten.

Anstelle des kurzsichtigen Billigstpreisprinzips, das viele Hersteller aus dem Schweizer Markt vertreibt und die Versorgungsprobleme verschärft, fordert pharmaSuisse eine umfassende nationale Strategie in der Gesundheitsversorgung mit Rahmenbedingungen, die eine nachhaltige und gute Arzneimittelversorgung gewährleisten. (Quelle: pharmaSuisse «Zur Verteilung von Originalmedikamenten »).

Noch keine Deutungshoheit

Leider war es bisher nicht möglich, einen schweizweiten, gemeinsamen Ansatz zu finden. Vielen Teilverantwortlichen ist es noch nicht genügend bewusst, dass Lieferengpässe zu Medikationsfehlern führen und Menschen gefährden können. «Sowohl bei den Patientinnen und Patienten zu Hause, wie auch im Umfeld des Spitals oder der Heime» fehle es an entsprechenden Informationen, betont Enea Martinelli, Chefapotheker.

Problem bei Zulassungsverantwortlichen und Kontingentverteilern. Sie möchten es vermeiden, dass Informationen über Lieferunterbrüche publik werden. Die Konkurrenz könnte die Information zum eigenen Vorteil nutzen. Allerdings wirken sich Medikamenten-Engpässe auch auf die zukünftige Qualitätssicherung der Gesundheitsbranche aus.

nicht mehr in der Lage, ihre eigenen Antibiotika und Impfstoffe herzustellen. Im Fall einer Pandemie könnten vorhandene Medikamente schnell zur Neige gehen. Die Schweiz gehört aufgrund ihrer unbedeutenden Marktgrösse vielleicht schon bald zu einer der Weltregionen, die unter kontinuierlichen Lieferengpässen leidet.

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