Appell zu einem Systemwechsel
Nachhaltigkeit respektive die Forderung nach einer nachhaltigeren Wirtschaft ist omnipräsent. Inzwischen findet sich der Begriff regelmässig und inflationär nicht nur im Wirtschaftsteil der Zeitungen. Doch das Verständnis, was nachhaltig zu sein für Unternehmen bedeutet, könnte unterschiedlicher nicht sein: Für die einen ist es die Produktion von Solarenergie auf dem Dach und für die anderen sind es die Elektroautos im Firmenwagenpool. Dabei geht es um viel Grundsätzlicheres: nämlich um die Notwendigkeit, unser Wirtschaftssystem radikal anzupassen. Warum? Das soll im folgenden Artikel ausgeführt werden.
Zu Beginn ein Hinweis: Dieser Artikel wurde vom Autor noch vor der Corona-Notsituation geschrieben. Dadurch erhalten einige der darin formulierten Hypothesen zusätzliche Bedeutung.
Seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts bietet uns der Brundtland-Bericht eine Definition dazu, was Nachhaltigkeit bedeutet: «Nachhaltigkeit ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass zukünftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.» Eine nachhaltige Wirtschaft muss sich also daran messen lassen, wie sie mit den Ressourcen der Erde umgeht. Und noch konkreter: Nachhaltig wirtschaften bedeutet, dass wir auf den Verbrauch von nicht erneuerbaren Ressourcen verzichten, die Artenvielfalt erhalten und damit unseren Lebensraum nicht durch unser Handeln zerstören. Damit hängt die Forderung nach einer nachhaltigen Wirtschaft nicht nur mit der aktuellen Klimadiskussion zusammen.
Die Nachhaltigkeitsformel
In der Nachhaltigkeitsforschung setzt sich die Erkenntnis durch, dass nachhaltiges Handeln sich an den drei Dimensionen Ökonomie, Ökologie und Soziales orientiert. Wollen wir tatsächlich eine «echte» Nachhaltigkeit erreichen, so müssen wir verstehen, welche Aspekte hinter diesen Dimensionen stecken. Ein zweckmässiger Ansatz liefert das Kapitalstockmodell der Weltbank (1):
K Nachhaltigkeit = K Umwelt + K Wirtschaft + K Gesellschaft
Nach dieser Formel ist Nachhaltigkeit dann gegeben, wenn sich durch unser Handeln weder das Umwelt- noch das Wirtschafts- oder das Gesellschaftskapital vermindert.
Wenn wir nun unser Handeln anschauen, dann stellen wir fest, dass sich die Menschheit bis zur Industrialisierung, zwar mit unterschiedlicher Ausprägung, aber doch insgesamt, nachhaltig entwickelte. Bis vor 200 Jahren wurden durch unser Verhalten keine unumkehrbaren Umweltveränderungen initiiert. Vielmehr können viele positive gesellschaftliche Entwicklungen festgestellt werden, insbesondere in Bezug auf Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde. Auch die wirtschaftliche Entwicklung ermöglichte ein immer besseres Leben. Das gesellschaftliche und ökonomische Kapital stieg, noch weitgehend ohne negative Folgen auf das ökologische Kapital.
Das Prinzip «Wachstum»
Die Industrialisierung und die damit verbundene massive Steigerung der Produktivität hat dazu geführt, dass diese Ausgeglichenheit kippte. Die Herstellung von Gütern wurde durch die Maschinen immer billiger und für mehr Menschen erschwinglich. Fabriken schossen wie Pilze aus dem Boden und boten Arbeitsplätze und Einkommen. Diese steigenden Einkommen sorgten für mehr Nachfrage und so entwickelte sich eine Dynamik, welche das ökonomische Kapital laufend vergrösserte. Die wirtschaftliche Entwicklung brachte Strom und Wasser in die Haushalte und die damit zusammenhängende Zunahme der Güter erleichterte das Leben. Insbesondere die Verfügbarkeit von Nahrung und bessere Hygienebedingungen sorgten für ein zunehmendes Bevölkerungswachstum. Der Wohlstand und die Bevölkerung nahmen zu. Von 1800 bis 1950 ist die Weltbevölkerung von rund einer Milliarde auf zweieinhalb Milliarden angewachsen. Damit einhergehend erhöhte sich jedoch auch der Ressourcenverbrauch. In 100 Jahren Industriezeitalter (1850 – 1950) hat sich das Leben einer Mittelschichtfamilie massiver verändert als im Agrarzeitalter über tausend Jahre zuvor. Einkommen und Wohlstand stiegen in der Folge immer weiter. Bis weit in das zwanzigste Jahrhundert handelte man so, als seien die Ressourcen unbeschränkt vorhanden. Im Zug dieser positiven gesellschaftlichen Entwicklung hat sich ein Wirtschaftssystem entwickelt, welches auf dem Prinzip Wachstum und Konsum basiert. Zugleich haben sich in der Gesellschaft ökonomische Grundprinzipien durchgesetzt: Staaten sind bestrebt, die Menge der hergestellten Güter und Dienstleistungen zu erhöhen (BIP), Unternehmen wollen ihre Umsätze und Gewinne steigern und Menschen ihr Einkommen. Das ökonomische Kapital ist dadurch in schwindelerregende Höhen geschossen. Als Beispiel: Alleine in den USA stieg die Geldmenge zwischen 1960 und 2005 von ca. 200 Billionen USD auf 10 000 (!) Billionen USD.
Primat der Ökonomie
Gewinn oder Profit ist zum Massstab unserer Handlungen geworden. Wirtschaftlicher Erfolg verschafft Ansehen und hat inzwischen theologische Dimensionen (2) erreicht. «Was bringt es?» ist nicht nur in Unternehmen zentral, sondern findet zunehmend im gesellschaftlichen Handeln Einzug (3). Geld, Besitz und Konsum haben sich zu Leitwerten in der Gesellschaft entwickelt. Diese Ausrichtung auf stetiges Wachstum hat zudem dazu geführt, dass Produkte kurzlebiger wurden. Einewachstumsgetriebene Wirtschaft ist auf den Homo consumens – den hemmungslosen Verbraucher (4) – angewiesen. Wir leben in einem System, in welchem das Primat der Ökonomie herrscht und der Mensch sich über den Konsum definiert. Dieses Handeln lässt vor allem den ökonomischen Kapitalstock wachsen.
Endliche Ressourcen und belastete Umwelt
Doch seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts beginnt sich abzuzeichnen, dass dieses System, welches auf Wachstum basiert, infrage gestellt werden muss. Anfänglich aus der schlichten Erkenntnis, dass die Ressourcen der Erde einfach nicht ausreichen, um allen Menschen auf dieser Welt einen westlichen Lebensstandard zu ermöglichen. Inzwischen erkennen wir, dass wir jetzt schon mit diesem Wirtschaftssystem Schäden anrichten, welche die Lebensgrundlage der Menschheit gefährden. Der ökologische Kapitalstock wurde im Konsumrausch vernachlässigt und hat sich in den exzessiven Konsumjahren deutlich verkleinert. Alleine zwischen 1950 und 2010 hat sich der Ressourcenverbrauch mehr als vervierfacht (5). Unendliches Wachstum in einer endlichen Welt ist nicht möglich. Trotz aller Bemühungen nimmt der Ressourcenverbrauch zu. Die CO2-Rate steigt seit den 1970er-Jahren im Schnitt immer schneller: von 0,7 ppm jährlich auf 2,2 ppm. Im Mai 2019 waren es sogar 3,5 ppm (6). Das industrielle Zeitalter hat uns viele Fortschritte und positive Entwicklungen gebracht. Aber eben nicht nur: Wir erleben zurzeit die suizidale Grunddisposition des Systems. Wir stehen vermutlich an einer maximalen Umbruchstelle der Gesellschaft.
Systemwechsel – Kultur der Wohlfahrt
Die Art und Weise, wie wir (wirtschaftlich) handeln (produzieren und konsumieren), ist schlicht nicht nachhaltig und nicht zukunftsfähig. Wollen wir eine nachhaltige Gesellschaft, brauchen wir eine nachhaltige Wirtschaft. Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung müssen reduziert werden. Obwohl seit Jahren bekannt, ist dies bis heute nicht gelungen. Und dies aus dem Grund, weil wir im System anstelle am System arbeiten. Es braucht eine Veränderung: Das Gesellschaftssystem muss sich von der materiellen Wachstumsdisposition lösen und eine kulturelle Wohlfahrtsorientierung entwickeln. Ein nachhaltiges Wirtschaftssystem muss sich an den (Grund-)Bedürfnissen der Gesellschaft orientieren und nicht fortwährend (unnötige) Bedürfnisse (Massenkonsum) schaffen. Der Konsumrausch hat uns die Sicht auf den Abgrund, aber vor allem auf das Wesentliche vernebelt: ein sinnvolles Leben in Würde, für alle Menschen. Diese Arbeit an der geistigen und moralischen (Höher-) Entwicklung des Menschen muss an Bedeutung gewinnen. Die aktuellen Prämissen (Primat der Ökonomie) müssen wir aufbrechen. Es gilt, eine lebensfähige Umwelt zu erhalten und eine lebenswerte Gesellschaft zu schaffen. Neben Rechnen, Lesen und Schreiben gehört die Auseinandersetzung mit Ethik, Moral und Tugend und das Nachdenken über den Sinn des Menschen (Philosophie) zum Grundkanon der Bildung auf allen Stufen. Genügsamkeit und Bescheidenheit muss sich gesellschaftlich wieder lohnen. Wir kommen nicht umhin, die Regeln neu zu definieren und die Werte zu justieren. Dazu braucht es alle Akteure der Gesellschaft; allen voran den Staat, welcher für die Wohlfahrt seiner Bürger verantwortlich ist und mit einem veränderten Regelwerk die Rahmenbedingungen festlegt. Wir alle können dazu beitragen: Indem wir uns in unseren jeweiligen Rollen (als Bürger, Konsument, Arbeitnehmer oder Unternehmer) für Veränderungen und Systemanpassungen einsetzen. Gemeinsam hin zu einem System, welches alle drei Kapitalstöcke berücksichtigt.