«Ansprechen, bevor das Mitgefühl sinkt»

Volatil, unsicher, komplex und durch Ambiguität geprägt – kurz: VUKA – ist das Um-feld, in dem Chefs und ihre Mitarbeitenden agieren müssen. Nicht überraschend vor diesem Hintergrund ist eine Häufung von gesundheitlichen Folgen. Im Vordergrund stehen dabei psychische Erkrankungen, die sich höchst unterschiedlich auswirken.

«Ansprechen, bevor das Mitgefühl sinkt»

 

 

Mitarbeitende können auf unterschiedliche Weise zu einem «Risiko» werden: Der Ext-remfall ist wohl, wenn Mitarbeitende zu einer Bedrohung für Kollegen oder Vorgesetzte werden – aus welchen Gründen auch immer. Frustration, Mobbing, drohender Stellenab-bau oder vergleichbare Stress-Situationen bei der Arbeit bilden den Nährboden für unvor-hersehbare Eskalationen. Aber auch private Probleme können zu Stress und Überlastung am Arbeitsplatz führen und schliesslich in ei-ner Depression oder anderen psychosomati-schen Symptomen gipfeln. Und wo keine psy-chischen Erkrankungen vorliegen, ist es am Schluss vielleicht ein Unfall, der infolge Über-müdung auftritt. Insgesamt keine neuen Phä-nomene, könnte man meinen. Aber die Vola-tilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambi-guität (VUKA) haben im Zuge der Digitalisie-rung zugenommen und sorgen für höhere Fallzahlen.

Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen nehmen zu
Immer mehr Arbeitnehmende werden auf-grund von psychischen Erkrankungen arbeits-unfähig erklärt. Gemäss Dr. Niklas Baer von der Psychiatrie Baselland sind 75 Prozent der psychisch Erkrankten erwerbstätig. Etwa je-der fünfte Mitarbeitende hatte schon mal psy-chische Probleme. So jedenfalls lautet ein Er-gebnis einer Umfrage, die eine von Niklas Baer geleitete Forschergruppe durchgeführt hat. Typisch für psychisch Erkrankte: Sie zeigen Probleme bei der Zuverlässigkeit und im Sozi- alverhalten. Zwar werden psychisch Erkrank-te weniger häufig krankgeschrieben als rein körperlich Erkrankte, die Krankschreibungen dauern aber aufgrund der diffusen Krank-heitsbilder und ihrem schwer einschätzbaren Verlauf länger. Nicht wenige Betroffene wer-den dann ein Fall für die Invalidenversiche-rung. Das muss nicht zwingend auf «medizini-schem Weg» passieren: Auch Arbeitgeber ha-ben seit 2008 die Möglichkeit, einen betroffe-nen Mitarbeitenden bei der IV zu melden – dessen Einverständnis vorausgesetzt. Die IV verfügt über Instrumente für die Frühinter-vention, um Mitarbeitende möglichst lange arbeitsfähig zu behalten. Denn später sind Wiedereingliederungsmassnahmen in die Ar-beitswelt nur noch selten erfolgreich, nur bei etwa 25 Prozent gelingt dies.

Prävention als Führungsaufgabe
Umso wichtiger ist es, psychische Krankhei-ten möglichst früh zu erkennen; einmal mehr ist auch hier Prävention der Schlüsselbegriff. Und eine entscheidende Rolle dabei müssen die Führungskräfte spielen. Wobei: Diese ste-hen ebenfalls immer mehr unter Druck ihrer Aufgaben. An einer Tagung von SIZ Care AG, einem auf Gesundheits- und Absenzenmana-gement sowie auf Betreuung und Reintegrati-on arbeitsunfähiger Personen spezialisiertes Unternehmen, sprach Prof. Dr. Wolfgang Je-newein über das Thema «Führung im Wan-del». Wie massiv dieser Wandel ist, zeigte er anhand der Tatsache, dass Manager heute im Schnitt 4,32 Minuten an einer Aufgabe arbei-ten, vor zehn Jahren waren es noch 12 Minu-ten. Darunter leide auch die Führungsfähig-keit, so Jenewein. Ein Grossteil der Fehlzeiten innerhalb von Teams habe seine Ursache in den Chefs. «Jeder Chef hat die Fehlzeiten, die er verdient», so ein Zwischenfazit von Wolf-gang Jenewein. Chefs müssten wieder mehr zu Coaches werden, weniger als Manager nur mit Daten und Fakten arbeiten, sondern mehr als Leader mit Gefühl. «Chefs müssen vom Puppenspieler zum Expeditionsleiter werden», so eine Empfehlung Jeneweins.

Resilienz trainieren
Auf der anderen Seite ist mehr Resilienz ge-fragt, sowohl bei Mitarbeitenden wie auch bei Führungskräften. Resilienz, also die Fähig-keit, sich nach schwierigen Phasen wieder aufrappeln zu können, wird immer mehr zu einer Kernkompetenz in der VUKA-Welt. Und im Zunehmen begriffen sind auch Ange-bote, um diese Fähigkeit zu trainieren. Eine solche Resilienz-Trainerin ist Claudia Kraaz, die ebenfalls an der erwähnten Tagung von SIZ Care AG als Referentin auftrat. Dort wies sie insbesondere auf die Stärkung der Resili-enz als Führungsaufgabe hin. Führungskräfte müssen Mitarbeitende befähigen und stär-ken, indem sie besser das «Was» vorgeben und nicht das «Wie». Verstärkt gelte es, Mitarbei-tende in Sachen Stress-Kompetenz auszubil-den. Doch dies ist nur die eine Seite: Vor allem die positive Wertschätzung, die Führungs-kräfte ihren Mitarbeitenden entgegenbrin-gen, trägt viel zur Stressprävention bei. Es gel-te, so Claudia Kraaz, Kritik konstruktiv anzu-bringen. Und eine besonders wichtige Eigen-schaft von Führungskräften sei die Fähigkeit zuzuhören. Auf keinen Fall dürfen Chefs ein-fach den Druck weitergeben: «Führungskräf-te müssen Druck aushalten können. Immer-hin werden sie auch dafür besser bezahlt», so Claudia Kraaz.

Rechtzeitig das Gespräch suchen
Wie lassen sich Szenarien wie die eingangs erwähnten also verhindern? Wenn sich etwa das Verhalten eines Mitarbeitenden am Ar-beitsplatz verändert oder sich Kollegen darü-ber beklagen, sollten Vorgesetzte reagieren. Richtigerweise sollte dann das Gespräch mit den Betroffenen gesucht werden, bevor eine emotionale Belastung sich vollends zu einer Erkrankung entwickeln kann oder die Lage anderweitig eskalieren lässt. «Ansprechen, bevor das Mitgefühl sinkt», sagt dazu Psycho-loge Niklas Baer. Er weiss: «Früherkennung ist in der Regel kein Problem, aber das Gespräch zu suchen umso mehr. Chefs wollen helfen, haben aber Hemmungen, prägnant zu inter-venieren.» Eine solche Intervention kann et-wa darin bestehen, Mitarbeitende, die Anzei-chen eines Burnouts zeigen, rechtzeitig zu entlasten. Hilfreich sind in einem solchen Fall wirksame Stellvertretungs-Regelungen – oh-ne aber dadurch neues Potenzial für Überlas- tungen in einem Team zu kreieren. Zusätzli- che Ressourcen zu schaffen kostet in der Re- gel Geld. Doch es gilt abzuwägen, was letzt-  lich teurer ist: Die Augen davor zu verschlies­ sen und erst dann aufzuwachen, wenn Fehl- zeiten ein nicht mehr tolerierbares Ausmass angenommen haben.

 

(Visited 158 times, 1 visits today)

Weitere Artikel zum Thema