Agile Prüfplanung

«Prüfungen kosten Geld und sind nicht wertschöpfend » – aber erforderlich, um die Produkt- und Prozessqualität abzusichern. Doch wie lassen sich Qualitätsprüfungen entlang des gesamten Produktentstehungsprozesses besser planen, um etwa Prüfaktivitäten in der Serienproduktion zu reduzieren? Die Softwareentwicklung gibt interessante Antworten.

Agile Prüfplanung

 

 

 

 

Die Prüfplanung wird in verschiedenen Normenwerken, unter anderem in der VDI-Richtlinie 2619 und der DIN 55350, als die Planung von Qualitätsprüfungen definiert. Dabei wird darauf hingewiesen, dass Qualitätsprüfungen verschiedene Zielobjekte wie z. B. produzierte Bauteile, aber auch Prozesse oder Prototypen haben und zu verschiedenen Zeitpunkten im Produktentstehungsprozess durchgeführt werden können. Dennoch hat sich in der Industrie das Verständnis gefestigt, dass die Prüfplanung die Planung und Definition von Produkt- und Prozessprüfungen in der Produktionsphase fokussiert. Folglich wird die Prüfplanung häufig mit der Gestaltung von Qualitätssicherungsprozessen in der Produktion gleichgesetzt. Dieses traditionelle Verständnis engt jedoch den Betrachtungsraum für effiziente Qualitätsprüfungen zu stark ein, wie im Folgenden gezeigt wird.

Herausforderungen der Prüfplanung

 

Produzierende Unternehmen stehen in der heutigen Zeit vor einer Vielzahl an Herausforderungen, die auch Einfluss auf die Prüfaktivitäten zur Absicherung der Produkt- und Prozessqualität haben. Beispielsweise besteht ein anhaltender Trend darin, dass die Komplexität von Produkten kontinuierlich zunimmt. Dies trifft insbesondere auf mechatronisch geprägte Branchen zu. Diese vereinen Entwicklungsergebnisse unterschiedlicher Fachdisziplinen in ihren Produkten. Dabei ergeben sich durch das komplexe Zusammenspiel einzelner Baugruppen oder Module neue Fehlerquellen, welche die Produktqualität beeinträchtigen können und deren Risiken folglich im Rahmen von Qualitätsprüfungen abzusichern sind.

 

Allerdings steht die Prüfplanung für mechatronische Produkte vor der Herausforderung, dass konventionelle Prüfungen in der Produktion diverse Fehlerquellen oftmals nicht oder nur mit hohem Aufwand absichern können. Für diese Problemstellung stellen Qualitätsprüfungen in früheren Phasen der Produktentstehung eine geeignete Lösung dar. Durch die Planung einer frühzeitigen Begutachtung der Produkt- und Prozessqualität in Form einer Verifikation lassen sich beispielsweise Risiken bereits vor der Produktionsphase absichern und somit kostspielige Prüfungen in der Serie vermeiden.

 

Eine weitere Herausforderung stellt die Definition einer umfassenden Prüfstrategie dar. Diese legt fest, welche Prüfaktivitäten über den gesamten Produktentstehungsprozess im Unternehmen eingesetzt und aufeinander abgestimmt werden. Die Vielzahl an erforderlichen bzw. möglichen Prüfansätzen im Lebenszyklus des Produktes wie entwicklungsbegleitende Verifikation, produktionsnahe Qualitätssicherung, Requalifizierung, Produkt- oder Prozessaudit erfordert eine wirtschaftliche Abstimmung von Produkt- und Prozessprüfungen, welche in einer unternehmensspezifischen Prüfstrategie festgehalten wird. Viele Unternehmen nutzen diesen Ansatz zur Verzahnung der Prüfaktivitäten entlang des Produktentstehungsprozesses unter anderem aufgrund der hohen Komplexität noch nicht oder oft nur unzureichend.

Handlungsbedarf nimmt zu

 

Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass die Absicherung der Produktqualität durch entsprechende Qualitätsprüfungen und damit die Prüfplanung zunehmend an Bedeutung gewinnt. Gleichzeit liefert eine Prüfplanung, die nur auf die Planung von Qualitätsprüfungen in der Produktionsphase gerichtet ist, zu wenige Ansatzpunkte, um die Herausforderungen bewältigen zu können. Beispielsweise bleibt eine systematische Planung von Qualitätsprüfungen insbesondere in den frühen Phasen des Produktentstehungsprozesses weitgehend unberücksichtigt. Die Verlagerung von Qualitätsprüfungen in andere Phasen der Produktentstehung lässt dabei grosses Optimierungspotenzial erkennen. So können durch eine geeignete funktionale Absicherung von Erzeugnissen in der Produktentwicklungsphase kostenintensive Prüfungen in der Produktion vermieden werden.

 

Ziel einer modernen und effizienten Prüfplanung ist es daher, verschiedene Möglichkeiten zur Qualitätsprüfung über den gesamten Produktenstehungsprozess gezielt zu nutzen, um den Gesamtaufwand für die Absicherung der Produkt- und Prozessqualität zu minimieren. Hier lassen sich insbesondere in den frühen Phasen der Produktentstehung verschiedene Ansatzpunkte identifizieren, mithilfe derer eine frühzeitige Qualitätsprüfung durchgeführt werden kann.

Erweitertes Prüfplanungsverständnis

 

Um die Potenziale von Qualitätsprüfungen in verschiedenen Phasen der Produktentstehung aufdecken zu können, ist eine Aufweitung des Verständnisses und des Betrachtungsbereichs der Prüfplanung erforderlich. Dabei ist es sinnvoll, den Anwendungsbereich von Qualitätsprüfungen von der Produktion auf angrenzende Phasen des Produktlebenszyklus zu übertragen. Hierdurch lassen sich für die Unternehmen weitere Stellhebel identifizieren, mit denen effiziente Qualitätsprüfungen entlang des gesamten Produktentstehungsprozesses durchgeführt werden können. Diese Aufweitung des Betrachtungsbereichs ist schematisch in Grafik 1 dargestellt.

Prüfplanung in der Softwareentwicklung

 

Bei der Aufweitung des Betrachtungsraums und der daraus folgenden erweiterten Definition einer modernen, ganzheitlichen Prüfplanung bietet das Gebiet der Softwareentwicklung vielversprechende Ansätze und Parallelen. Ausgangspunkt ist dabei die allgemeine Vorgehensweise zur Softwareentwicklung nach dem V-Modell, siehe Grafik 2.

 

So wird das zu entwickelnde Produkt (in diesem Fall die Software) im Entstehungsprozess, basierend auf den gesamten Anforderungen, hierarchisch in geeignete Strukturebenen gegliedert und in einzelnen Einheiten entwickelt. Durch entsprechende Spezifikationen wird das zu entwickelnde Produkt auf den einzelnen Ebenen definiert und es werden die zugehörigen qualitätsrelevanten Merkmale festgelegt. Zur Prüfung und Absicherung dieser Spezifikationen können dabei für die einzelnen Ebenen geeignete Qualitätsprüfungen definiert werden. Diese haben die Aufgabe, die jeweilige Ebene bei der Integration des Produktes abzusichern. Somit kann entwicklungsbegleitend eine Prüfplanung durchgeführt werden, bei der die jeweilige Qualitätsprüfung losgelöst von einzelnen Phasen im Produktentstehungsprozess zu betrachten ist. Beispielsweise können für jede Ebene Verifikationstests in der Entwicklungsphase, Untersuchungskriterien für die Prototypenphase oder Verbauprüfungen in der Serienphase definiert werden.

 

Die Vorgehensweise zur Entwicklung von Produkten nach dem V-Modell wurde bereits bei der Entwicklung von mechatronischen Produkten adaptiert. Die verbreitete VDI-Richtlinie 2206 stellt eine Entwicklungsmethodik für mechatronische Produkte vor, welche die Reifeentwicklung eines Produktes oder Prozesses ebenfalls anhand von durchlaufenen VZyklen beschreibt. Die Planung von Qualitätsprüfungen erfolgt im Zuge der in der Richtlinie definierten ebenenspezifischen Eigenschaftsabsicherung. Somit ist bei der Vorgehensweise die Prüfplanung prinzipiell losgelöst von einzelnen Phasen des Produktentstehungsprozesses.

Von der Softwareentwicklung lernen

 

Ein methodischer Ansatz, der in der Abteilung Produktmanagement am Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen verfolgt wird, sieht die Übertragung von Konzepten und Vorgehensweisen aus dem V-Modell der Softwareentwicklung auf die Prüfplanung von Produkten aus unterschiedlichen Branchen vor. Dabei soll insbesondere der Gesichtspunkt genutzt werden, dass bei der Entstehung der Software entwicklungsbegleitend eine Prüfplanung durchgeführt werden kann, welche die Planung von Qualitätsprüfungen in unterschiedlichen Phasen des Entstehungsprozesses zulässt. Somit kann sowohl für jede Ebene als auch für die Integration des Produktes zu höheren Ebenen ein Bedarf an erforderlichen Qualitätsprüfungen identifiziert werden. Anschliessend lassen sich unterschiedliche Möglichkeiten an Prüfaktivitäten zur Absicherung der Spezifikationen in verschiedenen Phasen (Entwicklung, Prozessplanung, Produktion) feststellen und eine geeignete Kombination an Prüfmassnahmen auswählen. Demzufolge wird eine breite Entscheidungsgrundlage für aufeinander abgestimmte Qualitätsprüfungen entlang des gesamten Produktentstehungsprozesses geschaffen.

 

Zur Übertragung der Prüfplanungskonzepte aus dem V-Modell auf die Produktentstehung in verschiedenen Branchen lassen sich einige Voraussetzungen definieren. Zunächst ist eine klare und strikte hierarchische Strukturierung des Produktes erforderlich. So lassen sich zum einen ebenenspezifische Qualitätsprüfungen zur Absicherungen der Produktspezifikationen für einzelne Module und Komponenten formulieren. Zum anderen können für die Integration einer Produktebene beim Zusammenbau zugehörige Risiken klar identifiziert und mit entsprechenden Integrationsprüfungen abgesichert werden.

 

Des Weiteren ist das Arbeiten mit klaren und prüfbaren Produktspezifikationen eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Übertragung der Konzepte. Ein charakteristisches Kriterium in der Softwareentwicklung stellt die Forderung dar, dass aufgesetzte Spezifikationen testbar gestaltet sein müssen. Folglich ist im Produktentstehungsprozess zu berücksichtigen, dass bei der Definition von Produktspezifikationen die Prüfbarkeit beachtet wird. Nur so lassen sich verschiedene Stellhebel identifizieren, mithilfe deren verschiedenartige Prüfaktivitäten definiert werden können.

 

Unternehmen, welche ihre Produkte nach dem V-Modell entwickeln und folglich ihr Produkt im Entstehungsprozess streng hierarchisch strukturieren, haben die Möglichkeit, ein klares Bild der abzusichernden Spezifikationen zu erhalten und phasenübergreifende Massnahmen zur Qualitätsprüfung zu definieren, die insbesondere unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten aufeinander abgestimmt werden können, um den Gesamtaufwand an Prüfungen im Produktentstehungsprozess zu reduzieren.

 

Das Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen bearbeitet industrienahe Forschungsprojekte zum Themenfeld der Prüfplanung. Sollten Sie als Unternehmen an einer Zusammenarbeit in diesem Gebiet interessiert sein, freuen wir uns auf Ihre Kontaktaufnahme.

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