«… dann ist Agilität der falsche Ansatz»
Die St. Galler Digitalagentur Namics wurde 1995 gegründet. Unterdessen zählt das Unternehmen 550 Mitarbeitende an den Standorten St. Gallen, Zürich, Frankfurt, München, Hamburg und Belgrad. Kürzlich wurde Namics von der Agenturgruppe Dentsu Aegis Network übernommen und wird damit Teil der Dentsu-Tochter Merkle. In dieser neuen Konstellation sehen sich die Verantwortlichen noch besser aufgestellt für neue Märkte.
Der kürzlich erfolgte Verkauf der Namics AG stand im Gespräch mit deren COO Michael Pertek weniger im Zentrum. Viel mehr weiss er zu berichten, wie die Digitalisierung die Führung verändert – oder eben auch nicht. Denn trotz Daten, Automatisierung oder Deep Learning muss der Mensch im Mittelpunkt bleiben.
Herr Pertek, das Thema «Führung im digitalen Wandel» lässt den Schluss zu: Alles wird neu? Oder anders gefragt: Was verändert der digitale Wandel an der Führung eines Unternehmens?
Michael Pertek: Da wir seit bald 25 Jahren als Unternehmen das «Digitale» in unserer DNA haben und entsprechend aufgestellt sind, ist diese Frage für andere nicht einfach zu beantworten. Wir sind seit unserer Gründung digital. Was wir aber feststellen, ist, dass sich der Wandel auch bei uns beschleunigt hat. Wir leben in einem Prozess der kontinuierlichen Verbesserung und Veränderung. Früher lief auch bei uns vieles standortbezogen: Man traf sich zu Sitzungen und legte dort Ziele und Aufgaben fest. Das hat sich verändert, kommuniziert wird standort-übergreifend. Mit verändert hat sich entsprechend auch die Führungsbeziehung. Führung im digitalen Wandel funktioniert dann gut, wenn sich die Menschen gut kennen. Das ist etwas, was nicht nur für uns bei Namics gilt, sondern wohl für alle Unternehmen.
Wie lässt sich allenfalls der eigene Nachholbedarf betreffend «Führung im digitalen Wandel» erkennen?
Durch die Bereitschaft zur Veränderung und den Willen, Bestehendes zu hinterfragen. Bei uns sind es jeweils die neuen Mitarbeitenden, welche uns helfen, blinde Flecken zu finden. Das ist ein Virus im positiven Sinne der «digital natives» bzw. der Generation Y. Menschen werden sich auch in Zukunft führen lassen, aber sie wollen verstärkt eine Sinnhaftigkeit hinter ihrer Arbeit sehen.
Was müssen Unternehmen anders machen?
In der Zusammenarbeit mit uns müssen Unternehmen zunächst gar nichts anders machen – denn wir sind ja der Dienstleister, der sich den Bedürfnissen und Gegebenheiten der Kunden anpasst. Aber in jedem Fall gilt: Man muss sich einig sein darin, auf Augenhöhe miteinander zusammenarbeiten zu wollen. Denn in Kundenprojekten greifen wir zuweilen stark in Prozesse ein, wo es um viel Veränderung geht. Da geht es um Fragen rund um Agilität und um die Methodik. Und dies alles muss zu Beginn geklärt sein.
Stichwort Agilität: Welche Rolle spielt agile Führung denn?
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass man häufig dann von «agil» spricht, wenn man noch gar keine klare Vorstellung von einem Ziel hat. Agil heisst ja, in Bewegung zu sein. Wenn Kunden aber eine klare Vorstellung haben, was, wann und wie sie mit uns ein Ziel erreichen wollen, muss man nicht agil sein. Viele Kunden von uns haben eine klare Vorstellung davon, was sie mit uns erreichen wollen. Da wäre Agilität der falsche Ansatz.
«Heute muss man sich durch exzellente Führung differenzieren.»
Dann müssen Unternehmen heute gar nicht immer so «agil» sein?
Eine agile Methode bedeutet nicht, dass man ohne Zielsetzung auskommen kann. Mit Agilität, denke ich, ist viel mehr die Haltung gemeint, Methoden und Vorgehen zu hinterfragen, um neue, innovative Ergebnisse zu erzielen. Heisst, bekannte Pfade zu verlassen und bewusst neue, spürbare Veränderungen anzustossen.
Wir stehen vor der Situation, dass dank der Digitalisierung viele Prozesse automatisiert werden können. Welche Chancen erwachsen daraus für die Führung? Beispielsweise mehr Qualität, weil man mehr Zeit hat?
Führungskräfte benötigen heute noch mehr Soft Skills. Will heissen, wenn ich automatisiere und «Maschinen» die Arbeit übernehmen, so ist hier vorab ein zeitliches Investment zu leisten und das ist nicht zu unter-schätzen. Automatisierung effizient und wirkungsvoll zu gestalten, verlangt komplexe Inhalte und Prozesse – und das wiederum braucht Zeit. Somit ist der zeitliche Vorteil aus Führungsperspektive zumindest in Zweifel zu ziehen. Es ist viel mehr eine Verlagerung der Zeit: sie wird nun benötigt, um die Automatismen intelligent zu gestalten und die Menschen mit den entsprechenden Kompetenzen auszustatten.
Inwiefern müssen für einmal auch Mitarbeitende im Mittelpunkt stehen, nicht nur die Kunden?
Kurz: Wenn Mitarbeitende nicht im Mittelpunkt stehen, können wir die geforderte Qualität einer Dienstleistung gar nicht liefern. Die grosse Kunst besteht heute darin, das Wissen der Mitarbeitenden nutzbar zu machen. Und: Mitarbeitende müssen Freude an ihren Aufgaben haben, und daraus resultieren dann fast automatisch zufriedene Kunden.
Schön zu sehen, dass es trotz Digitalisierung nach wie vor um Menschen geht, nicht nur um Daten …
Daten bilden gleichwohl die neue Währung. Deren Wert entsteht aber nur durch das Wissen der Menschen. Daten bedeuten Macht. Ausspielen lässt sich diese Macht aber erst, wenn man weiss, wie man damit umgehen kann. Dafür ist letztlich der Mensch allein verantwortlich. Deshalb setzt etwa unsere neue Muttergesellschaft Merkle besonders stark auf die Entwicklung der Mitarbeitenden. Denn wir verkaufen kein Produkt; das Wissen unserer Mitarbeitenden ist unser höchstes Gut. Darum müssen wir vor allem in sie und ihre Weiterbildung investieren.
Und wie erleben Sie das Thema «Führung im digitalen Wandel» bei Ihren Kunden?
Es findet ein Paradigmenwechsel statt. Kein Unternehmen mehr kann es sich leisten, auf zentrale und sinnstiftende Führungsprinzipien zu verzichten. Heute muss man sich durch exzellente Führung differenzieren. Dinge wie Gehalt oder Sicherheit sind Hygienefaktoren, zentraler ist aber die Sinnhaftigkeit, die Führung heute vermitteln muss.
«Insgesamt haben wir den Anspruch, immer einen oder zwei Schritte voraus zu sein.»
Welche Rolle spielt das Thema Führung in Kundenprojekten?
Inwiefern steigt da der Beratungsaufwand? Das hat sich tatsächlich verändert. Früher bauten wir einfach Websites und Applikationen. Unser Wissen und unsere Fähigkeiten waren sehr stark auf Webtechnologien ausgerichtet. Heute geht es zusätzlich um komplettes Domain-Wissen, also um Wissen um Prozesse, Methoden, Branchen und Themen wie Commerce, CRM oder Digital Product und Service Design. Viele unserer Mitarbeitenden sind heute eigentliche Berater, weil sie sich mit Kundenproblemen auseinandersetzen müssen. Sie benötigen Verständnis für den Gesamtkontext eines Projekts, «nur programmieren » existiert als Aufgabe kaum mehr.
Wer ist also mehr gefragt: Generalisten oder Spezialisten?
Das Wissen, das wir von unseren Mitarbeitenden verlangen, entspricht etwa einer «T»- Form: Viele Kenntnisse in der Breite gekoppelt mit tiefem Spezialwissen in einem bestimmten Gebiet. Hier die richtige Mischung zu finden, ist schwer – aber ist eine Führungsaufgabe. Die Konstante liegt in der Breite, die Tiefe verändert sich.
Das bedeutet: Namics muss in Sachen Führung im digitalen Wandel hier auch mit gutem Beispiel vorangehen können?
Klar. Wir müssen ehrlich und transparent gegenüber unseren Kunden darlegen, wenn wir erst selbst etwas dazulernen müssen. Wenn wir im Rahmen eines Projekts uns in einen unbekannten Sachverhalt komplett neu reindenken müssen, soll letztlich der Kunde entscheiden, ob er das von uns will oder nicht. Doch insgesamt haben wir schon den Anspruch, immer einen oder zwei Schritte dem Markt und unseren Kunden voraus zu sein. Und unter dem Dach von Merkle geht das erst recht mit mehr Schwung? Ja, im Moment gibt es sehr viel Euphorie und viele Anknüpfungspunkte. Unser Kerngeschäft ist «Fullservice». Aufgrund neuer Technologien, Kundenanforderungen und Business Challenges wird sich das in den nächsten Jahren aber kontinuierlich weiterentwickeln – gerade mit den neuen Fähigkeiten von Merkle werden wir uns noch stärker in Richtung «Fullservice» verändern. Namics steht seit Jahren für herausragende User Experience über alle Touchpoints hinweg. Dank Merkle bringen wir dieses Know-how nun mit Personal Data und People Based Marketing zusammen. Auf der anderen Seite ist es auch unser Anspruch, Merkle weiterzubringen und gleichzeitig von neuen Marktzugängen zu profitieren.