KI-Entwicklung hat ihren Kipp-Punkt erreicht

Künstliche Intelligenz ist mit ChatGPT definitiv im Consumer-Bereich angekommen. Es offenbaren sich nun endgültig die Chancen der Technologie – aber auch die Gefahren, wenn sie in falsche Hände gerät. Dazu ein neuer Kommentar von Andrea Wörrlein, Geschäftsführerin von VNC.

Künstliche Intelligenz hat das Zeug, alles auf den Kopf zu stellen. Andrea Wörrlein sieht den Kipp-Punkt der KI gekommen. (Bild: VNC)

Wir erleben gerade so etwas wie die Zündung der zweiten Stufe von Künstlicher Intelligenz. Mit dem spektakulären Auftauchen von ChatGPT ist sie im Konsumentenbereich angekommen: KI ist jetzt für jedermann nutzbar. Damit hat sie ein Stadium erreicht, das typisch ist für die Adaption wegweisender Technologien. Das Auto erlebte den Durchbruch zum massentauglichen Vehikel vor rund 100 Jahren durch die Erfindung des Anlassers und Henry Fords Fliessbandproduktion, der Computer wurde Anfang der neunziger Jahre dank Gordon Moores berühmtem Gesetz durch die Verfügbarkeit immer kleinerer, leistungsfähigerer und günstigerer Bauteile zum privaten Konsumartikel. Und jetzt also KI.

Am Kipp-Punkt angekommen

Autokraten, Militärs, Geheimdienste und Tech-Konzerne scharren verzückt mit den Hufen und träumen von ungeahnten Machtoptionen und Gewinnmargen. Das mag ihr Job sein, unser Job ist es ganz sicher, ihnen dabei auf die Finger zu schauen – und notfalls kräftig drauf zu klopfen. Denn in einem Punkt haben sie ja Recht: Künstliche Intelligenz hat das Zeug, alles auf den Kopf zu stellen. Der in den letzten Jahren so inflationär gebrauchte Begriff der „Disruption“ beschreibt nicht annähernd ihre innovative Sprengkraft. Die Frage ist, ob wir das mit uns machen lassen. In seinem jüngsten Buch beschreibt der Politologe Herfried Münkler, emeritierter Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin, die größte Gefahr für freiheitliche Demokratien: wachsende Passivität, Indifferenz und Desinteresse der Bevölkerung am politischen Prozess. Das gilt fatalerweise auch für den kritischen Umgang mit neuen Technologien – und endet eben in Fatalismus. Wenn selbstorganisierende Drohnenschwärme per Face Recognition auf Menschenjagd gehen, ist es zu spät, dann gibt es kein Zurück mehr.

KI: Der feuchte Traum jedes Potentaten

KI hat das Potenzial, sich zum wohl grössten Anschlag auf die individuelle Freiheit zu entwickeln, so wie wir sie seit Ende des 2. Weltkriegs erleben durften. Die Bändigung und Fesselung des Krieges ist spätestens seit der ersten Atombombe zu einer im wahrsten Sinne des Wortes existentiellen Menschheitsaufgabe geworden. Genauso wenig darf die Kontrolle der KI-Entwicklung und -Anwendung den IT-Experten, Militärs und Konzernen, also dem vermeintlich freien Spiel der Kräfte und Märkte mit ihrer hypertrophen Eigendynamik überlassen werden. Dafür steht viel zu viel auf dem Spiel. Wir würden ein hungriges Löwenrudel ja auch nicht über ein Verbot der Gazellenjagd entscheiden lassen. Despektierlich formuliert: KI ist der feuchte Traum jedes Potentaten. Es geht wie gesagt um nicht weniger als unsere Freiheit und Selbstverantwortung als Individuen. Zugegeben, es wäre das erste Mal in der Geschichte, dass eine neue Technologie nicht pervertiert würde. Aber wenn wir den Optimismus nicht mehr hätten, diesen Knoten endlich einmal zu durchschlagen, dann könnten wir uns den Sklavenring auch gleich selbst anlegen. Technik hat den Menschen zu dienen, nicht umgekehrt.

Hilflos der Dynamik ausgeliefert?

Das Bedrückendste an der aktuellen Situation ist vielleicht die Hilflosigkeit, mit der wir ihrer Dynamik gegenüberstehen. Welchen Effekt soll das von der KI-Expertengruppe rund um Elon Musk geforderte Moratorium haben? Sechs Monate Zwangsurlaub für Entwickler? Und was soll in der Zwischenzeit passieren? Weder Despoten noch gierige Konzerne werden sich davon aufhalten lassen. Und von der Politik dürfen wir keine Hilfe erwarten. Wer selbst die Deutschland-Cloud (Gaia-X) zur totgeschwiegenen Lachnummer verkommen lässt, hat seine Unfähigkeit in Sachen IT hinreichend dokumentiert. Und selbst wenn, was könnte die Schweiz, Deutschland oder Europa schon ausrichten? Wir sind ja bereits meilenweit abgehängt und hecheln lieber kurzatmig hinterher. Ein düsteres Szenario.

Autorin:
Andrea Wörrlein ist Geschäftsführerin von VNC in Berlin und Verwaltungsrätin der VNC AG in Zug. VNC ist ein globales Software-Unternehmen, das Open-Source-basierte Anwendungen für die Kommunikation und Kollaboration in großen Unternehmen entwickelt. 

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