Trends der Fertigungs-IT 2023: Resiliente Produktion
Resilienz ist ein Begriff, der immer häufiger im Kontext mit Industrie 4.0 genannt wird. Schliesslich ist dieses Handlungsfeld neben der Nachhaltigkeit und der Interoperabilität ein wichtiges Thema für produzierende Unternehmen. Aber was steckt hinter diesem Buzzword und was bedeutet es für die Fertigungs-IT?
Der Begriff Resilienz ist zunächst aus dem Umfeld des Stressmanagements geläufig: Ein resilienter Mensch kann gut mit Stress und Krisen umgehen, er findet schnell wieder zu seinem Gleichgewicht zurück und kann so weiterhin agieren und reagieren. Einfach gesagt, kann ein resilienter Mensch gut mit Störungen umgehen. Doch was bedeutet der Begriff im Zusammenhang mit Produktionsprozessen? Und was hat er mit der Fertigungs-IT zu tun?
Resilienz und Industrie 4.0
Auch im Umfeld der Industrie 4.0 gehört Resilienz mittlerweile zu den Top-Themen. In einem Whitepaper der Plattform Industrie 4.0 wird Resilienz wie folgt definiert: „Unternehmerische Resilienz ist die Eigenschaft eines Unternehmens, externen Schocks oder Verwerfungen der sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Rahmenbedingungen standzuhalten und sich an neue Bedingungen anzupassen.“ Dazu sortiert das Whitepaper verschiedene Massnahmen einerseits in die strategischen Handlungsfelder des „Leitbild 2030 der Plattform Industrie 4.0“ ein. Andererseits werden sie den drei Wirkphasen Vorbereitung, Milderung und Anpassung zugeordnet.
Resilienz bedeutet in der Industrie also, dass Fertigungsunternehmen Vorbereitungen treffen, um widerstandsfähiger zu sein. Im Falle einer Störung sollten die Auswirkungen möglichst milde sein. Außerdem gilt es, sich mögliche Anpassungen zu überlegen, um mit geänderten Umständen besser umzugehen. Damit schließt sich der Kreis, denn die letztgenannten Anpassungen bilden die Ausgangslage, um sich auf neue Störungen vorzubereiten. Auf die Unterscheidung nach den strategischen Handlungsfeldern (laut Leitbild 2030 der Plattform Industrie 4.0: Nachhaltigkeit, Interoperabilität und Souveränität) wird später noch einmal eingegangen.
Flexibilität und Wandlungsfähigkeit
Um Resilienz im Umfeld von Industrie 4.0 besser zu verstehen, ist es sinnvoll, zwischen Flexibilität und Wandlungsfähigkeit zu unterscheiden:
- Flexibilität bedeutet, dass ein Unternehmen oder eine Produktion kurzfristig und vorübergehend auf Störungen oder Anforderungen reagieren kann. Nach einer gewissen Zeit normalisiert sich die Situation wieder.
- Wandlungsfähigkeit hingegen meint, dass sich die Produktion dahingehend verändern kann, um langfristig und dauerhaft mit den neuen Bedingungen umgehen zu können.
Resilienz benötigt beide Fähigkeiten, Flexibilität und Wandlungsfähigkeit. Die Methoden unterscheiden sich je nach Fähigkeit. Daher ist es wichtig, frühzeitig zu erkennen, wie man reagiert: flexibel oder wandlungsfähig – also kurzfristig und vorübergehend oder langfristig und dauerhaft. Ein Beispiel: Auf den Ausfall einer erwarteten Lieferung sollte ein Unternehmen flexibel reagieren – auf die Insolvenz eines wichtigen Lieferanten oder den Ausfall einer Lieferroute eher wandlungsfähig.
Exkurs: Matrixproduktion
Abseits der Resilienz ist die Matrixproduktion ein weiterer Trend der Industrie 4.0, der signifikante Auswirkungen auf die Fertigungs-IT hat. Laut der Expertise des Forschungsbeirats der Plattform Industrie 4.0 „Umsetzung von cyber-physischen Matrixproduktionssystemen“ zeichnen sich solche Systeme „durch einen modularen Aufbau, eine flexible Steuerung und Verkettung der Produktionsressourcen sowie eine hohe informationstechnische Vernetzung aus.“ Hierbei spielen sowohl Flexibilität als auch Wandlungsfähigkeit eine essenzielle Rolle, da es einerseits kurzfristige Anforderungen als auch langfristige Planänderungen gibt. Das genannte Dokument führt darüber hinaus den Begriff der Rekonfigurierbarkeit ein. Dieser beschreibt die Fähigkeit, dass sich ein Produktionssystem beliebig innerhalb des Wandlungskorridors (vgl. Wandlungsfähigkeit) bedarfsgerecht umgestalten lässt. In einer Matrixproduktion werden die Fähigkeiten, die die Resilienz unterstützen, proaktiv genutzt, um die verfügbaren Ressourcen effizienter einzusetzen. Somit profitiert eine Matrixproduktion von der Resilienz.
Ein Beispiel: Im Gegensatz zu einer Produktionslinie lassen sich in einer Matrixproduktion bewusst Änderungen herbeiführen, um kurzfristig andere Produkte oder Produkte in anderen Losgrössen herzustellen – entweder vorübergehend oder dauerhaft.
Nachhaltigkeit, Interoperabilität und Souveränität
Resilienz baut auf die drei strategischen Handlungsfelder Nachhaltigkeit, Interoperabilität und Souveränität auf. Nachhaltigkeit geht dabei weit über den sparsamen Umgang mit Ressourcen hinaus. Vielmehr beinhaltet es alles, was dafür nötig ist, dass überhaupt produziert werden kann. Insbesondere die Rolle des Menschen sowie die Bildung und Arbeitsorganisation sind hierbei von Bedeutung. Interoperabilität meint sowohl das Zusammenwirken von verschieden (IT-)Systemen als auch Standardisierung entlang von Lieferketten. Und Souveränität umfasst neben der Versorgungssicherheit auch Themen der IT-Security sowie die Entwicklung neuer Technologien. Auch wenn das alles grosse Worte sind, gibt es doch viele Ansatzpunkte für die Fertigungs-IT. Konkrete Beispiele verdeutlichen dies.
Beispiele der Fertigungs-IT im Handlungsfeld Nachhaltigkeit:
- Das Energiemanagement der Fertigungs-IT erfasst Verbräuche aller Art und macht den Energieverbrauch planbar. Dadurch können Störungen von aussen schneller in Planänderungen umgesetzt werden. Außerdem sorgen gezielte Sparmassnahmen dafür, dass sich Kostensteigerungen möglichst gering auf die Produktionskosten auswirken.
- Die Werkerführung im Rahmen von Montageprozessen sorgt dafür, dass auch ungelernte Mitarbeitende schnell eingearbeitet werden. Dies wiederum ist eine gute Maßnahme, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Auf der Seite der Prozessmodellierung in der Montage sorgen Low-Code und No-Code dafür, dass weniger Programmierer benötigt werden, an denen es auf dem Arbeitsmarkt ebenfalls mangelt.
- Mittels qualifikationsbasierter Personaleinsatzplanung wird das Human Capital optimal genutzt. Gleichzeitig können die Fähigkeiten der Mitarbeitenden zeitgesteuert geprüft und gefördert werden.
Beispiele der Fertigungs-IT im Handlungsfeld Interoperabilität:
- Auf Basis offener Plattformansätze können Anwendungen unterschiedlicher Anbieter ganz einfach miteinander kombiniert werden. Dadurch entsteht ein lebendiges Ökosystem und die Abhängigkeit von einzelnen Anbietern wird deutlich reduziert. MPDV Mikrolab GmbH hat dafür die Manufacturing Integration Platform (MIP) entwickelt. Bereits mehr als 50 Anbieter haben sogenannte mApps für die MIP entwickelt, die beliebig miteinander kombiniert werden können.
- Funktionen der Fertigungs-IT zum Material & Inventory Management sorgen dafür, dass stets bekannt ist, wann welches Material benötigt wird und ob in der Fertigung bzw. im Lager ausreichend Material vorhanden ist. Dadurch können Störungen in der Lieferkette besser abgefangen werden.
Beispiele der Fertigungs-IT im Handlungsfeld Souveränität:
- Durch den Einsatz moderner Technologien wie Künstlicher Intelligenz holt die Fertigungs-IT das Maximum aus den eigenen Daten heraus. Somit können Fertigungsunternehmen Abweichungen früher erkennen und schneller darauf reagieren.
- Integriert man auch die Qualitätssicherung in die Fertigungs-IT, so kann dank der übergreifenden Nutzung von Qualitätsdaten eine ganzheitliche Lieferantenbewertung erfolgen. Ziel dabei ist es, mit alternativen Beschaffungsmöglichkeiten eventuelle Störungen in den Lieferketten ausgleichen zu können.
Fertigungs-IT: Gerüstet für die Zukunft
Letztendlich basiert Resilienz auf der Summe vieler Massnahmen und Methoden zur Vorbereitung, Milderung und Anpassung. Gleichzeitig hat ein breites Spektrum an Handlungsfeldern Einfluss auf die Resilienz der Produktion. Von Weitem betrachtet sieht es erst einmal nicht danach aus, als würde die Fertigungs-IT dafür eine wichtige Rolle spielen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Fertigungs-IT wirkt im Kleinen, hat in Summe aber eine grosse Wirkung auf das Ganze. Je nach Unternehmen sind es unterschiedliche Use Cases, die mehr oder weniger relevant sind.
Autor:
Markus Diesner ist Senior Marketing Specialist Products bei MPDV. Einen weiteren Artikel dieses Autors finden Sie hier.