Lektionen für Drachenreiter
Was ist China wirklich? Ein gigantischer Markt, der nur darauf wartet, von westlichen Unternehmen erschlossen und erobert zu werden? Oder ist eher umgekehrt China als hoch potenter Angreifer kraftvoll im Begriff, die westlichen Märkte aufzurollen?
Wer sicherer handeln will, muss mehr wissen. Wer sich vor Überraschungen schützen will, sollte sein Gegenüber ein wenig genauer kennen. Wies doch schon Cicero darauf hin: «Alle Weisheit beginnt mit der Erkenntnis der Tatsachen.» Und Tatsache ist, daran lässt Wolfgang Hirn, der Autor von «Der nächste kalte Krieg – China gegen den Westen», keinen Zweifel aufkommen: Das Heft des Handelns in Sachen Eroberung von Märkten hat China in der Hand, nicht der Westen
Konsequente Modernisierung
Wolfgang Hirn, seit über 20 Jahren Reporter beim Hamburger manager magazin, ist überzeugt und belegt es überzeugend: Die Welt steht vor einem zweiten Kalten Krieg: die neue Supermacht China gegen die alte, schwächelnde Supermacht USA mit ihren krisengeschüttelten Verbündeten in Europa und Japan. Der Konflikt wird auf allen denkbaren Feldern ausgefochten: Wirtschaft, Währung, Technologie, Kapitalmacht, Rohstoffe, Umwelt, Militär und nicht zuletzt über ideologische Fragen.
Während sich der Westen den Träumen von einer besseren und gerechteren Welt hingibt und diese erhoffte und ersehnte Welt durch die beschlagene Brille des Wünschens anschaut, arbeitet China zielstrebig und pragmatisch an der konsequenten Modernisierung des gigantischen Landes. Und stösst mit immen
Zielstrebig und pragmatisch.
sem Fleiss und wuchtiger Finanzkraft auf allen Gebieten und in alle Himmelsrichtungen vor. Auf den Punkt gebracht ist das die Botschaft des landeskundigen Autors. Und sie belegt: Das landläufig in den Medien gezeichnete ChinaBild ist korrekturbedürftig. Es wird weder der Realität noch dem Bedarf wirtschaftlicher Akteure gerecht. Diesbezüglich kommt eine Bemerkung des Direktors des Deutschen Instituts für Japanstudien in Toki, Florian Coulmas, in den Sinn: «Die nationalen Massenmedien filtern aus dem globalen Informationsangebot eine Geschichte heraus, die sie in den jeweiligen Diskurszusammenhang einbringen, womit sie die Erwartungen ihrer Konsumenten befriedigen und verstärken. Das wird vorerst so bleiben, denn die Bereitschaft, zu glauben, die Welt sei ein Dorf, ist im Zeitalter des Internets gross, und nur wenige Medienkonsumenten machen sich die Mühe, selbst nachzusehen, wie dieses Dorf ausserhalb des Ausschnitts aussieht, den ihre heimischen Nachrichtenmittel ihnen präsentieren.» (NZZ, 2. August 2011, Seite 15)
China handelt
Auch Urs Schoettli, ehemaliger langjähriger Korrespondent der NZZ in Hongkong, Tokio und Peking und heutiger Asien-Berater mehrerer Schweizer Unternehmen, mahnt in seinem aktuellen Buch «Die neuen Asiaten – Ein Generationenwechsel und die Folgen»: «China ist heute dran, die Weltspitze nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in den Wissenschaften zu erklimmen. Es ist dies erkennbar an der Qualität der Universitäten und Forschungsinstitutionen des Staates und der Industrie. Wie in Indien stehen in China Millionen von jungen Menschen bereit, die Fahne des Fortschritts zu ergreifen und damit gesellschaftliches Ansehen zu erringen. Europa sollte sich daran ein Vorbild nehmen!»
Auch Wolfgang Hirn betont das und verweist auf das Buch «The Coming Jobs War» von Jim Clifton, Chairman des Meinungsforschungsunternehmens Gallup. Darin macht Clifton die Rechnung auf, dass von den künftig fünf Milliarden Menschen über 15 Jahre drei Milliarden arbeiten oder arbeiten wollen, dass es aber nur für 1,2 Milliarden Vollzeitjobs gebe. Sein Schluss: Es wird einen grossen globalen Wettbewerb um die verfügbaren Jobs geben. Wer wird ihn gewinnen? Diejenigen, welche die beste Ausbildung haben. Und die Länder, die als Erste handeln. Lapidarer Kommentar von Hirn: China handelt.
Hohes Bildungsniveau
Das Ergebnis dieses Handelns kann sich sehen lassen. Als die Chinesen 2011 zum ersten Mal an einem PISA-Test teilnahmen, überraschte das Ergebnis die Öffentlichkeit, nicht aber die Experten. Die Schüler aus Shanghai schafften Spitzenwerte im Lesen,
Dynamisch und selbstbewusst
Rechnen und in den Naturwissenschaften – vor allen anderen westlichen Nationen der OECD. Was Hirn zu der Bemerkung veranlasst: «Statt in selbstgefälliger Überheblichkeit zu schwelgen, sollten die Verantwortlichen im Westen die Erfolge chinesischer Schüler und damit auch des dortigen Bildungssystems ernst nehmen.»
Doch es ist ja nicht nur diese irrig-blinde und selbstgefällig-belehrende Überheblichkeit, mit der der Westen bevorzugt auf China schaut, die den Chinesen in die Hände spielt. Noch viel mehr besorgt das hierzulande die wachsende Larmoyanz im Verein mit einer bedenklich abnehmenden Anstrengungsbereitschaft und Belastbarkeit der nachwachsenden Generation. Es mag seelisch erhebend sein, sich auf Kirchentagen mit Gleichgesinnten betend und singend für den Weltfrieden zu erschöpfen, ob das allerdings für die einzelne Lebensbahn die richtige Weichenstellung ist, darf gerade auch im Blick auf die Clifton-Untersuchung stark bezweifelt werden. Wer sich nur ein wenig in Geschichte auskennt, der weiss: Diese Welt ist kein auf Dauer heimeliger Ort für Traumtänzer.
Zukunftstechnologien
Und nur Traumtänzer können übersehen, dass China rasant aufholt. Hirn: «Die technologische Lücke zwischen dem Reich der Mitte und dem Westen wird kleiner und kleiner, auch wenn das viele im Westen nicht wahrhaben wollen… Geld und Köpfe – beides hat China nahezu im Überfluss. China pumpt Milliarden in Zukunftstechnologien.» Und «in den Elite-Unis des Landes wird durchaus kritisches Hinterfragen gefordert und gefördert.» Also etwas,
Geld und Köpfe im Überfluss
das in einem autoritären System Mangelware sei, wie die Kritiker des chinesischen Wissenschaftsbetriebes nicht müde werden anzumerken. Kreativität ist beileibe nichts, was allein westliche Länder auszeichnet.
Tatsache ist: Bei Patenten sind die Chinesen inzwischen Weltmeister. Schon 2010 haben sie die Tüftlernation Japan überholt, die zehn Jahre zuvor noch viermal so viele Patente entwickelte wie die Chinesen. 2011 zogen die Chinesen dann an den Amerikanern vorbei und sind damit die Nummer eins in der Welt. Genau 526’412 Patente meldeten die Chinesen im Jahre 2011 bei den Behörden an. «Es ist alles viel schneller passiert, als wir dachten», zitiert Hirn Robert Sternbridge, der bei dem Informationskonzern Thomson Reuters die weltweite Patentszene beobachtet. Und weist in diesem Zusammenhang die einschlägigen Kritiker mit einer Bemerkung von Andreas Kreimeyer, Vorstandsmitglied beim Chemiekonzern BASF, in die Schranken: Es komme eine ganze Welle von Patenten aus China, die «nicht nur Masse, sondern auch Klasse» seien.
Präziserer Blick
Kurz und gut, wer in die Lektüre dieses fundierten Buches Zeit investiert, hat sie gut investiert. In acht Kapiteln – Geld und Kapital; Wirtschaft; Bildung und Technologie; Umweltschutz; Rohstoffe; Ideologie; Aussenpolitik; Kampf um die Weltmacht – zeichnet Hirn ein China-Bild, das zuverlässig hilft, aufgrund der Kenntnis der Tatsachen ein wenig weiser im Blick auf und im Umgang mit China zu werden. Wie sagte doch der englische Philosoph, Staatsmann und Wissenschaftler Francis Bacon: «Einige Bücher muss man nur kosten, andere verschlingen und einige wenige durchkauen und verdauen.» Also dann, gesegnete Mahlzeit!