Aufbruch ins Fluide

Prof. Hans H. Hinterhuber, emeritierter Direktor des Instituts für Strategische Unternehmensführung der Universität Innsbruck und Chairman von Hinterhuber & Partners, zählt zu den Koryphäen der Führungsforschung. Seine Einschätzung des gegenwärtig «betrieblich Notwendigen» bringt Hartmut Volk auf den Nenner im folgenden Text.

Aufbruch ins Fluide

 

 

 

Einzige Gewissheit heutiger Unternehmensführung ist das Fehlen von Gewissheit. Über allen unternehmerischen Entscheidungen hängt das Damoklesschwert der Prognoseunsicherheit. Dessen müssen sich die Entscheider bewusst sein. Die Konsequenz aus dieser Begebenheit: sich vor Unvorhergesehenem schützen. Indem jedoch aus unbekannten Gefilden auftauchende Möglichkeiten zügig genutzt und ebensolche Risiken früh erfasst werden, führt man ein Unternehmen sicherer.

System von Aushilfen

 

In dieser wenig zuverlässig interpretierbaren, turbulenten Welt, in der keine sicheren Prognosen möglich sind, wird die Führung eines Unternehmens ohne Strategie zu einem Hasardspiel. Die übliche Strategie, um mit Helmuth von Moltke zu sprechen, ist ein «System von Aushilfen» oder ein System von Wenn/Dann-Überlegungen: Was würden wir tun, wenn uns der Konkurrent mit einem besseren Produkt zu einem niedrigeren Preis zuvorkommen würde? Wie gehen wir mit einer neuen Technologie um? Wie verhalten wir uns, wenn sich zwei Konkurrenten zusammenschliessen?

 

Wesentliche strategische Überlegungen sollten aber nicht nach dem Top-down-Modell erfolgen. Dem zufolge formuliert das Führungsteam vorerst die Strategie. Die mittleren Führungskräfte redefinieren die entsprechenden Aktionspläne und die Mitarbeiter auf den unteren Verantwortungsebenen setzen diese um. Das Top-down-Modell ist durch die Geschwindigkeit des Wandels, die Komplexität der Zusammenhänge und die neuen Informationstechnologien überholt.

 

Den Handlungsbedingungen der Zeit Rechnung tragende Führungsleute geben ihren Unterstellten Einblick in ihre strategischen Absichten. Geschäftsführungen legen den Mitarbeitenden offen, was das Unternehmen will und weshalb es das will. Sie laden die Führungskräfte zur kreativen Mitarbeit und Weiterentwicklung der Strategie ein. Sie eröffnen ihnen den Freiraum, mit

 

Wirkungsvolle Strategieformulierungen und -Umsetzungen sind das Ergebnis kollektiver Anstrengungen.

 

den verfügbaren Ressourcen die Aktionspläne auszuarbeiten und umsetzen zu lassen.

Kollektivität respektieren

 

Eine moderne Unternehmensführung kommuniziert mit ihren Führungskräften so, dass sie ein Ganzes vor Teilbereichen sehen, einen nützlichen Beitrag hierzu effizient beitragen können. Die Einbindung der Führungskräfte ist schon deshalb von grosser Bedeutung, weil sie sicherstellt, dass die Aktionspläne mit auf der Grundlage von Fachkenntnissen formuliert werden, die der Unternehmensführung im Detail kaum bekannt sind und die sie häufig nicht einmal beurteilen könnte.

 

Unter den Bedingungen der gegenwärtigen Diskontinuität müsste ein Unternehmen primär die Fähigkeit entwickeln, sich vom Wandel nicht in die Defensive manövrieren, sondern sich vom besser vorbereiteten Wettbewerb beflügeln zu lassen. Nur wenn die Führungskräfte und in absteigender Folge deren Mitarbeiter in den Strategieprozess eingebunden sind, verzeichnet man Erfolge.

 

Führungskräfte und Mitarbeitende für die fortwährende Auseinandersetzung dynamischer Wirklichkeiten zu sensibilisieren, alle richtig darauf einzustimmen und sie zur Mitarbeit an den sich daraus ergebenden Aufgaben zu animieren, ist heute eine der zentralen Aufgaben der Unternehmensführung.

Unternehmerische Werte

 

Konzertiertes Handeln unter Unsicherheitsbedingungen verlangt eindeutige unternehmerische Werte sowie Weitsicht bei der Erfolgsmessung. Kurzsichtigkeit ist der gefährlichste Gegenspieler des notwendigen, unbefangen sondierenden Weitblicks auf allen Ebenen. Das Unvorhergesehene als Wasser auf die eigenen Mühlen lenken zu können, verlangt vom unmittelbaren Erfolgsdruck freie Köpfe, die aus Gründen der Selbsterhaltung hinter der schnellen Chance nicht die langfristigere bessere Gelegenheit übersehen – oder eine sich abzeichnende Gefahr um des noch möglichen raschen Erfolgs wegen ausblenden.

Unternehmensweit unternehmensdienliches Arbeiten unter diversen Unsicherheitsebenen  bedingt, nicht dem Druck ausgesetzt zu sein, sich laufend unmittelbar beweisen und am Erreichen stetig emporgeschraubter Zielen messen (lassen) zu müssen. Darunter definiert sich auch Eigeninitiative, denn ihre ursprüngliche Bedeutung heisst: «als Teil des Ganzen Initiative für das Wohl des Gesamten zu entwickeln », im internen wie externen Kontext die Augen offen zu halten, – um kollegial wie in der Kundenbeziehung Hilfestellung und Nutzen zu bieten.

Unternehmenskultur fördern

 

Das bringt ein in die Plattitüde hinein strapaziertes Wort zurück ins Spiel: Unternehmenskultur. Betriebliches Denken wie Handeln aus der Wir- anstatt aus der Ich- Perspektive braucht eine «Plattform »: das von der Unterneh

 

Einstellungen und Haltungen, ausgedrückt in Verhaltensweisen, spielen die Schlüsselrollen.

 

mungsleitung und jeder einzelnen Führungskraft Verkörperte und Vorgelebte. Der viel bemühte Geist des Hauses ist mit einem Wort charakterisiert: Vorbild.

 

Nur Verhaltenssteuerung durch atmosphärische Wirkung fördert in der Belegschaft Selbständigkeit, Teamgeist und Initiative zur bindenden Selbstverständlichkeit, lenkt den Blick der Einzelnen über das Heute hinaus – auch auf das Morgen und Übermorgen. Allerdings gehört es auch zur Aufgabe der Unternehmungsleitung, betriebliche Falschspieler richtig zu disziplinieren. Studien unterstreichen jedoch, dass Unternehmen mit klaren, von den Führungskräften und von den Mitarbeitern gelebten Werten erfolgreicher sind.

Mit Unsicherheit leben

 

Die Bewältigung von Unsicherheit gelingt nur als gesamtbetrieblich aufgefasste Aufgabe. Sie kann nicht aus purem Selbstzweck mit für alle verbindlichen Werten gelöst werden. Ist dieser psychologische Rahmen nicht gegeben, wird die betriebliche Zukunft durch die geistige Verfassung eines Unternehmens im höchsten Masse «sinnlos». Das weit verbreitete, aus betrieblicher Prinzipienlosigkeit des Handelns genährte Sinnlosigkeitsempfinden persönlichen Bemühens und Einsatzes ist leider ein Virus, der in einem Unternehmen ganz erheblich mehr Schaden anzurichten vermag als so manch anderes oder Schlimmes.

 

Die Bewältigung von Unsicherheit verlangt über die Verankerung an Werten orientierte Denkmuster in den Köpfen der Belegschaft hinausgehende betriebliche Musterveränderungen. Auch die Muster, die die betriebliche Zusammenarbeit in der Vergangenheit strukturiert haben, sind dem heute zu Bewältigenden nicht mehr dienlich. Der über Jahrzehnte hinweg den Erfolg sichernde tradierte, klar und in sich hierarchisch fest gegliederte organisationale Aufbau, dessen Zuordnungen, Grenzziehungen und Kommunikationskanäle, erschweren das Handeln unter Unsicherheitsbedingungen.

 

Das erste Gebot im Pflichtenheft betrieblicher Organisation heute lautet, zuverlässig ebenso weitsichtig wie situativ spontan reagieren zu können. Beides aber setzt die Möglichkeit zu dieser Forderung entsprechender Zusammenarbeit je nach Gegebenheit und Notwendigkeit der Aufgabenstellung und -abwicklung voraus. Das ist mit den gewohnten starren innerbetrieblichen Abläufen nicht mehr zu gewährleisten. Sie müssen «verflüssigt» werden. Hin zu einer fluiden Organisation mit bedarfsgerecht zusammenstellbaren und weitgehend selbstorganisierten Arbeitsgruppen und Einheiten.

 

Sachverstand nach Bedarf kombinieren zu können, wird eine Schlüsselfähigkeit zur Sicherung der betrieblichen Leistungsfähigkeit – in einer weltweit im harten Wettbewerb dynamisch vernetzten Wirtschaft.

Disziplin?

 

Prozessorientiertes Zusammenarbeiten verlangt andere Verantwortungsebenen mit durchlässi

 

Kurzfristiges Erfolgsdenken macht kurzsichtig.

 

geren Grenzziehungen zwischen den Funktionsbereichen, den zentralen Stabsstellen und gegebenenfalls Tochtergesellschaften.

 

Hierarchien werden dadurch nicht verschwinden. Eine definierte Hierarchie wird nach wie vor eine gewichtige strukturierende Kraft jeder Organisation stellen. Ihre tiefe Staffelung modifiziert sich jedoch. Soll das unternehmerische «Innen» zuverlässig auf das «Aussen» eingehen können, müssen zur Sicherung betrieblicher Reaktionsfähig- und Wirksamkeit organisatorische Festschreibungen (mit ihnen die hierarchischen Kommunikationsvorgaben und Informationswege offener gestaltet) mittels gewohnter betrieblicher Rollenaufteilungen optimiert werden, etwa die strikten, kommunikativen Überund Unterordnungs-Zweigleisigkeiten entkrampft werden.

 

Schliesslich bleibt die Rolle der Routine, der Disziplin und der Systematik eine gewichtige. Asiatische und asiatisch geführte Betriebe arbeiten oft systematischer und disziplinierter als europäische. Eine falsch verstandene Unternehmenskultur bewertet in europäischen Betrieben die (scheinbare) Kreativität höher als Arbeitsdisziplin und Systematik. So sicher wie der erfolgreiche Umgang mit Unsicherheit neue Muster in den betrieblichen Organisations- und Verhaltensweisen erfordert, so sicher ist aber auch, dass ohne routiniertes, diszipliniertes und systematisches Arbeiten all diese Modifikationen für die Katz sind.

 

 

 

 

 

 

 

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