Das Ablenkungspotenzial nicht unterschätzen
Thomas Weegen, Geschäftsführer der auf Entwicklung und Zusammenarbeit spezialisierten Münchner Unternehmensberatung Coverdale Team Management Deutschland GmbH, lenkt den Blick auf einen kritischen Punkt des Change Managements: die aus unbedachten Verhaltensweisen in Veränderungsprozessen erwachsende starke Ablenkung von der Konzentration auf die Arbeit.
War Veränderung früher ein klar in sich abgegrenzter Zwischenschritt zwischen langen Phasen der Kontinuität und Stabilität, ist die Situation heute genau umgekehrt. Zustände der Berechenbarkeit und Planbarkeit sind zu Inseln in anhaltend instabilen, turbulenten betrieblichen Umwelten geworden. Genügte früher die nachfolgende Anpassung an Technik, Marktentwicklung und Recht, «ist heute die feinste Entwicklungstendenzen aufnehmende vorauseilende betriebliche Anpassungsarbeit an das mutmassliche zukünftige Geschehen die tagtäglich zu leistende Managementaufgabe», sagt Weegen und verweist zur Illustration seiner Worte auf die Rote Königin aus Lewis Carrols «Alice hinter den Spiegeln», die Alice erklärt: «Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.»
Sinn von Veränderungen häufig nicht fassbar
Und in diesem Rennen, warnt Weegen, «in dieser notwendigen starken Fokussierung auf das Zukünftige gerät eine wesentliche Erfolgsvoraussetzung von Veränderungsprozessen rasch aus dem Blick und unter die Räder des vermeintlich Vordringlichen: die Berücksichtigung des stets mit Veränderungen verbundenen Psychischen». Und das sei deshalb so brisant, weil sich die Vernachlässigung der emotionalen Bedürfnisse der Belegschaft bei betrieblichen Veränderungen in einem deutlich unterschätzten Masse ausserordentlich schnell und weitreichend zu einem ganz beträchtlichen Ablenkungspotenzial verdichten könne. Und so verweist Weegen auf die diesbezügliche indirekte Zeigerfunktion von Bemerkungen wie ‹Einfach mal wieder in Ruhe arbeiten können!› oder «Sich einfach nur mal um das Eigentliche kümmern können!». In diesen oft gehörten Bekundungen komme klar das sich immer wiederholende Versäumnis bei Veränderungsprozessen zum Ausdruck: Mangels sorgfältiger Erläuterung von Notwendigkeit und Zielsetzung der eingeleiteten Veränderungsschritte werde deren Sinn nicht erfasst «und aus dieser vermeintlichen Sinnlosigkeit heraus sehnen sich alle zurück zu den alten klaren Verhältnissen, wo ‹man wirklich noch einigermassen ungestört arbeiten konnte›».
Change Management als doppelbödiger Gewinnungsprozess
Für Weegen artikuliert sich in diesen Äusserungen im Gegensatz zu mancher «obrigkeitlicher Meinung» keine grundsätzliche innere Verweigerungshaltung allfälligen Veränderungen gegenüber, «sondern ein zu kurz gekommener Mitnahmeeffekt». Was für ihn heissen soll: «Klagen die Mitarbeiter, dass sie überhaupt nicht mehr in Ruhe arbeiten können, dann ist wieso und weshalb auch immer versäumt worden, ihnen wirklich plausibel zu machen, dass es mit jedweder Form von Arbeit sehr schnell vorbei sein kann, wenn der Betrieb sich nicht verändert.» Change Management, sagt Weegen, «ist seiner Natur nach immer ein doppelbödiger Gewinnungsprozess. Um seine Zukunft zu gewinnen, muss das Unternehmen zunächst mal seine Belegschaft für all die damit verbundenen und nicht immer leicht zu verdauenden Aktivitäten gewinnen. Soll Veränderungsarbeit glücken, setzt das sorgfältige Überzeugungsarbeit voraus. In dem Masse, in dem dieses Bemühen, indem die Anstrengung, von der Notwendigkeit eines in Angriff genommenen Tuns zu überzeugen, auf die leichte Schulter genommen wird, in dem Masse ufert der zwangsläufig mit jeder Veränderung verbundene Ablenkungseffekt aus.»
Veränderungswilligkeit von Mitarbeitenden erhöhen
Und dann könne es sehr kritisch werden. Denn, «banal, aber eben leider in den sich daraus ergebenden mitnehmenden, lenkenden und unterstützenden Verhaltensanforderungen an das Management oft erschreckend ungenügend begleitet: Die Überlebensfähigkeit und der Erfolg eines Unternehmens hängen mittlerweile massgeblich von dessen von allen getragener Veränderungsfähigkeit ab.» Ziel könne es also nicht sein, die Zahl der Veränderungen zu reduzieren. «Bis auf eine Ausnahme», sagt Weegen, es gebe manchmal Führungskräfte, die willkürlich und nicht zielgerichtet verändern, nur um zu zeigen, dass sie aktiv seien. Ziel müsse es sein, die Veränderungswilligkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erhöhen, um den sich aus unterschwelliger emotionaler Ablehnung von Veränderungsmassnahmen ergebenden Ablenkungseffekt zu verringern.
Und zwar, erinnert er an «eigentliche Selbstverständlichkeiten», durch Basisaktivitäten wie
- die umsichtige Vorbereitung und Einbeziehung der Mitarbeiter in den angestrebten Veränderungsprozess durch eindeutige, klare Information, kontinuierliche Kommunikation und insgesamt ehrliche Überzeugungsanstrengungen;
- die akzeptierende, von jedweder herablassenden Geringschätzigkeit freie Auseinandersetzung mit den sich in Veränderungsprozes
- sen notwendigerweise einstellenden Ängsten und Emotionen;
- die offene, nicht um den heissen Brei herumredende Darlegung dessen, was die Belegschaft erwartet und was von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Rahmen der Veränderung erwartet wird;
- die sachliche Darstellung der mit den Veränderungsmassnahmen anvisierten Ziele;
- die stichhaltige Begründung der Logik und Zwangsläufigkeit der in Angriff genommenen Veränderungsprozesse und deren Qualitätsstandards;
- die laufende sorgfältige Abstimmung und Koordination aller parallel laufenden Veränderungsprozesse zur weitgehenden Vermeidung von prozessualer Konfusion.
Mentale Überforderung
Worin sieht Weegen das erwähnte Kritische in ungenügend aufgegleisten Veränderungsprozessen? Nun, sagt er, «rumort es unablässig in jedem Kopf: ‹Morgen geht gestern nicht weiter. Aber ich weiss nicht, wie wird, wie soll es weitergehen!?›» Da bleibt für andere Gedanken unter der Schädeldecke nur noch wenig Platz. Werden die Basics des Veränderungsgeschehens auf die leichte Schulter genommen, ist das eine ausgesprochen schlechte Basis für Konzentration, sorgfältiges Überlegen und wohl bedachtes Handeln. «Sehen Sie», sagt er, «der Unmut über fahriges, oberflächliches, im Gesamtverhalten unbefriedigendes Tun des Personals nimmt zu. Von Seiten der Arbeitgeber ebenso wie vonseiten der Kunden. Dafür gibt es nicht nur einen Grund. Aber einer spielt dabei mit Sicherheit keine Nebenrolle: die zunehmende mentale Überforderung des Personals durch einfach nur dem Betrieb übergestülpte Veränderungen. Der beachtliche Ablenkungsfaktor, der sich aus diesem unbedachten Tun ergibt, erklärt so manche verhaltensbedingte Holprigkeit.»
Mitarbeiterloyalität: Tendenz sinkend
Und auch ein weiterer Grund für besagten Unmut verbirgt sich aus der Sicht von Weegens Praxiserfahrungen nicht im Nebel des Ungewissen: Die defizitäre innere Bindung an den Arbeitgeber. «Von Veränderungsprozessen kalt erwischte Belegschaften haben einfach keinen Nerv mehr für solides Bemühen um Arbeit und Kunden, kurz, die Interessen des Unternehmens.» Im Grunde bräuchte es nicht die regelmässigen diesbezüglichen Pulsmessungen des Gallup-Engagement-Index, um zu erkennen bzw. bestätigt zu bekommen, dass die innere Verbundenheit mit der Firma und mit ihr die vorbehaltlose Lust auf Leistung auch schon mal bessere Zeiten gesehen hätten, sagt Weegen. Vermutlich werde sich kein Arbeitnehmer mit allem identifizieren können, was sein Arbeitgeber für angezeigt und notwendig erachte. «Aber in dem Masse, in dem Tun und Lassen der einen Seite sich immer weiter von den Bedürfnissen und Erwartungen der anderen Seite entfernt, in dem Masse wächst auch die – in einer mehr oder weniger offen zutage tretenden Desinteressiertheit – innere Distanz zum Betrieb.»
Und je grösser diese innere Distanz werde, desto mehr schmälere sie die tatsächliche Wirkung betrieblicher Restrukturierungsmassnahmen; desto kleiner werde die vorbehaltlose Bereitschaft, sich mit dem Neuen auseinander- und sich damit ins Benehmen zu setzen. «Engagement ohne eine wirkliche gefühlsmässige Nähe zu dem, wofür man sich engagieren soll, gibt es nicht. Und so übersteht in den Betrieben vieles, durchaus ernstzunehmende Stimmen behaupten sogar das meiste, was sich als Engagement ausgibt, nicht den Lackmustest genaueren Hinschauens», gibt Weegen zu bedenken
Die «garstigen Drillinge»
Das vorhandene Gerüst von Struktur und Ablauf nicht regelmässig auf seine Zweckmässigkeit hin zu überprüfen, hält Weegen für einen schweren Fehler. Die Erfahrung lehre nur, sagt er, «dass die an dessen Effizienzwirkung geknüpften Hoffnungen die Realität häufig deshalb nicht erreichen, weil die Mannschaft, die Hoffnung in Realität verwandeln soll, sich aus den dargelegten Gründen dem Aufbruch verweigert». Womit sich beinahe tagtäglich in der Wirtschaft eine weitere Erfahrungstatsache bewahrheite: Unter überholungsbedürftigen Strukturen und Abläufen leide das Leistungsvermögen eines Unternehmens oft ganz beträchtlich. Genauso aber könne es unter der Stimmung, die in ihm herrscht, leiden. «Wo die garstigen Drillinge Uninformiertheit, Ungewissheit und Unsicherheit ihr Unwesen treiben und die beherrschenden atmosphärischen Stimmungsmacher im Betrieb sind, beschäftigt sich die Belegschaft zwangsläufig vorrangig mit sich selber. Mit den entsprechenden Folgen.»
Natürlich ruhe dann nicht die Arbeit. Natürlich werde dann auch etwas getan. Nur wie? «Und für dieses ungenügende ‹Wie?› gab es früher einen sehr bildhaften Rüffel: ‹Du arbeitest ja nur mit den Händen!›», erinnert Weegen. Und dieser Vorwurf war keine Diskriminierung der Handarbeit. «Gerügt wurde die von aussen unschwer erkennbare Tatsache, dass da jemand bei der Arbeit nicht dachte; dass da einfach ein Vorgang ohne jede innere Beteiligung abgespult wurde. Eben ‹nur› mit den Händen, nicht auch mit dem Kopf. Eben ohne innere Anteilnahme.»
Der Teufel der Bindungslosigkeit Vielleicht am auffälligsten sei dieses «Arbeiten nur mit den Händen», diese fehlende innere Verbundenheit mit der Aufgabe oft in Beratungsund Verkaufsgesprächen zu spüren: Kunden fragen etwas, suchen nach Informationen, sind erkennbar damit beschäftigt, eine Grundlage für eine Entscheidung zu bekommen. Und bekommen sie nicht. Sie fühlen sich düpiert, weil sie als Antwort keine auf ihr spezifisches Anliegen bezogene Auskunft erhalten, sondern eine antrainierte Floskelsuada. Weegen: «Die fehlende innere Bindung an Betrieb und Aufgabe lässt sich förmlich mit Händen greifen. Nicht die möglicherweise suboptimale Strukturund Ablauforganisation macht das engagierte Beratungs- oder sonstige Gespräch mit Kunden unmöglich. Wer hier seine fatale Hand im Spiel hat, ist der Teufel der Bindungslosigkeit. Wo er das Regiment führt, da gibt es keinen von Herzen kommenden Einsatz für was auch immer.»
Im gleichen Masse wie dem organisatorisch Formalen gelte es – nicht nur in Veränderungsprozessen –, diesem Beelzebub die Aufmerksamkeit zuzuwenden. Weegen: «Betriebliches Leistungsvermögen, die überlegene Performance hat in erster Linie etwas mit Gefühlen und erst in zweiter Linie mit formalen Konfigurationen zu tun. Die Einhaltung des psychologischen Vertrags zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die Erfüllung der wechselseitigen unausgesprochenen Ansprüche an die andere Seite, die vertrauensvolle innerbetriebliche Beziehung, die ist es, die ‹den Kohl fett macht› und die für den Job im heute gebrachten Masse ‹durchs Feuer gehen lässt›.»