Hannes misst Gefühle
Hannes brütet. Er muss ein Konzept zur «Messbarkeit von Soft-Factors und sozialen Zielen» erstellen. Ein Auftrag der Geschäftsleitung, der auch privaten Nutzen bringt. Wie oft musste er schon seiner Frau erklären, dass er durchaus Gefühle habe, sie aber vielleicht nicht immer zeigen könne.
Er kennt die Fragestellung aus der Personalzufriedenheitsmessung. Mit einer Skala von 1 bis 10 beantwortet man die Frage «Wie wohl fühlen Sie sich an Ihrem Arbeitsplatz?» Aber ob dies vergleichbar ist? Jeder hat wohl andere Massstäbe. Für den einen ist 8 hoch, für den anderen ist 6 nicht weniger hoch. Hannes kommt nicht vorwärts.
«Manchmal hilft eine Pause», denkt er und geht fürs Mittagessen zum Italiener. Eine feine Pizza und ein halber Liter Montepulciano – das kann nur anregen. Lorenzo empfängt ihn herzlich: «Ciao amico, come stai? Tutto bene? Eine schöne Platz für unsere Scheffe?» «Gerne»,antwortet der hungrige Manager und blättert durch die 150 Sorten Pizzas und 140 Pastagerichte.
Nach drei Minuten erscheint Lorenzo wieder: «Haben Sie schon finden?» Hannes hat noch keine Ahnung. Aber als Führungskraft mehr als drei Minuten für die
«Sich wohlfühlen» soll mit klar messbaren Parametern nachzuweisen sein.»
Menüwahl zu brauchen – so blamieren kann er sich nicht. «Ich nehme Pizza Prosciutto mit einer Zusatzportion Pilze, voraus einen kleinen Salat, Wasser und einen halben Liter Montepulciano. » Lorenzo schaut ihn entgeistert an. «Sie mir sagen Numero bei die Essen, sonst kann ich nicht eintragen in Bestellung.» Leicht enerviert formuliert Hannes sein Bedürfnis in chiffrierter Form. «Ich möchte Pizza 141 mit einer Extraportion 9, voraus 53 mit Sauce Nummer 3. Als Getränk bringen Sie mir 14 und einen halben Liter 311.» «Perfetto così, ich bringen gleich», erwidert der charmante Kellner.
Nach genossenem Mahl gehts ans Zahlen. Lorenzo steht mit Mini-Touch-Gerät und Eingabestift vor ihm. Hannes, nicht ohne Stolz, rezitiert seine Konsumation. «Ich hatte 141 inklusive 9, dazu 53 mit 3, 311 und 14.» Mindestens so zufrieden lässt Lorenzo in sportlichem Staccato seinen Stift über das Gerät tanzen. Das macht 19 Euro 90. Hannes legt einen 20-Euro-Schein hin und schenkt ihm die 10 Cent. 10 Cent für die durchschlagende Idee. Mit triumphierender Miene kehrt Hannes ins Büro zurück und setzt sich voller Tatendrang und Rotwein an das noch immer leere Worddokument.
Hannes nimmt die Skalierung von Gefühlszielen auf, geht aber tiefer. «Sich wohlfühlen» soll mit klar messbaren Parametern nachzuweisen sein. Er findet dazu einen Artikel in einer Ärztezeitschrift: Der Wohlfühl-Koeffizient zeigt sich unter anderem in einem idealen Blutdruck. Er will dies mit Angaben über Atemfrequenz, Körpertemperatur und Adrenalinspiegel verbinden. Sich wohlfühlen heisst: Blutdruck 120/80 mmHg, rund 20 Atemzüge pro Minute und Adrenalin bis höchstens 110 nmol/Tag. Gleichzeitig darf die Körpertemperatur weder tiefer als 36,3 noch höher als 37,4 sein. Hannes hat das Konzept gefunden. Ein ärztlicher Kurzcheck macht «wohlfühlen» messbar.
Hannes schreibt und schreibt, die Gedanken fliessen nur so ins Dokument. Da reisst ihn ein Anruf aus der Arbeit. Seine Frau. «Wo bleibst du?» «Im Büro.» «Was glaubst du, wie ich mich fühle, wenn ich zu Hause stundenlang auf dich warte?» «Wie du dich fühlst? Auf einer Skala irgendwo zwischen 2 und 8. Wenn du mir deine Körpertemperatur durchgibst, kann ich deine Frage viel genauer beantworten», gibt Hannes gut-gemeint und etwas stolz zurück. «Vergiss es! Bleib, wo du bist – ich gehe mit Jacqueline weg. Ich brauche einen heissen Abend.» Damit legt sie den Hörer auf.
Nun ja, das Konzept ist nur fürs Büro gedacht …