Ein Verband in der Zerreissprobe

Bis weit in die 1990er-Jahre war die SAQ Schweizer Marktleaderin für die Ausbildung im Qualitätsmanagement. Doch das Umfeld änderte sich dramatisch. Im Interview erzählen Dr. Peter Schütz und Dr. Jürg Saxer, beide aus der Chemischen Industrie, wie sie halfen, die Weichen im Verband neu zu stellen.

Ein Verband in der Zerreissprobe

 

 

 

Peter Schütz, Sie waren von 1998 bis 2004 Präsident der SAQ. Wie kommt ein Chemiker dazu, sich in der SAQ zu engagieren?

Schütz: Ursprünglich komme ich aus der Forschung und ging dann bei Ciba-Geigy in die Produktion, 20 Jahre lang, und war danach verantwortlich für die Division Pigmente, also mitten drin in den Qualitätsbemühungen, die ja immer in der Produktion angefangen haben.

 

Was aber noch nicht erklärt, der SAQ beizutreten …

Schütz: Mein damaliger Chef, Heini Lippuner, war als CEO der Ciba-Geigy ja einer der Gründungsmitglieder der European Foundation for Quality Management (EFQM). Er ermutigte mich, zusammen mit einem Dutzend Kollegen der Ciba-Geigy für 10 Tage in die USA nach Orlando zu fliegen. Dort lebte Philip Bayard Crosby, damals der Papst der ganzen Qualitätsbewegung. In seiner Quality Academy haben wir einen Kurs besucht und waren alle total begeistert.

 

Und damit war die SAQ für Sie aktuell geworden?

Schütz: Herr Lippuner sagte zu mir: Hör mal, jemand von der Ciba- Geigy sollte bei diesem SAQVerband mitmachen und sich fürs Qualitätsmanagement einsetzen – was ich dann getan habe. Zunächst wurde ich Vorstandsmitglied und habe 1998 die Präsidentschaft der SAQ übernommen.

 

Jürg Saxer, wurden Sie auch von Ihrer Firma in den Verband delegiert?

Saxer: Nicht in die SAQ, aber zur Schweizerischen Vereinigung für Qualitäts- und Managementsysteme SQS. Ich kam zum Qualitätsmanagement 1990, weil wir, also die Farbstoff-Division der Sandoz AG, von unseren englischen Tochtergesellschaften unter Druck kamen. Die sagten: Ihr müsst euch nach ISO 9001 zertifizieren lassen, wenn Ihr uns weiterhin beliefern wollt.

 

Und mit der ISO-Norm betrat der Sandoz-Konzern in Basel damals eher Neuland?

Saxer: Ja. Zuerst mussten wir einmal herausfinden, was ISO überhaupt war, und dann wurde uns signalisiert, dass die SQS als grosse Zertifizierungsfirma schon lange jemanden aus der Chemie in ihrem Vorstand wollte. Und weil die ISO-Zertifizierung bei Sandoz in meine Kompetenz fiel, hiess es «Marsch, Marsch», du gehst jetzt in diese SQS. Von 1990 an war ich dann Vorstandsmitglied und blieb auch nach der Pensionierung bis 1997 Vertreter der Chemie im Vorstand der SQS.

 

Stand die SAQ in voller Blüte, als Sie das Präsidium übernahmen?

Schütz: Lange Zeit war die SAQ ein reicher, gut gehender Verband. Wir hatten 2600 Mitglieder und machten einen Umsatz von 6 Millionen. Der Verband hatte in den 80er- und 90er Jahren sehr gute Geschäfte gemacht. Und er hatte so viele Mitglieder, weil er anfangs die einzige Ausbildungsstätte für die Erarbeitung eines nach ISO-Norm zertifizierbaren QM-Systems war. Zudem waren die Kontakte im Verband mit seinen 10 Sektionen hilf- und lehrreich.

 

Aber dann fing es an, schwieriger zu werden?

Schütz: Als ich kam, war der Verband schon über der Reifezeit. Viele Firmen sagten: Jetzt kennen wir das, die Geschäfte laufen ohnehin nicht so gut, wir sind zertifiziert, also engagieren wir uns dort nicht mehr so wie bisher. Und damit ging es mit der Ausbildung bergab. Die Leute hatten die Kurse besucht, sie hatten zu guten Konditionen bekommen, was sie wollten, und sahen keinen Grund, länger Mitglieder zu sein.

 

Saxer: Der Rückgang des Umsatzes war dramatisch. Wir waren in wenigen Jahren von 6 auf 2 Millionen runtergekommen. Aber die Organisation war auf 6 Millionen ausgerichtet. Wir hatten darauf wahrscheinlich zu langsam reagiert. Dadurch entstanden Verluste.

 

Und der neue Präsident musste sich vor allem mit wirtschaftlichen Problemen herumschlagen?

Schütz: Die SAQ war und ist ja ein spezieller Verband, einer, der ein Geschäft führt. Die meisten Verbände taten das damals nicht. Das reine Verbandsleben spielte sich in den Sektionen ab. Für mich wurde die Arbeit in der SAQ zu 90 Prozent zum Überlebenskampf einer Firma.

 

Und da kamen Sie als Jurist ins Spiel – mit einer Analyse im Auftrag des SAQ-Vorstands …

Saxer: Ja. Es ging um eine Standortbestimmung aller Aktivitäten der SAQ – mit Ausblick und Perspektiven. Das bedingte eine umfassende Analyse von Dokumenten, Bilanzen und zahlreichen Interviews. Im Februar 1999 konnte ich sie dem Vorstand präsentieren.

 

Können Sie kurz die wichtigsten Ergebnisse nennen?

Saxer: Wie schon gesagt: Der Schulungsbedarf ging eindeutig zurück. 10 Jahre lang war der Ausund Weiterbildungsmarkt explosionsartig gewachsen. Gleichzeitig hatte sich das Feld der Anbieter von Kursen vermehrt. Es entstand eine grosse Konkurrenz – von den Fachhochschulen her, die alle krampfhaft Einnahmen suchten, weil sie sich teilweise selbst finanzieren mussten. Aber auch die Berater gaben mehr und mehr eigene Schulungen. Unter den Ausbildern der SAQ gab es viele Berater. Die Kurse waren eine einmalige Gelegenheit, an Kunden zu kommen. Das Verteilen der Visitenkarte wurde fast wichtiger als die Qualität der Kurse. Das sorgte oft für böses Blut.

 

Also das Angebot wuchs, die SAQ verlor ihre Monopolstellung der 80er- und 90er-Jahre.

Saxer: Und sie hatte erst spät gemerkt, dass sie die nicht mehr hatte. Die Organisation hatte sich nicht den veränderten Verhältnissen angepasst.

 

Gab es verbandsintern noch andere Schwachstellen?

Saxer: Ich konnte verschiedene Doppel-Spurigkeiten, die ins Geld gingen, aufdecken. Und in meinen Kontakten zu den Sektionen entstand der Eindruck, dass den Mitgliedern zu wenig geboten würde. Die Sektionen beklagten sich über zu wenig Unterstützung durch die Verbandsspitze – fachlich und finanziell. Inzwischen ist das besser, wenn auch nicht optimal, aber damals waren das Dinge, die einigen Ärger bereitet haben. Die SAQ steckte damals im TQM-Fieber, also dem Vorläufer von Business Excellence. Das ging an den Mitgliederwünschen weitgehend vorbei.

 

Ein happiger Vorwurf, die Orientierung auf TQM sei schuld an der Misere …

Saxer: Nicht allein, aber zumindest hat sie mit dazu beigetragen. Die normalen Firmen hatten damals wegen des hohen Aufwands wenig Interesse an TQM, die waren schon zufrieden, wenn sie für die ISO 9001 einigermassen qualifiziert waren. Mit TQM kam ein Elitedenken ins Qualitätsmanagement, das war nicht so populär und ist es wohl auch heute nicht.

 

Schütz: Der Konflikt bestand damals wie heute: Rentiert sich dieser hohe personelle Einsatz, um im TQM voranzukommen? In der Chemie zum Beispiel hatten viele eigenständige Konzerngesellschaften qualitätsinterne Systeme auf hohem Niveau, aber oft ganz andere, orientiert an amerikanischen QM-Systemen. Da spielen die Prozesse die entscheidende Rolle. Diese Konzerneinheiten wollten in keiner Weise eine Belehrung durch einen Verband. Und haben daher das TQM mit den vielen Anforderungen fast als eine Zumutung betrachtet.

 

Welche Konsequenzen wurden aus Jürg Saxers Analyse gezogen?

Schütz: Uns wurde bewusst, wir führen ein Geschäft. Wir waren immer wieder dabei, Partner zu suchen, Firmen, die wir übernehmen könnten, oder Joint Ventures, damit wir ein zweites Standbein haben. Die Schulung ging nicht mehr gut. Also wollten wir das Consulting anstreben, denn dort glaubten wir, richtig Geld verdienen zu können.

 

Was konkret passierte dann?

Schütz: Bei der Suche nach Kontakten kamen wir zuerst an die Qualicon AG, die war in jener Zeit die grösste Organisation in der Qualitätsberatung. Doch die Qualicon war leider an gewissen Geschäften nicht interessiert, die für die SAQ wichtig waren und die wir weiterführen wollten. Da mussten wir die Übung abbrechen.

 

Der nächste Schritt war im Herbst 2001 die Gründung der Neosys AG

Saxer: Ja, als Joint Venture von SAQ und dem Schweizerischen Elektrotechnischem Verein (SEV), der heutigen Electrosuisse. Der SEV hatte sich schon früher die Dr. Graf AG Umweltschutz-Beratung angelacht und dann festgestellt, ja, die passt doch gar nicht zu uns. Auch den Experten bei Graf ging es so. Da kam unser SAQ-Interesse goldrichtig. Wir haben uns zusammengetan und die Neosys AG gegründet, mit Sitz in Gerlafingen.

 

Lange waren die beiden Mütter-Vereine mit der neuen Tochter aber nicht glücklich …

Schütz: Das stimmt, wir hatten natürlich grosse Hoffnungen in sie gesetzt. Wir hatten unseren Ausbildungsteil in die Neosys gegeben und der SEV die Beratung der Graf AG, im Bereich Umwelt, Sicherheit, Risiko. Wir dachten, wenn es uns gelingt, die beiden Kulturen SAQ und SEV in der Neosys AG zu einer schlagkräftigen und motivierten Organisation zu bündeln, hätten wir neue wirtschaftliche Perspektiven.

 

Aber nach zwei Jahren war Schluss.

Schütz: Kurz zusammengefasst: Die damalige Neosys war eine unführbare Firma und zwar deshalb, weil die Bereiche, die wir übernommen haben, aus Consultants, also «Einzelmasken» bestanden. Die haben uns bei jeder Gelegenheit gesagt: Wenn euch was nicht passt, kann ich mich auch selbständig machen, ich habe das Wissen, ich kenne meine Kunden, da brauche ich euch gar nicht. Da wurde schnell klar, das ist ein hoffnungsloses Geschäft.

 

Inzwischen ist die Neosys AG ein erfolgreiches Unternehmen geworden.

Saxer: Das stimmt. Jürg Liechti, der Chef, hat sich aus der Electrosuisse rausgekauft und Neosys verselbständigt. Jetzt ist die Neosys eine unabhängige AG. Mit Liechti als Hauptaktionär. Ein Prozess, wie er oft in der Industrie passiert.

 

Und wie kam die SAQ aus dem Neosys-Abenteuer wieder raus?

Saxer: Wir haben uns mit den Freunden der Electrosuisse zusammengesetzt. Die waren zwar am Geschäft, aber kaum am Qualitätsmanagement interessiert. Also haben wir ohne Probleme und sehr solidarisch die Trennung beschlossen. Niemand zahlte etwas. Wir trugen die Verluste gegenseitig. Das wars.

 

Schütz: Parallel haben wir die Kontakte zur Qualicon wieder aufgenommen. Die Firma stellte für uns immer noch eine gute Lö-sung dar, auch mit dem Firmensitz in Kirchberg. Erst später, als es um die Eröffnungsbilanz ging, fanden wir heraus, dass es ihr wirtschaftlich ebenso schlecht wie uns ging.

 

Saxer: Beiden Parteien stand das Wasser ziemlich weit oben, das hat sie in den Verhandlungen relativ kompromissbereit gemacht. Gemeinsam haben wir eine Eröffnungsbilanz der SAQ-Qualicon AG hingebracht. Da war einige Kreativität gefragt.

 

«Für die SAQ stellt dieser Zusammenschluss die beste aller möglichen Lösungen dar», schrieben Sie, Peter Schütz, im Dezember 2003. Gab es keine Alternativen?

Schütz: «Alternativlos», fast wie bei Frau Merkel. Es gab keine anderen Firmen, die uns interessierten und die etwas mit uns zu tun haben wollten. Die SAQ-Qualicon AG verfolgt ja bis heute erfolgreich die vertikale Integration von Schulung und Beratung. Und mit dem Firmensitz in Kirchberg, wohin ja auch die SAQ-Geschäftsstelle übersiedelte, konnten wir damals sagen: Jetzt haben wir eine vielversprechende Heimat.

 

Wie haben die SAQ-Mitglieder auf den Start der neuen Firma reagiert?

Schütz: Das war der allerschwierigste Teil. Wir sind ja keine AG, sondern ein Verband. Wie können wir möglichst bald die Entscheide fällen, um aus der Neosys- Falle rauszukommen und etwas Neues zu starten?

 

Ich erinnere mich an diese turbulente GV in Olten im November 2003 …

Schütz: Auf diese ausserordentliche GV hatten wir uns minutiös vorbereitet. Wir kannten die Gegner der neuen Lösung und konnten ihre Argumente plausibel entkräften. Und unser Geschäftsführer, Hans Rudi Gygax, hat sich voll hinter uns gestellt. Mit der gewonnenen Abstimmung war dann der Weg frei für die SAQ-Qualicon AG. Vorher aber mussten wir viel Kritik einstecken.

 

Zum Beispiel?

Schütz: Wir mussten zugeben, dass wir zu euphorisch in die Neosys- Geschichte hineingeschliddert waren. Und ich musste mir die Frage gefallen lassen: Wie kann man eine Firma kaufen, die nur aus Köpfen besteht – ohne entsprechende Hardware? Da steht man ziemlich hilflos da …

 

Kommen wir zur aktuellen Lage. Die SAQ hat jetzt ihren Sitz in Bern und schreibt schwarze Zahlen …

Saxer: Mit Peter Bieri, dem neuen Geschäftsführer, kam die Wende. Der hat es verstanden, innerhalb von zwei Jahren eine angeschlagene Organisation wieder auf Trab zu bringen. So hat er die beiden Tochtergesellschaften, die ARIAQ SA und die SAQ-Qualicon AG, die nur zu 50 Prozent im Besitz der SAQ waren, mit eigenen Mitteln völlig zurückkaufen können.

 

Schütz: Wenn Sie feststellen, dass wir jetzt wieder zurück sind, wo wir mit der SAQ begonnen haben, könnte man fast sagen, dass wir uns mit viel «trial and error», aber letztendlich erfolgreich an die schwierigen Gegebenheiten anpassen konnten.

 

Ist das typisch für Verbände?

Saxer: Man muss unterscheiden zwischen Verbänden und Branchenorganisationen. Letzteren geht es normalerweise recht gut, aber die Verbände leiden fast alle an Auszehrung.

 

Schütz: Im Fall der SAQ wiegt diese heterogene Mischung aus Verband und Geschäftstätigkeit schwer. Mit einer Verbandsgesetzgebung ist es schwierig, ein Geschäft dynamisch zu führen. Saxer: Man muss beides finanzieren können. Mitgliederbeiträge machen bei uns etwa 50 Prozent der Gesamteinnahmen aus. Wir haben jetzt noch ca. 1600 Mitglieder. Der Rest muss aus der Geschäftstätigkeit kommen. Mit der Personenzertifizierung, die sich ja rasant entwickelt, ist der SAQ dabei ein grosser Wurf gelungen.

 

Führt das nicht zu Konflikten mit der SQS?

Saxer: Nein, die SQS zertifiziert Organisationen, nicht Personen.

 

Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Braucht es noch einen Verband für die Qualität?

Schütz: Dass sich die Qualitätsbewegung zusammenfasst in einem Verein von Fachleuten und Managern, die sich regelmässig treffen und fachlich austauschen, das ist sicher keine schlechte Idee. Viele Qualitätsmanager beklagen, sie seien im Geschäft oft isoliert, ohne direkte Kunden und ohne Öffentlichkeit. In der SAQ haben sie eine Heimat, finden ihre Identität und Wertschätzung und können sich laufend weiterbilden.

 

Saxer: Ja, aber trotzdem: Man muss die Frage stellen, wie sich die SAQ orientieren soll. Was ist eigentlich die Kernaufgabe der SAQ?

 

Und haben Sie darauf eine Antwort?

Saxer: Glücklicherweise ist Qualitätsmanagement heute nicht mehr nur eine Frage von Spezialisten. Sondern Qualität ist Teil der Unternehmen, und zwar nicht nur bezogen auf Produkte, sondern auch bezogen auf Prozesse, Organisation, Entwicklung und Führungsstil.

 

Ein Qualitätsmanager deckt nicht länger alle Bereiche ab?

Schütz: Alles läuft auf eine Trennung von klassischer Qualitätssicherung, also Messen, Prüfen und Fehlermanagement auf der einen und Qualitätsmanagement auf der anderen Seite hinaus. Qualität läuft in der Linie bei den Leuten, die produzieren. Qualitätsmanagement als Führungsinstrument umfasst die ganze Organisation. Deshalb kommt der SAQ heute eine andere Bedeutung zu als früher, als sie ein Verein nur für Spezialisten war.

 

Und zwar welche?

Saxer: Vielleicht als Qualitätsbotschafterin der Schweiz? Das wird ja versucht. Ich bin sehr gespannt auf den nächsten «Tag der Schweizer Qualität».

 

Herr Schütz und Herr Saxer, vielen Dank für dieses offene Gespräch.

 

 

 

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