Interdisziplinarität als Königsweg

Immer mehr besteht unser Alltag aus SoftwareAnwendungen. Doch digitale Systeme, die unser Leben durchdringen, haben vielfältige Abhängigkeiten. Ein erfolgreiches System ist die Frucht von kontinuierlicher Kooperation mit Nutzern und Technologiepartnern – eine neue Anforderung an das Requirements Engineering.

 

Eine Filiale einer bekannten Kaffeehauskette: Wer dort seinen «Latte macchiato» bestellen will, tut dies nicht mehr am Tresen, sondern an einem Terminal gleich beim Eingang via Touchscreen oder über eine Smartphone-App. Die Bezahlung kann dann auch gleich via Kreditkarte oder über das Smartphone abgewickelt werden. Der ganze Bestell- und Bezahlungsprozess verläuft also digital; das Personal hinter dem Tresen muss nicht einmal mehr die richtigen Knöpfe an der Kaffeemaschine drücken: Diese weiss bereits, in welcher Temperatur und mit welcher Stärke der Kunde seinen Kaffee will, und stellt ihn entsprechend bereit – dank Interaktion zwischen Maschine und Benutzerprofil der Smartphone-App.

Denken über den Tellerrand
Dass Solches überhaupt Realität ist oder noch wird, steht und fällt mit der Akzeptanz durch die Nutzer. Und Bedingung für die Umsetzung ist ein Zusammenspiel von Requirements-Ingenieuren, Applikations-Entwicklern und Data Scientists. Das ist aber längst noch keine Selbstverständlichkeit. Über den gesamten Entwicklungsprozess und neue Möglichkeiten von komplexen Systemen dank der Digitalisierung unterhielten wir uns deshalb mit Prof. Dr. Samuel A. Fricker und Prof. Dr. Doris Agotai. Beide arbeiten sie als Dozenten am Institut für 4DTechnologien der Fachhochschule Nordwestschweiz und sind Experten für Requirements Engineering (Fricker) und User Experience (Agotai). Im Gespräch zeigt sich schnell: Die Digitalisierung zwingt die gesamte Informatik dazu, in anderen, neuen Kategorien zu denken. Denn es geht um nichts weiter als um die Skalierung von Software-Systemen bis auf Stufe Bevölkerung: «Man bringt Dienstleistungen über digitale Systeme zur Bevölkerung und nutzt dabei eine gemeinsame Infrastruktur», so fasst Samuel A. Fricker das Ganze zusammen. Das heisst zum Beispiel: Der Kunde geht nicht mehr zur Bank, sondern die Bank kommt zum Kunden. Notwendig wird dazu eine stärkere Zusammenarbeit zwischen IT-Firmen, Telekommunikation und Gesellschaft. «Informatik wandelt sich zu einem interdisziplinären Feld», ergänzt Doris Agotai. «Da wir heute viele Dinge anders, eben digital, machen, ist die Informatik gefordert, diese Übersetzungsleistung zu vollbringen und bestehende Prozesse grundlegend neu zu erfinden.»

Versuch und Irrtum als Methode der Wahl
Requirements Engineering, verstanden als methodisches Rückgrat des Projektmanagements, umfasst viel mehr als die Definition von Anforderungen (etwa durch Business Analysten), die dann durch Applikationsentwickler zu «verkaufsträchtigen Produkten» umgesetzt werden soll. Diese Auffassung war vielleicht noch vor zehn Jahren gültig. «Systeme werden von und für Menschen entwickelt. Man soll Bedürfnisse ermitteln, deren Bedeutung für die digitale Lösung verstehen und miteinander eine sinnvolle Lösungsvariante aushandeln», beschreibt Samuel A. Fricker den gegenwärtigen Ansatz. Das Problem dabei ist aber: «Man kann nicht einfach den Kunden fragen, was er möchte – schon gar nicht wenn wir als Nutzer die breite Öffentlichkeit haben, die mit der Digitalisierung adressiert werden soll», so Fricker weiter. Deshalb müsse die zukünftige Systementwicklung in einem gemeinsamen Lernen, was funktioniert und was nicht, bestehen. Doch nicht nur dies. «Man muss verstärkt die richtigen Kompetenzen in Entwicklungsteams vereinen und dazu die richtigen Partner identifizieren, die schon mit Teillösungen aufwarten», fügt Fricker hinzu. Und Doris Agotai ergänzt: «Es geht darum, den Prozess zwischen Requirements Engineering und User Experience zu verschmelzen. Die entwickelten Lösungen müssen laufend daran gemessen werden, wie die Nutzer darauf reagieren. Kurz: Auch die Nutzer müssen direkt in die Entwicklungsprozesse eingebettet werden. Das ist ein Must-have.» Samuel A. Fricker weiss zudem: «Wir können nicht grundsätzlich voraussagen, wie Nutzer sich verhalten werden. Brainstorming in einem Konferenzraum bringt hierzu nichts. Beobachten Sie deshalb die Nutzung von Systemen und gehen Sie auf Nutzer zu, die Mühe haben. Messen Sie den Effekt der Systeme und verbessern Sie, was nicht passt. Damit reifen Sie die Systeme über Anwendungsfälle, Anwendergruppen und Anwendungskontexte hinweg.»

Vertrauen als Erfolgsfaktor
Doch es geht längst nicht nur um die Nutzer. Es geht auch um Daten. Diese stehen eigentlich am Anbeginn. In immer mehr Bereichen kommen Unmengen von Daten zusammen – und sei es nur durch Aufzeichnungen von Besuchereintritten im Restaurant. Diese Daten dürfen nicht durch wenige Organisationen gesammelt und alleinig ausgenutzt werden. Daten sind ein öffentliches Gut, fordert Fricker. Es müsse eine «Demokratisierung» von Daten stattfinden, zum Beispiel mithilfe von Marktplätzen, die Nutzern Transparenz und Kontrolle über die Nutzung ihrer Daten geben. Nur durch einen verantwortungsvollen Umgang mit Daten sei es auch möglich, das Vertrauen der Nutzer zu gewinnen. Denn letztlich entscheiden diese Nutzer, ob es sich lohnt, Persönliches preiszugeben und dafür die Entwicklung von Anwendungen zu ermöglichen. Sie entscheiden, ob eben etwa eine intelligente Kaffeemaschine aus den gesammelten Nutzerprofilen die bevorzugte Mischung servieren kann … Das Kaffeemaschinen-Beispiel vermag auch zu zeigen, wie stark Systeme – Bestellprozess, Maschinensteuerung, Bezahlsysteme – interoperabel sein müssen. Das

 

Nicht nur Nutzer, sondern auch Firmen müssen einander vertrauen.

 

bedingt ein interdisziplinäres, offenes Zusammenarbeiten zwischen Firmen. Und Vertrauen, wie Samuel A. Fricker ausführt: «Nicht nur Nutzer, sondern auch Firmen müssen einander vertrauen. Nur so können sie gemeinsam digitale Systeme entwickeln, welche unser Leben durchdringen. Es wäre spannend, einen Indikator zu haben, der uns helfen würde, solches Vertrauen zu messen.» Vertrauen, dafür weniger Standards? «Standards sind ein Mittel, Vertrauen zu schaffen. Standards bieten auch Stabilität und ermöglichen somit agile Entwicklung. Jedoch, vor allem junge Firmen kämpfen mit dem Erlernen von Standards und dem Einschätzen von deren Bedeutung. Standards sind also ein Mittel mit Kompromissen und entsprechend eine Herausforderung.» Es gelte, so Doris Agotai, die gesamte Customer Journey in die Entwicklung einzubeziehen. Und das dürfte der Abschied von der Informatik sein, die sich auf die Entwicklung von isolierten, monolithischen Systemen konzentriert.

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