Lässt sich Ethik managen ?
Bei der Einführung der Ethikorganisation in den Pflegezentren Mattenhof und Irchelpark (Pflegezentren der Stadt Zürich) wurde schnell deutlich, dass die regelmässige Abhandlung von ethischen Fragestellungen auch eine hohe Qualität an die Prozessbeschreibung, die Konzeptualisierung, die Kommunikation und Dokumentation sowie die Evaluation nebst geeigneten Qualitätsmanagementsystemen erfordert. In Teil 2 dieses Beitrags geht es um die Umsetzung in die Praxis.
Um die Abläufe innerhalb und zwischen den Ethikgremien sowie die der bestehenden Organisation der Pflegezentren (siehe Box) zu definieren und zu standardisieren, entschied die Leitung gemeinsam mit dem Qualitätsmanagement, diese im Prozess «Kernkompetenzen» einzubinden. Im Anschluss wurden die Einzelabläufe innerhalb der Ethikorganisation untersucht und deren Schnittstellen zu anderen Prozessen eruiert. Unmittelbar nach der Schnittstellenklärung wurde definiert, welche Dokumentationen benötigt werden. Dies waren unter anderem Folgende:
– Checkliste – Umgang mit ethischen Fragestellungen: In dieser Checkliste wird der gesamte Ablauf des Umgangs mit ethischen Fragestellungen chronologisch aufgeführt. Es ist eine komplette Beschreibung aller einzelnen Arbeitsschritte (auf Ebene des Prozesses/ ohne ethische Urteilsbildung) vom Auftreten der Fragestellung bis zur Implementierung einer möglichen ethischen Leitlinie.
– Reglement – Fallreflexion bei ethischen Problemen: Dieses Dokument regelt den Weg der ethischen Urteilsbildung und dient vorzugsweise den Mitgliedern des Ethikforums als Grundlage zur strukturierten Fallbearbeitung. Nach der ausführlichen Präsentation der Situation durch den Antragsteller haben alle Beteiligten die Möglichkeit, ergänzende Fragen zu stellen. Das Ethikforum prüft dann in erster Instanz, ob es sich tatsächlich um ein moralisches Problem handelt. Falls nicht, gibt das Ethikforum Empfehlungen für das weitere Vorgehen ab. Liegt ein ethisches Problem vor, erfolgt die Fallreflexion anhand der drei Schritte zur ethischen Urteilsbildung nach Rippe (2012):
1. Schritt: Wer hat das letzte Wort? – hier wird überprüft, bei wem in der beschriebenen Situation schliesslich die Entscheidungsgewalt liegt. Dies kann der betreute Mensch sein, seine Angehörigen, eine einzelne Pflegende, das Pflegeteam, der Arztdienst usw.
2. Schritt: Stehen Rechte anderer auf dem Spiel? – Egal, wer das letzte Wort hat, es dürfen keine Rechte Dritter missachtet werden. Es muss stets überprüft werden, welche weiteren Beteiligten hier involviert und von der Fragestellung tangiert werden.
3. Schritt: Ethische Güterabwägung – dieser dritte Schritt muss nur unternommen werden, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Zum einen muss das letzte Wort beim Betreuungsteam sein.
Zum anderen muss die diskutierte Massnahme auf den ersten Blick moralisch fragwürdig erscheinen – wie etwa Zwangsmassnahmen oder Freiheitsbeschränkungen. Dieser letzte Schritt erfolgt in vier weiteren Teilschritten:
1. Handelt es sich wirklich um ein geeignetes Mittel?
2. Ist die Massnahme unerlässlich?
3. Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen
4. Suche die Nachteile abzuschwächen
Nach der Entscheidungsfindung einigt sich das Forum auf eine gemeinsame Empfehlung. Es werden zudem Überlegungen angestrengt, ob es sich um einen Einzelfall handelt oder ob der besprochene Fall generalisiert werden kann, um möglicherweise eine ethische Leitlinie zu erstellen. Die Empfehlung wird ausformuliert und schriftlich dokumentiert. Bei einem generalisierbaren Fall wird der Textvorschlag für eine ethische Leitlinie erarbeitet.
Partizipation der Mitarbeitenden
Die Partizipation des Personals ergibt sich in vielerlei Weise. Zum einen können alle Mitarbeitenden an den Ethik-Cafés teilnehmen. Aufgrund der QM-Struktur ist es ihnen möglich, auf niederschwelligem Weg mittels der Fallvignetten ihre ethischen Fragestellungen einzureichen. Und Mitarbeitende aus allen Unternehmensbereichen stellen Mitglieder für das Ethikforum – die Mitgliedschaft ist nicht nur den Führungskräften vorenthalten.
Für das QMS wiederum bleibt sichergestellt, dass mit einer Ethikorganisation kein Paralleluniversum aufgebaut wird. Sowohl Mikrostruktur (z. B. Ablauf der Entscheidungsfindung) als auch der Gesamtaufbau der Ethikorganisation sind in ein festes Gefüge implementiert. Ethische Entscheide fliessen unmittelbar in das Gesamtsystem – also auch in den Verbesserungskreislauf des Betriebs – mit ein. Es ist sichergestellt, dass alle Mitarbeitenden Zugang zum System «Ethik» erhalten. Dadurch wird ausgeschlossen, dass hier ein elitäres System aufgebaut wird, welches abgekoppelt von der Basis agiert. Mitarbeitende erhalten ferner Zugang zu den getroffenen Entscheidungen. Durch die Dokumentation und Kommunikation der Entscheidungsfindung wird Transparenz und Nachvollziehbarkeit gewährt – was nicht zuletzt die Identifikation mit den Entscheidungen erhöht, und im Weiteren auch einen wichtigen Faktor für die Mitarbeitermotivation und die Personalanbindung darstellt.
Ethische Entscheide fliessen unmittelbar in das Gesamtsystem mit ein.
Standardisierte Abläufe
Alle Abläufe sind standardisiert, was wiederum den Vorgaben eines zertifizierten QMS entspricht. Dennoch erhalten die Ethiker die nötigen Freiräume, die für einen fruchtbaren Diskurs benötigt werden. Ebenso sind entsprechende Schnittstellen und andere Beteiligte berücksichtigt und in den Ablauf integriert. Der Kommunikations-/ und Informationsfluss bleibt sichergestellt. Hierzu stellt das QMS alle notwendigen Instrumente in Form von Dokumenten, Checklisten und Formularen zur Verfügung. Und dies, ohne eine überbordende Bürokratie aufzubauen.
Alle ethischen Entscheide werden «archiviert» und müssen regelmässig auf ihre Gültigkeit überprüft werden. Dadurch wird es vermieden, dass die Ethik zur Etikette oder zum noblen Aushängeschild des Systems verkommt.
Herausforderungen
Organisierte Ethik, die nur auf Papieren existiert und nicht in Managementprozessen überprüfbar und messbar umgesetzt wird, besitzt keine Wirkung. Die Implementierung erfordert sowohl eine Personalentwicklung als auch eine Organisationsentwicklung – und die Entschlossenheit der Unternehmensführung, diesen Prozess anzustossen, ihn auf Dauer zu fördern und konsequent an den Widerständen und Hindernissen zu arbeiten. Organisationen sind im Allgemeinen sehr erfindungsreich, sich gegen Veränderungsprozesse zu wehren. Davon bleibt die Einführung einer Ethikorganisation nicht ausgenommen. Eine solide Positionierung der Ethik in die strategische Planung eines Unternehmens ist aber eine wichtige Voraussetzung, um sie in der Organisation (und somit auch in das QMS) zu implementieren und um die Organisation zu durchdringen.
Eine derart enge Verzahnung wie in diesem Praxisbeispiel beschrieben, benötigt Ressourcen – abgesehen davon, dass der Unterhalt eines QMS und einer Ethikorganisation für sich selbst bereits sehr ressourcenintensive Unterfangen sind. Für die Akteure im QM bedeutet diese Verbindung einen zusätzlich hohen Aufwand. Beispielsweise muss bei jeder neuen Fallvignette die relevante Dokumentation durch das QM angepasst werden. Neben der reinen Anpassung des Dokuments muss jede Mutation registriert und historisiert werden. Auch muss sichergestellt werden, dass die Abläufe und Kommunikationswege eingehalten werden. Gerade der Kommunikations- und Überwachungsaufwand (Qualitätssicherung) war in der Einführungsphase nicht unerheblich.
Trotz des hohen Aufwands erscheint das beschriebene Vorgehen lohnenswert. Aus beiden Systemen kann das Optimum geschöpft werden. Paralleluniversen wurden vermieden – stattdessen erfolgte eine fruchtbare Symbiose zweier Systeme.