Eine berufliche Zäsur muss keine Katastrophe sein

Die Sicherheit des Arbeitsplatzes ist kein Fels in der Brandung des Lebens mehr. Ratsam also (nicht nur) für Führungskräfte, sich mit dem WAS DANN eines möglichen WENN zu beschäftigen. Dabei sind die Erfahrungen und Überlegungen des ehemaligen Outplacement-Beraters Riet Grass eine grosse Hilfe

Eine berufliche Zäsur muss keine Katastrophe sein

 

 

 

Quer durch alle Branchen wird über den Ersatz menschlicher Arbeitskraft durch automatisierte Systeme nachgedacht. Die menschliche Arbeit bekommt Konkurrenz durch Big Data und Digitalisierung, schreiben Erik Brynjolfson und Andrew McAfee in ihrem Buch «The Second Machine Age». Einer neuen Studie der London School of Economics (LSE) zufolge sind die Revolutionäre 4.0, allen voran Roboter und Algorithmen modernster Provenienz, bereits dabei, in Deutschland 51,1 Prozent der Jobs zu übernehmen. Und nicht nur die in handwerklichen und sonstigen Fertigungsprozessen. Betroffen seien zunehmend auch Tätigkeiten und Berufe, die sich vor Revolutionen im IT-Bereich weitgehend sicher wähnten: Rechtsanwälte, Ingenieure, Ärzte, Designer, Journalisten. Die vierte industrielle Revolution wird Realität. So wie die Erfindung der Dampfmaschine und des mechanischen Webstuhls die Wirtschafts- und Berufswelt verändert hat, werden auch Big Data und Digitalisierung das Arbeitsleben gravierend umgestalten. Vor einiger Zeit schon rückte Jim Clifton vom Meinungsforschungsunternehmen Gallup diese Entwicklung näher an die praktische Vorstellung heran. In seinem Buch «The Coming Jobs War» machte er darauf aufmerksam, dass von den künftig über fünf Milliarden Menschen über 15 Jahren drei Milliarden arbeiten wollen, es Vollzeitjobs aber nur für 1,2 Milliarden geben wird. Seine Prognose: Ein globaler Wettbewerb um die verfügbaren Arbeitsplätze ist zu erwarten.

Die Kraft des Universums
Kennen Sie das Märchen von der grössten Kraft des Universums? Es erzählt von den Göttern, die zu entscheiden hatten, wo sie die grösste Kraft des Universums verstecken sollten. Sie brauchten ein gutes Versteck, damit der Mensch diese Kraft nicht finden könne, bevor er dazu reif sei. Einer der Götter schlug vor, sie auf der Spitze des höchsten Berges zu verstecken. Aber nach einiger Überlegung erkannten sie, dass der Mensch die höchsten Berge ersteigen und die grösste Kraft des Universums finden würde, bevor er dazu reif sei. Ein anderer Gott sagte: «Lasst uns diese Kraft auf dem Grund des Meeres verstecken.» Aber wieder erkannten sie, dass der Mensch auch diese Region erforschen und die grösste Kraft des Universums finden würde, bevor er dazu reif sei. Schliesslich sagte der weiseste Gott: «Ich weiss, was zu tun ist. Lasst uns die grösste Kraft des Universums im Menschen selbst verstecken. Er wird niemals dort danach suchen, bevor er reif genug ist, den Weg nach innen zu gehen.» Und so versteckten die Götter die grösste Kraft des Universums im Menschen selbst.

 

Nicht von ungefähr erzählt Riet Grass dieses Märchen. Er- und durchlebte er als erfolgreiche Führungskraft nach einem Eigentümerwechsel «seiner» Firma doch persönlich den beruflichen Wettersturz, auf den, so sein Rat, heute jeder gedanklich vorbereitet sein sollte. Die Auseinandersetzung mit und die Verarbeitung dieser Erfahrung lehrte ihn: Scheitern lässt sich zu einem ungeahnten Glück wenden, wird die darin versteckte Chance erkannt, zu sich selbst und über diesen «Umweg» zu einer ungeahnten Kraftquelle zu finden

Auf die innere Stimme hören
Was ihn in eine erfüllende neue berufliche Aufgabe führte, legt er deshalb auch anderen ans Herz: Nutzen Sie die ungewollte Befreiung von unmittelbaren beruflichen Pflichten und hören Sie tief in sich hinein: Gibt es da vielleicht leise Stimmen, die von einem unbewussten oder bewusst immer wieder unterdrückten Wunsch nach einer beruflichen Neuorientierung wispern? Forschen Sie ihnen nach, entschlüsseln Sie deren Botschaft. Und entdecken Sie dabei die Kraft, die Ihnen aus dieser Hinwendung nach innen zuwächst und Ihnen ermöglicht, ein am eigentlichen eigenen Wollen orientiertes neues berufliches Fundament zu legen.

 

Dieser Weg hat Riet Grass dahin geführt, aus dem beruflichen Scheitern als Personalchef heraus eine eigene OutplacementFirma aufzubauen und erfolgreich zu führen. Er war Begleiter in zahlreichen persönlichen Grenzsituationen. Aus dieser Erfahrung entstand nun, nachdem er altersbedingt seine Firma in neue Hände gegeben hat, das Buch «Das Glück des Scheiterns – Karriere- und Krisenmanagement im 21. Jahrhundert», in dem er Scheitern als Grenzsituation interpretiert, als eine Weggabelung. Der eine Weg: So schnell wie nur irgend möglich zu versuchen, den Makel und das Stigma dieses vermeintlichen beruflichen Versagens durch eine in den gewohnten Schienen weiterlaufende Neuanstellung auszulöschen und vergessen zu machen. Der andere Weg: Aus den beruflichen Zufälligkeiten auszusteigen, die viele Karrieren in ihrem Anfang die Richtung geben und sie dadurch im Zeitverlauf zu einem oft selbstfernen, aussengeleiteten, vielfach auch leeren, Kräfte verzehrenden anstatt Kräfte erschliessenden Marionettenspiel machen, an dem andere die Fäden ziehen.

 

Grass belegt mit Fall-Beispielen: Der Schock einer unvorhergesehenen Entlassung kann einen Reifeprozess anstossen, der tatsächlich die im Menschen verborgene stärkste Kraft des Universums zu erschliessen vermag. Und so zukünftige berufliche Wege eröffnet, die, zugespitzt gesagt, aus sich heraus regenerativ wirken anstatt degenerativ im Sinne eines allmähliche immer selbstferneren Arbeitens und LeererWerdens bis hin zum schliesslich von beruflichen Ängsten gequältem Ausbrennen. Und: Die Kraft, Halt und Ruhe im Leben gebenden Werte und Ziele offenbaren sich nur in der Wendung nach innen. Ein Vers des Dichters Friedrich Rückert zeigt treffend, worauf Grass hinweisen und hinaus will: «In jedem steckt ein Bild des, was er werden soll./ Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.»

Gefangen in Ansprüchen
Grass weiss nur zu gut, in diesem heiklen Moment der beruflichen Leere verquirlt sich im Kopf ein Höllenkarussel an Fragen zu einem als grundstürzend empfundenen Paket aus Sorge, Angst und Scham. Und das umso höllischer, beliebt der Partner, anstatt mit Einfühlungsvermögen, Verständnis und Umsicht die Situation tragen zu helfen, sie stattdessen mit Vorwürfen, Forderungen und anklagenden Hinweisen auf das Meinen der anderen weiter aufzuheizen. Dem zum Trotz rät Grass zur Selbsterforschung: Tue ich klug daran, mich nur möglichst schnell wieder unter die anderen zu mischen und mich mit den anderen auf einer nach oben hin zunehmend enger werdenden Kreisbahn fremdbestimmt um ein Zentrum zu drehen, das überhaupt nicht der Mittelpunkt meines Universums ist? Seine Beispiele offenbaren, es ist nicht ratsam, sich vor dieser Frage zu drücken und ihr auszuweichen.

 

Beruf, darauf will der mit allen aus einer Entlassung aufquellenden menschlichen Befindlichkeiten in Berührung gekommene Outplacer Grass aufmerksam machen, hat nicht lediglich damit zu tun, das oder möglichst viel Geld für den Lebensunterhalt, die Freizeit- und sonstige Bedürfnisse zu verdienen. Insbesondere auch die der Familienmitglieder nach dem Muster des Grimm’schen Märchens «Von dem Fischer un syner Frau». Der Fischer teilt die Wünsche seiner Frau nicht, beugt sich aber trotz wachsender Angst ihren Ansprüchen. Was bekanntlich zu nichts Gutem führt. Lernen zu scheitern Gerade im Moment der manifesten beruflichen Krise sollte die Frage nach dem persönlichen Lebensauftrag, aus dem sich Lebenssinn und in der Folge dann Lebensfestigkeit und Lebensfreude ergeben, unter keinen Umständen von sich geschoben werden. Der kauzige dänische Philosoph Sören Kierkegaard trifft den Punkt dessen, worauf Grass hinführen möchte, wenn er mahnt: «Es gilt im Leben aufzupassen, wann das Stichwort für einen kommt.» Gerade in der bodenlosen Lebenslage einer Entlassung sollte es darauf ankommen, mit Achtsamkeit die Balance zwischen den äusseren Anforderungen und mir selbst, meinem Inneren zu suchen. Dann kann das Innere frei(er) von fixen Mustern werden und weiterführende Lösungen von Problemen können sich zeigen und entwickeln.

 

Scheitern zu können, ohne selbst zu scheitern. Scheitern in der Abwendung von der selbstentfremdenden Aussenorientierung durch die Hinwendung auf sich selbst als Glück erleben zu können, wie das gelingen könnte, Grass beschreibt diesen Weg bebildert mit Ruhe ausstrahlenden Naturfotografien von Bergtouren in sechs Kapiteln: Reflexion; Vision; Präsentation; Motivation; Realisation; Konklusion…oder warum Passion der Schlüssel zum Glück ist. Den leitenden Gedanken, der ihn dabei bewegt, komprimiert er zu der Frage: Was will mir die Krise sagen? Die Bereitschaft, sich auf diese Frage einzulassen, sich in ihr voranzutasten, sich den gefundenen Antworten zu stellen, diese Bereitschaft ist für Grass der Quellgrund des Glücks, das aus dem Scheitern erwachsen kann.

(Visited 166 times, 1 visits today)

Weitere Artikel zum Thema