Hannes zeichnet Prozesse neu
Das Unternehmen von Hannes hat einmal mehr eine grössere Reorga-nisation hinter sich. Offiziell redet man von «Neuausrichtung und An-passung an die neuen Marktbedürfnisse», «fit machen für die Zukunft» und «sich neu aufstellen, um noch schneller in einem immer komple-xer werdenden Markt vorne mitzuspielen».
Das Unternehmen von Hannes hat einmal mehr eine grössere Reorga-nisation hinter sich. Offiziell redet man von «Neuausrichtung und An-passung an die neuen Marktbedürfnisse», «fit machen für die Zukunft» und «sich neu aufstellen, um noch schneller in einem immer komple-xer werdenden Markt vorne mitzuspielen».
Nach interner Leseart werden aufgrund der miserablen Kosten-struktur Teilbereiche abgebaut und das Leistungsangebot einge-schränkt. Wie schon einige Male in den letzten Jahren.
Diesmal greift der Wandel aber tiefer in die Strukturen ein. Ver-tikalisierung und Schnittstellenoptimierung heisst nichts anderes, als dass alles effizienter und effektiver werden soll. Die Servicebereiche «Kundendienst», «Verkauf» und «Personalentwicklung» werden aufge-hoben, die Produktbereiche in eigene Geschäftsbereiche aufgeglie-dert. «Kundendienst» bis «Personalentwicklung» wird neu dort ir-gendwie stattfinden. Der Zweck: Alles wird kontrollierbarer und die Kosten sind klarer zuzuteilen. Als Nebenprodukt haben die Kunden pro Bereich nur noch einen Ansprechpartner – wenigstens offiziell.
Die neue Matrix soll helfen
Das «Umdrehen der Matrix-Organisation», mit der im Grunde keine einzige Schnittstelle beseitigt wird, bloss die Funktionslinien sich an anderen Orten kreuzen, zieht aber nach sich, dass die Prozesse neu aufgesetzt werden müssen. Die Funktion «Prozessverantwortung» ob-liegt neu der Produktionsleitung von Hannes.
Er setzt sich hin und beginnt beim Einfachen. Er zeichnet den Ablauf einer Reklamation. Das Wort «Reklamation» wird allerdings nicht mehr verwendet. Neu heisst es «konstruktive Kundenreaktion». Damit wird das Positive betont und dem Satz aus dem Leitbild «Rekla-mation sind Chancen» neues Leben eingehaucht.
Hannes lädt sich die Software zum Zeichnen der Prozesse neu herunter. «Kunde ruft an». Hier lauert bereits die erste Hürde, da es keinen zentralen Kundendienst mehr gibt. Neu behandelt jeder Be-reich die konstruktiven Kundenreaktionen selber. Denn schliesslich soll jeder Kunde nur noch einen Ansprechpartner haben. Derjenige, der das Produkt verkauft hat, soll auch geradestehen, wenn es nicht funktioniert.
Die Reklamation wird zum Musterprozess
Nochmals von vorn: «Kunde ruft an». Die Hürde wird gemäss dynami-schen Gepflogenheiten mit einer Warteschlaufen-Triage gemeistert. Der Kunde erhält die Ansage «please-hold-the-line – das Gespräch kann zu Qualitätszwecken aufgezeichnet werden» und anschliessend die Einla-dung «für eine konstruktive Kundenreaktion zum Produkt A wählen Sie die 1, zu B die 2» und so weiter. Um niemanden zu diskriminieren, muss man zum Schluss noch «mit der Zusatzzahl 7 für deutsch, 8 für englisch, 9 für andere Sprachen» der Sprachenvielfalt gerecht werden.
Das passt. Hannes macht eine Zwischenspeicherung. Nach dieser Triage landen die Kundenanfragen nun bei der Produktdivision. Aber bei wem? Die vier Stellen aus dem aufgehobenen Kundendienst wur-den auf die sechs Divisionen aufgeteilt. Somit sind nur an sechs Stun-den pro Tag die Leitungen besetzt. Also gilt es einen Ringruf einzuschal-ten, die Stellvertreterregelung zu organisieren und im Prozessdia-gramm abzubilden.
«Das macht Sinn», redet sich Hannes zufrieden ein. Schliesslich können wir so rasch auf die Marktbedürfnisse reagieren. Jeder Kunde soll im richtigen Bereich landen – wenn er denn ankommt.
Er designt weiter. Um die Kostentransparenz zu steigern (das kommt ja alles irgendwie dem Kunden zugute – Hannes weiss nur noch nicht wie), soll sich die durchschnittliche Wartezeit in den Bereichen konzentrieren. Das bedeutet, dass die Kunden in den Bereichs-Warte-schleifen ausharren, wenn sie schon warten müssen. Das Kundenerleb-nis gestaltet sich also so, dass er nachdem er sich durch die Produkt-und Sprachwahl geschlagen hat – in die definitive Warteschlaufe ge-langt.
Der Kunde wird sich freuen
Dazu braucht es eine nächste Ansage, die Hannes im Prozessdiagramm notiert: «Herzlichen Dank für Ihre konstruktive Kundenreaktion. Wir freuen uns über Ihre Offenheit. Zurzeit sind leider alle unsere Kun-denberater besetzt und können Ihre konstruktive Kundenreaktion nicht entgegennehmen.» Um aber nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass das Unternehmen zu viele solche Reaktionen hat, wird gleich der nächste Standard in die Voice-Box gesetzt «Ihr Feedback freut uns und bringt uns weiter».
Hannes ist stolz. Mit diesem Satz wird suggeriert: «Je länger man wartet, desto mehr Fortschritt wird nächstens gemacht». Das ist der Schüssel zu mehr Marktnähe. Einmal mehr wird Hannes sich bewusst, dass Papierübungen und Organigramm-Verschiebungs-Projekte durchaus Kundenrelevanz haben. Hannes speichert das Diagramm «konstruktive Kundenreaktion» ab und macht sich an den Prozess
«verlorene Kunden zurück gewinnen».