Innovation oder Compliance?
Während die Pharmaindustrie die vielen Registrierungen und Zulassungsbewilligungen längst gewohnt ist, erreicht nun eine Regulierungswelle auch die Medizintechnik-Firmen. Am 5. April 2017 nämlich verabschiedete das EU-Parlament die neue Medizinprodukte-Verordnung.
Die Schweizer MedTech-Branche hat volkswirtschaftliches Gewicht: Gemäss der Schweizer Medizintechnikindustrie(SMTI)-Branchenstu-die von 2016 erwirtschaftete dieser Industriezweig 2015 einen Um-satz von CHF 14,1 Mrd, was 2,2 Prozent des Bruttoinlandproduktes entspricht. Allein für CHF 10,6 Milliarden wurden Produkte expor-tiert, hauptsächlich nach Deutschland und in die USA. Rund 1400 Un-ternehmen – Hersteller, Zulieferer, Dienstleister und Handelsunter-nehmen – beschäftigen gegen 55 000 Mitarbeitende.
Kostendruck und Innovationsbedarf
Geprägt ist die Schweizer MedTech-Industrie durch ein paar grosse Player wie Synthes, Sonova oder Straumann, aber auch stark durch Kleinunternehmen. Beim Grossteil von ihnen dürfte es sich um Fir-men mit weniger als 30 Mitarbeitenden handeln. Ebenfalls ein Merkmal ist eine starke Fragmentierung nach Produkten: Von Hör-geräten über Herzschrittmacher und Gelenk-Implantate bis hin zu Spritzen oder Operationshandschuhen reicht die Spannweite – High-tech trifft auf Verbrauchsmaterial, und dies alles im Dienste des Pati-enten.
Die Schweizer Player bewegen sich in einem globalisierten Markt. Wie andere Branchen steht auch die MedTech-Industrie unter erhebli-chem Kostendruck. Die Herstellkosten machen Schweizer Produkte im internationalen Bereich teuer – was aber kein Nachteil sein muss, solange die Qualität stimmt. Anderseits wächst aufgrund der stetig steigenden Gesundheitskosten die Nachfrage nach günstigeren Produkten. Aber kleine Nischen-Player können häufig gar nicht günstig produzieren, es sei denn, sie verlagern die Herstellung in Länder mit tieferen Lohnkosten.
Dafür spielt Innovation eine entscheidende Rolle. Hier sind Schweizer Unternehmen mehrheitlich gut aufgestellt. Allerdings: Neue Produkte benötigen neue Zulassungen. Und diese zu erhalten, ist eine langwierige Angelegenheit. Indes: «Innovationen sind sehr wichtig, vor allem solche, die Grundlegendes verändern sollen», so Martin Rohrbach, Sektorleiter Life Sciences von KPMG Schweiz. Er nennt ein Beispiel: «Nehmen Sie die künstlichen Hüftgelenke: Das war eine bahnbrechende Erfindung in den 1960er-Jahren. Seit damals wurden die Produkte zwar stetig verbessert, aber revolutionäre neue Ansätze gab es kaum. Heute muss es deshalb darum gehen, Bestehen-des auch grundsätzlich zu hinterfragen.»
EU-Verordnung bringt Mehraufwand
Der Grossteil der vielen kleinen Schweizer MedTech-Unternehmen bewegt sich in Nischen mit hoher Spezialisierung. Das ist ein Erfolgs-modell, denn hochpräzise Produkte mit ebenso hoher Qualität wer-den stark nachgefragt. Doch dieses Erfolgsmodell gerät nun unter Druck durch neue Regulierungen. «Für Nischenplayer wird es zuneh-mend schwieriger, mit den bestehenden Geschäftsmodellen im Markt mithalten zu können», warnt Martin Rohrbach. Der Grund dafür liegt in einer neuen EU-Verordnung für Medizinprodukte (MDR) und für In-vitro-Diagnostika (IVDR). Diese beiden Verordnungen treten schon im Mai dieses Jahres in Kraft, allerdings mit Übergangsfristen von 3 (MDR) bzw. 5 Jahren (IVDR). Der Dachverband für Schweizer Medizintechnik FASMED sieht denn auch sofortigen Handlungs bedarf, und zwar an zwei Fronten: Einerseits müsse sich die Schweiz wie die EU-Mitglieder auf «gravierende Umstellungen» vorbereiten. Es geht um zusätzliche und verschärfte Anforderungen für die gesam-te MedTech-Wertschöpfungskette. Produkte müssen registriert und ihre Rückverfolgbarkeit lückenlos sichergestellt werden. «Das Regel-werk umfasst 1000 Seiten. Alle die darin genannten Vorschriften zu identifizieren und zu befolgen, ist eine Herkules-Aufgabe für die Un-ternehmen», weiss Martin Rohrbach. Die FASMED bereitet deshalb eine Task Force vor, welche Unternehmen bei der Implementierung der EU-Regelungen unterstützen soll.
Unternehmen und Gesetzgeber sind gefordert
Andererseits muss sich auch die Schweizer Gesetzgebung an die EU-Verordnung anpassen, damit hiesige Unternehmen ihre Produkte auch inskünftig ohne zusätzliche Hemmnisse in die EU exportieren können. Bis 2020 will deshalb das BAG die Schweizer Medizin produkte-Verordnung komplett revidieren.
Es ist nicht so, dass für Medizintechnik-Produkte zuvor gar keine Regeln gegolten hätten. So benötigen etwa Implantate-Hersteller für ihre Produkte, die sie in die USA exportieren wollen, erst die Zulassung durch die FDA (Federal Drug Administration). Und auch schon längst existieren diverse Industrie- und GMP-Standards. Für den Bereich der Medizinalprodukte bedeute die neue Verordnung deshalb eine Mo-dernisierung bestehender Regelungen, wie die Branchenorganisation MedTech Europe schreibt. Sie begrüsst denn auch diese neuen Verord-nungen, da sie letztlich der Patientensicherheit dienten.
Wie dem auch sei: Trotz Übergangsfristen muss es nun schnell gehen. Und ob dies reibungslos vonstatten gehen wird, steht in den Sternen. «Denn noch ist nicht ganz klar, wie die Software für die Pro-dukt-Registrierung genau funktioniert», weiss Martin Rohrbach. Er rechnet deshalb damit, dass es zu Engpässen kommen wird, weil nicht zugelassene Produkte nicht mehr verwendet werden dürfen. Für Un-ternehmen stellt sich gleichsam eine Gretchenfrage, wie Rohrbach weiter ausführt. «Ein mittelgrosser Medizinalprodukte-Hersteller er-zählte mir neulich, er stehe nun vor der Wahl: Er könne mit seinen bestehenden Ressourcen entweder innovativ oder compliant sein. Beides zusammen gehe nicht mehr.» Nicht auszudenken, wie sich die Lage für einen Implantate-Hersteller präsentiert, der nun jede einzel-ne Schraube EU-konform registrieren muss …
Chance für längst fällige Konsolidierung
Auch wenn hier der Regulator stark in den Markt eingreift: Gänzlich negativ zu sehen, ist dies gleichwohl nicht. Immerhin kommen die neuen Verordnungen aus der EU ohne ein «Bürokratiemonster» einer zentralen Zulassungsbehörde à la FDA aus. Und auch längst nicht für alle Medizintechnikprodukte sind – wie etwa in der Pharmaindustrie üblich – umfangreiche klinische Studien notwendig. KPMG-Experte Rohrbach sieht die EU-Regulierungen aber als «Gamechanger» für die gesamte Branche. Dies biete aber durchaus auch Chancen für eine Konsolidierung. «Gerade kleinere Player sollten verstärkt die Koope-ration mit Partnern suchen. Die verstärkte Zusammenarbeit zwi-schen Herstellern und Fachärzten kann sich innovationsfördernd auswirken.» Auch einer Akquisition durch einen grösseren Player solle man sich nicht vollends verschliessen. Gleichwohl werden viele kleinere Player vom Markt verschwinden, es sei denn, es gelingt ihnen, in neue, weniger regulierte Bereiche vorzustossen. Und als Vor-teil dürfte sich langfristig einmal mehr der Werkplatz Schweiz mit sei-nen gut ausgebildeten Fachkräften und einer guten Position im Steuerwettbewerb erweisen. «Denn Zulassungen für Medizinproduk-te werden letztlich immer mehr global geregelt», so Rohrbach.