Neue Dimensionen der Krisenkommunikation
Dass es Krisen gibt, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Es gibt heute mehr unternehmerische Herausforderungen, geschweige denn Skandale und Wortge- fechte, als man denkt. Nicht nur über die üblichen Medien und Foren, neustens werden exponierte Unternehmen auch über Social-Media-Plattformen unter Druck gesetzt.
Im Gegensatz zu kursierenden Waren- und Produktefehlern bleiben Image- und Reputati- onsverluste viel länger in Erinnerung. Beson- ders hellhörig wird die Öffentlichkeit bei Fehl- griffen oder Übertretungen, die führende Ex- ponenten und Konzerne eingehen. Experten sprechen von unterschiedlichen Wahrneh- mungssilos, was die öffentliche Meinung zur Krisengewichtung anbetrifft.
Wo einst Messen als gesellschaftliche Ba- rometer für Kommunikationsprozesse dien- ten, kursieren heute Eilmeldungen auf Twitter und Konsorten. Ein Unternehmen eines Händ- lers, welches sich beispielsweise mit Falschde- klarationen über angebliches Schweizer Fleisch in eine Krise manövriert, erholt sich eher als ein Konzern, der plötzlich mit immateriellen Faktoren wie Viren oder auch nur Gerüchten konfrontiert wird.
Quasi als einen Präzedenzfall in Sachen Risk Monitoring vor der Social Media Era gilt etwa die Schmuck- und Uhrenmesse Basel- world. Eine vom Schweizerischen Bundes- amtes für Gesundheit (BAG) erlassene Verfü- gung sorgte 2003 für heisse Köpfe. Denn erst eine Weile nach der Veranstaltung konnte die Messeleitung Beschwerde einlegen gegen die verordnete Massnahme des BAG, wegen des aufkommenden SARS Syndroms (Severe Acute Respiratory Syndrome; die Prävalenz der Seuche lag bei 150 pro Milliarde Einwoh- ner. Weltweit starben an der SARS im Jahr 2003 gegen 1300 Menschen.), die aus Hong- kong, Singapur oder Bangkok eintreffenden Schmuck- und Uhrenverkäufer zu stoppen beziehungsweise abzuweisen.
Die öffentliche Meinung
Die Quintessenz der MCH Group, welche die Weltmesse inzwischen souverän leitet: Das BAG sei im April 2003 zu forsch gegen Händler vorgegangen. Die Baselworld verzeichnete 2003 einen Besucherrückgang um 22 Prozent – Zürich floppte scheinbar so extrem, dass man nie wieder in Oerlikon eine Uhrenmesse in die Wege leitete. Insider meinen ebenso: Am negativen Output seien neben den Bundesbehörden auch tendenziöse Medien «Schuld» gewesen. Die verfügten Massnahmen des BAG seien weder geeignet noch erforderlich gewesen, um das Ziel – Minimalisierung der Ansteckungsgefahr; Verhinderung von Panikverhalten – zu erreichen.
Journalisten resümierten jedoch während der Baselworld, dass mehrere Tausend Personen aus betroffenen Ländern bereits vor Ort ihre Geschäfte durchführten. Zeitungen wie «Die Welt» thematisierten auch das organisatorische Dilemma des BAG. Ihr plötzliches «Beschäftigungs-Verbot» hätte asiatische Händler und Aussteller aus der Messe in andere externe Boutiquen und Hotellobbys vertrieben – ohne über medizinische Kontrolle, ohne über Wissen zu ihrem örtlichen Verbleiben zu verfügen.
Die Bevölkerung, schliesslich auch Schweizer Uhrenhersteller und Presseverantwortliche wussten jedenfalls nicht, wie sie mit dieser Ausnahmesituation – kurz noch vor der Einführung von Push- und Alarmierungsmeldungen – umgehen sollten, und doch brodelte es.
Definition einer Krise
Kommunikation ist immer eine Frage der Per spektive. Inwiefern ein Fehler zum Ereignis, gar zum öffentlichen Krisenfall hochschnellt, hängt von Stakeholdern wie bei obigem Beispiel von Hygienikern, Experten, Sprechern, Produzen-ten, Konsumenten, sicherlich auch von den Medienvertretern ab.
Selbstverständlich ist es evident, zu dif-ferenzieren, welche internen oder externen, absichtlichen oder fahrlässigen Elemente wirklich eine «Krise» bilden. Jedes Unterneh-men und jede Entität muss für sich selber de-finieren, was eine eigentliche «Krise» bildet. Selbst eine Risikoanalyse kann in sich grosse Bewertungslücken bergen. Viel zu oft werden Risiken nur ungenügend systematisch und nicht vor Ort entsprechend den Tatsachen identifiziert. Diese fehlen dann in der Ge-samtbeurteilung. Oder die Risikobeschrei-bung basiert lediglich auf zwei Parametern:
Eintrittswahrscheinlichkeit und Schaden-ausmass. – Da in den meisten Unternehmen vergangenheitsorientierte, vage statistische Werte für die Bezifferung der Eintrittswahr-scheinlichkeit fehlen, werden Schätzungen aus dem Magengefühl durchgeführt. Besser ist die Risikobeschreibung mit verschiedenen Risikoindikatoren und -treibern, wobei der Eintrittswahrscheinlichkeit eine minimere Gewichtung in der Gesamtbeschreibung zu-geteilt wird.
Der Risikomanagement-Prozess nach ONR 49001
Medienleute – wie übrigens auch Endkonsu-menten – tendieren meist dazu, in einem Sze-nario einen regelrechten Systemfehler zu er-kennen. Diese Strategie ist auf fachlicher Ebene kontraproduktiv.
Hierzu könnte man Peter Sloterdijk zi-tieren, der über verrückte, bedrohliche Ereig-nisse sagte («Man sollte nie etwas für unmög-lich halten», Blick-Interview vom 19.03.2017): «Das ist ein Effekt aus missglückter Verarbei-tung von Nachrichten. Eine Gefahr erleben wir, wenn wir im Busch einem Löwen begeg-nen. Gefahr bedeutet eine präsente Bedro-hung für Leib und Leben. Ein Risiko jedoch ist die mathematisch ausgedrückte Wahrschein-lichkeit eines Schadens.»
Offenbar ist jeder Mensch derart durch alte Muster «programmiert», dass er «Risiko gleich in Gefahr übersetzt – das Risiko im Massstab eins zu einer Million vergrössert», erklärt Sloterdijik. Der Philosoph sieht den zeitgenössischen Menschen als jemanden, der Defizite darin zeigt, historische Unterschiede und mediale und psychologische Feinheiten differenzieren zu können.
«Der Winterthurer Virus»– eine Stereotypisierung
Die Schweizer Medien sprachen einst auch vom «Winterthurer Virus» und befürchteten das Schlimmste, als im Kantonsspital Winterthur (KSW) über das letzte November-Wochenende 2004 rund 200 Patienten und Mitarbeitende an einer Lebensmittelvergiftung litten. Es schien als ob, ein Norovirus-Typ das Image des zehnt-grössten Spitals der Schweiz auflöste.
Typen des Norovirus treten immer wieder auf. Sie können sich über den Hand-Mund-Kon-takt verbreiten. Man vermutet, dass es sich teil-weise auch über die Luft, sicher über menschli-che Flüssigkeiten und Tröpfchen an Objekte und Menschen überträgt. Der verantwortliche Hygi-eniker des KSW, Dr. Reinhard Zbinden, ging da-von aus, dass das Virus von aussen ins Winter-thurer Spital eingeschleust worden war.
Zbinden schloss dies aus zivilen Rück-meldungen sowie anhand von sechs Patien-ten, die am Samstag, 27. November – dem Epidemiestart –, bereits infiziert eingeliefert worden waren. Im Zeitraum vom 27. Novem-ber bis zum 17. Dezember erkrankten am KSW insgesamt 579 Personen am Norovirus. Bei 215 davon handelte es sich um Patienten, die restlichen 364 Infizierten waren Mitar-beiter des Spitals.
Am meisten Neuerkrankungen ergaben sich kurz nach Erkennen der Epidemie, bevor die Massnahmen dagegen greifen konnten. Die Auslöser der Magendarm-Epidemie kennt man auch heute nicht genau. Waren es ver-seuchte Hühnchen, die im Raum Winterthur ausgeliefert wurden, war es eine allgemein schlechte Hygiene bei Spitalmitarbeitenden?
Studien gehen davon aus, gegen 40 Prozent des medizinischen Personals würden sich im Normalfall nicht an die Standardvorschrift des regelmässigen Händewaschens halten. Reinhard Zbinden veranlasste frühzeitig, Pflegearbeiten hygienisch über Einweg-Handschuhe auszuüben.
Erkrankte Noro-Patienten wurden unter Quarantäne gestellt. Dies stellt für ein Akutspital wie das KSW, mit einer Kapazität von 500 Betten und sonstigen OP-Notfällen, ein komplexes Problem dar, welches dann von der Spitalleitung als Krisensituation eingestuft wurde. Nichtsdestotrotz entschied sich die Spitalleitung, die Küche auf gewohntem Qualitätsniveau weiterzuführen.
Andreas Widmer, der Leiter Spitalhygiene des Universitätsspitals Basel, unterstreicht: «Es gibt nicht den Norovirus. Alle Noroviren mutieren. Daher kann man sich sogar mehrere Male anstecken.» Je nachdem sei auch die Empfindlichkeit auf das Virus unterschiedlich. – Nicht nur Angestellte sollten im Umgang mit solchen Epidemien geschult werden, auch Medienverantwortliche sollten Ursachen und eintretende Effekte zuerst verstehen – bevor sie Kontroversen in der Bevölkerung lostreten.
Digitale Stürme
Ob Fehlverhalten von Gemeindevorstehern, Insolvenzen oder vergammelte Lebensmittel: Unternehmensverantwortliche stehen so schnell am medialen Pranger wie noch nie. Die allgemeine Forderung nach Transparenz und die vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten über Social Media lassen leitende Angestellte «wie Fische im Aquarium» erscheinen.
Es scheint, Geheimnisse zu wahren und Verfehlungen vor der Öffentlichkeit zu verbergen, wird immer schwieriger. So musste ein Pharma-Chef den astronomischen Preis eines Aids-Medikaments herabsetzen, nachdem heftige Proteste auf ihn und sein Unternehmen niederprasselten. Das zeigt: Es fehlt nicht nur am Preis-, sondern oft auch an einem Issue-Management zur Einschätzung seiner potentiellen Bedarfsträger und Kunden. Darüber hinaus sollte man jedoch Krisenmanagement «trainieren».
Gewiss hilft eine frühzeitige Beobachtung aller Kommunikationskanäle, darunter auch jene der digitalen Medien, um Gefahrenpotenziale frühzeitig noch steuern zu können. Denn die Digitalisierung hat dazu geführt, dass sich die Kommunikation in der Gesellschaft deutlich verändert: weg von einer ausschliesslich offiziellen Berichterstattung hin zur fast totalen Interaktion über verschiedene Kommunitäten und soziale Kanäle hinweg. Schliesslich gilt:
Richtiges Issue Monitoring bedeutet, nicht nur Daten kontinuierlich auszuleuchten und zu moderieren, es bedeutet, in aussergewöhnlichen Krisen möglichst so zu kommunizieren, dass die Reputation nicht schwindet.