Dosierte Therapien
Ihre provokativen Thesen motivieren nicht nur volle Auditorien, sondern auch polyvalente Konzernleiter. Die selbsternannte Digital-Therapeutin spricht ebenso überlasteten Kommunikatoren wie unmethodischen Datenjongleuren aus dem Herzen. Anitra Eggler über Sinn und Unsinn unserer vernetzten 24/7-Omnipräsenz.
Dauerabgelenkt durch Chats und ständige Onlinepräsenz – süchtig nach «Likes statt Lob, Emojis statt Küsse » (O-Ton Anitra Eggler) – zerstreut unsere Aufmerksamkeit in einem weissen Rauschen der Suchmaschinen und Algorithmen. Es scheint, die Digitalisierung kennt keine Empathie oder Pausen, «doch das Betriebssystem ist der Mensch, der die inzwischen bereits über 20 Jahre alten ‹neuen› Medien naiv verinnerlicht hat», kritisiert Anitra Eggler.
Laut Buchangaben therapiert die deutsche Autorin und Rednerin den digitalen Wahnsinn und pathologische Abweichungen wie beispielsweise das «Sinnlos-Surf-Syndrom ».
Frau Eggler, wo liefert Ihrer Meinung nach der digitale Wandel ein Szenario für den «Wahnsinn»?
Anitra Eggler: Kritisch wird es etwa, wenn Menschen während einer Besprechung an ihr Mobile gehen, um zu verkünden, dass sie nicht drangehen können. Kritisch wird es überdies, wenn sich Menschen mit ernstzunehmendem IQ durch völlig unwichtige Dinge «ablenken lassen»: Plötzlich wird das WhatsApp-Tierfoto, die Viagra-Spam- Mail von vorgestern wichtiger als die eigene Familie oder das betriebliche Jahresbudget. – Das ist schierer Wahnsinn.
Was verstehen Sie unter gesundem Menschenverstand?
Es braucht dringend ein Upgrade auf den gesunden Menschenverstand. Medienkompetenz ist Menschenverstand und umgekehrt. Leider steuern wir auf eine Art digitale Leibeigenschaft zu. Wir müssen unsere Digitalika konfigurieren – unsere Aufmerksamkeit steuern. Dewegen sollten wir erst recht nicht kapitulieren, sämtliche (Aus-)Nutzungsbedingungen naiv auszufüllen.
Woran erkennt man den richtigen Zeitpunkt für «Digital Detox»?
Der richtige Zeitpunkt ist immer: jetzt! Es geht nicht darum, zwingend weniger online zu sein, aber es geht darum, besser online zu sein. «Work smarter, not harder», sollte unser Credo sein, und dazu muss sich jeder Zeit nehmen, Computer, Software und Handys zu konfigurieren. Ein kleiner sozialer Segen: Es gibt zum Beispiel fabelhafte Tutorials auf Youtube.
a) … bei sich selbst?
Wenn man mit dem Smartphone ins Bett geht, mit ihm aufsteht, wenn man das Gerät in Summe mehr beachtet als die Menschen, die man am meisten liebt. Wenn man nur noch reaktiv ist und sich von der digitalen Kommunikation und dem täglichen Mobile-Tohuwabohu treiben lässt.
b) … bei Mitarbeitenden?
Senden Sie eine inhaltlich belanglose E-Mail an Ihre teuersten Mitarbeiter. Diejenigen, die in Nanosekunden antworten, sind wahrscheinlich nicht die produktivsten Mitarbeiter, sondern arme Mail-Junkies, die sich von ihrem Posteingang sagen lassen, was sie als Nächstes priorisieren.
In jeder Mailbox lauert die nächste Arbeitsunterbrechung. So was kostet erst die Konzentrationsfähigkeit, dann die Motivation, dann das Jahresergebnis.
Wer kommt heute wegen einer Digital- Therapie auf Sie zu?
Ich verwende diesen Begriff mit einem Augenzwinkern. Meine «Therapie» verabreiche ich mittels Referaten. Die Vorträge buchen Verbände und Unternehmen. Warum braucht die Wirtschaft eine Therapie? Weil sich viele im digitalen Hamsterrad gefangen fühlen und wieder raus möchten. Paradox: Dank der Digitalisierung könnten wir so viel Zeit sparen wie noch nie. Wir könnten so viel produktiver, effizienter, kreativer arbeiten und auch kommunizieren. Das Gegenteil ist jedoch eingetreten, wir sind permanent in Zeitnotstand, arbeiten mehr denn je und erzielen schlechtere Ergebnisse. Die Burnout-Rate hat sich wahrscheinlich wegen der Digitalisierung verfünzigfacht. Meine Bücher geben vielen – vom Digital Native über den Vorstandsvorsitzenden bis zur WhatsApp-Omi – Ratschläge.
Meinen Sie, unsere Multioptions- und post-politische Gesellschaft wirklich verändern zu können?
Zurzeit sind wir alle Versuchskaninchen im Grossversuch «Digitalisierung». Ich war 1998 eine Pionierin der Branche. Ende der Nullerjahre war ich dann eine der ersten, die vor Ne-benwirkungen warnte – ich bin jedoch nicht allwissend, habe aber digital durch meine Internetkarriere bereits mehr Kochplatten als andere berührt. Ich weiss, wo es heiss ist und wie man Brandwunden durch Wissen verarztet. Ich kann jedem einzelnen Menschen nur Tipps geben, den Spiegel vorhalten und Menschen aufrütteln. – Das ist wie mit dem Rauchen. Aufhören muss jeder selbst.
Inwieweit ist die «Versklavung» durch E-Mails und Smartphones auch eine Geschlechter- oder Generationenfrage – Ihre Beobachtungen?
Meiner Meinung nach versklaven sich junge Menschen und die WhatsApp-Omi gleichermassen, weil Handys Dopamin-Dealer sind. Vielleicht zocken Männer etwas mehr, Frauen chatten etwas mehr. Am Ende ist das Ergebnis jedoch gleich fatal: Dauerablenkung. Verlust von Konzentrationsfähigkeit, Lebens- und Arbeitszeit.
Kinder, die durch Tablets ruhiggestellt werden und ihr Selbstbild durch Selfies entwickeln, werden in Folge wesentlich stärker durch Medien geprägt als 70plus-Zugehörige.
Wie könnte ein typischer Datenverarbeiter oder Seitenprogrammierer (ein Freizeitmuffel im grauen Pullunder) seine digitale Routine auflockern?
Er sollte in Intervallen arbeiten. Jede 30. Minute pausieren, für fünf Minuten aufstehen, abschalten oder mit Kollegen plaudern (das ist das mit Stimme). Extrem wichtig: Offline-Pausen einhalten (das Handy loslassen). Jedenfalls sollte er sein Medien-Multitasking stoppen. Eigentlich kann es niemand, nicht mal Frauen (sorry!). Soll heissen: Wer versucht, alles gleichzeitig zu machen, der macht nichts mehr richtig.
Deshalb: Eine Sache nach der anderen erledigen – nie jedoch versuchen, schneller als der Computer zu sein. Das ist nicht produktiv, sondern blinder Aktionismus. Ach ja, und ganz wichtig: sich selbst nicht mit einem E-Mail- Server oder einer 24/7-Hotline verwechseln. E-Mail-Programm auch mal schliessen und nur zu fixen E-Mail-Öffnungszeiten öffnen.
Wie möchten Sie all die neurotischen Verhaltensformen eindämmen, die sich sogar führende Politiker über Social Media aneignen?
Das möchte ich gar nicht und das kann ich auch gar nicht. Dazu müsste ich ein Mittel gegen menschliche Ignoranz und Gier haben – wie schon erwähnt, ich kann Impulse geben, die den Menschenverstand reaktivieren, nicht mehr und nicht weniger.
Was halten Sie davon, dass staatliche Seiten «anytime/anywhere» zugänglich sind, ist das ein Vorteil für Bürgerinnen und Bürger?
Das verbuche ich persönlich unter Digitalisierungssegen. Hier kann und muss noch viel mehr vereinfacht werden. Gleichzeitig entsteht durch die Rasanz der Digitalisierung eine Zweiklassengesellschaft: Viele ältere Menschen sind nicht fähig an der digitalen Verwaltung teilzunehmen. Das beginnt beim Banking, geht über das digitale Stromzählerablesen bis zur Reise- und Passbestätigung, die heute oftmals nur noch online erhältlich ist.
Gibt es überhaupt Off-Line-Optionen für Ottonormalverbraucher, wenn E-Commerce, E-Banking oder Apple Pay uns letztendlich den Puls der Zeit oktroyieren?
Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin nicht anti-digital! Ich liebe Digitalika. Was ich nicht mag, ist die Naivität vieler Nutzer und die Profitgier digitaler Monopolfirmen. Die Kombination ist brandgefährlich! Zugegeben, die Monopolbildung ist so weit fortgeschritten, dass man oft alternativlos ist. Wer die Nutzungsbedingungen von Apple oder Google nicht akzeptiert, kann die Dienste nicht nutzen.
Gleichwohl ist es wichtig zu wissen, welche Daten man verschenkt und welche Folgen das für unsere Freiheit – die Freiheit des Denkens und die informationelle Selbstbestimmung – hat.
Eigentlich bietet die digitale Revolution ja auch grosse Chancen – etwa, dass Ihre Dienste als Digital-Therapeutin hoch im Kurs stehen. Welche Chance haben Sie noch nicht ausgespielt?
Die Revolution ist vorbei. Glauben Sie mir, mir wäre es oft lieber, ich müsste nicht erklären, wie Sie die Lesebestätigung bei WhatsApp deaktivieren, dass notorische CC-Setzer Petzer sind usw. Ich arbeite daran, dass ich vieles nicht mehr erörtern muss. Ich arbeite daran, mich selbst zu ersetzen. Das ist eine Managementtugend: sich ersetzbar machen und dann unerreichbar sein, weil nur Sklaven stets verfügbar sind. Verstehen Sie das unter «Chancen ausspielen »? Ich nicht! Ich spiele keine Chancen aus: Ich ergreife sie.
Wie sollte die digitale Kommunikation designt werden, damit sie positive Qualitätspunkte bedient?
Qualität vor Quantität. Reflektion statt Reflex. Weniger ist mehr denn je, oder biblisch: Wer EMails (WhatsApp, Postings … ) sät, wird E-Mails ernten. Ein Anruf erspart doch zig E-Mails. So simpel, aber oft so schwer. – Nicht einfach in Software investieren, sondern in die Motivation und Medienkompetenz der Menschen, die diese Software bedienen sollen.
Schliesslich, was könnte man als Arbeitgeber für mehr «digitale Qualität» tun?
Klare Kommunikationsregeln entwickeln. EMail- Öffnungszeiten einführen und von der IT steuern lassen: idealerweise nur noch dreimal am Tag Mails ausliefern, den Arbeitstag mit einer mailfreien Stunde starten lassen, oder noch besser, mit einer Offlinestunde starten – das gibt den Menschen Zeit für eigene Priorisierung.
Mut haben, auch mal Verbote auszusprechen: Auf Privathandys und Privatkommunikation bei der Arbeit zu verzichten, bei Meetings und Mobiles spärlicher zu nutzen. Mitarbeitern im Urlaub wieder das Glück der Unerreichbarkeit gönnen – inklusive charmanten Formulierungen und Abwesenheitsnotizen. Und, ganz wichtig: mehr Menschlichkeit, weniger Mailrauschen. Medienkompetenz vorleben statt verordnen.