Hannes zwischen Kosten und Gaumenfreuden
Die intensivierten Marketing- und Akquise-Anstrengungen in Hannes’ Unternehmen tragen erste Früchte. Nicht, dass sich die Auftragslage spürbar verbessert hätte oder die Umsatzzahlen durch die Decke schiessen würden. Es ist das Interesse von potenziellen Kunden, das zugenommen hat.
Das meldet einerseits der emsige IT-Chef aufgrund der Monitoring-Studien über die Klicks des animativen Firmenvideos auf Youtube. Von 15 Klicks in den vergangenen vier Wochen steigerte sich die Besuchsrate im laufenden Monat, der erst zur Hälfte durch ist, auf unerklärliche, aber sagenhafte 258 Klicks, wovon rund 240 der IP-Adressen aus ostrussischem und chinesischem Gebiet stammen. «Alles highpotentials», posaunt der Chef. Andererseits – und das ist doch eine veritable Grösse – erfreuen sich die organisierten Firmenbesichtigungen mit anschliessendem Umtrunk und Häppchen massivster Beliebtheit.
Die Weinauswahl Organisatorisch
laufen diese Besichtigungen bis anhin «by the way». Wer einlädt, organisiert. Organisiert heisst: Der schmiert Brötchen in Heimoder Kinderarbeit und beschafft sich Wein und Nichtalkoholisches im Rahmen der sich selbst schrumpfenden Budgets im landläufigen Grossmarkt. «Hauptsache Alkohol» steht bei der Weinauswahl vor «vollmundig-fruchtiger Gaumen mit langanhaltend-erdigem Abgang».
Gestern Abend war wieder solch ein Anlass. Ein Bereich aus Hannes’ Produktionsabteilung organisierte für Gäste und potenzielle Kunden eine Besichtigung mit anschliessendem Stehumtrunk. Der CEO ist noch im Büro, sieht die Gruppe, gesellt sich dazu. Schliesslich ist es «sein» Unternehmen und etwas Networking kann nie schaden.
Grundsätzlich ist der Chef bereits leicht säuerlich, weil er von der Besichtigung nichts wusste. Die Weinauswahl katapultiert seine Stimmung dann vollends in den Keller. Als Besitzer eines eigenen, privaten Kleinstweingutes in der Toscana weiss er einen feinen Tropfen zu schätzen. Er erkundigt sich noch während des Anlasses beim verantwortli chen Bereichsleiter, wer solch «essigähnliches Altöl» überhaupt einkaufe. Der düpierte Bereichsleiter meint lakonisch, «wo kein Budget, da kein fruchtiger Abgang», und überhaupt: «Irgendwo im Keller hätte es besseren Wein gehabt, aber niemand hier hat einen Schlüssel dazu.»
Jetzt eskaliert die Situation definitiv. Dagegen waren die selbstverschuldeten Produktionsausfälle und über fünf Prozent Ausschuss bei der Lieferung an den letzten Grosskunden «peanuts» und mit «Das kann’s ja mal geben» schneller abgetan. Aber das hier, ein billiger Wein für gute Kunden und ein Keller ohne Schlüssel – nein, das ist dem Chef zu viel.
Der Verantwortliche
Der CEO zitiert Hannes in sein Büro. Dieser weist die Verantwortung von sich. Er sei schliesslich nicht für das leibliche Wohl der Kunden verantwortlich, sondern für die Qualität seiner Produkte in der Fabrikation. Hier müsse die Chefin des Personalrestaurants her, die für das leibliche Wohl auch von Amtes wegen zuständig sei.
Auf der anderen Seite liegt die Verantwortung aber auch beim einladenden Bereichsleiter. Er hätte die Möglichkeit gehabt, den Wein vorher mit Nase und Gaumen zu begutachten. Aber dafür hat man ja keine Zeit.
Der CEO und Hannes stellen sich zusammen an den Flipchart und zeichnen die Zuständigkeitslinien – beide jeweils mit dem klaren Ziel im Hinterkopf, dass am Schluss der Linie nicht der eigene Name steht. Nach ungefähr einer Stunde Diskussion stellt Hannes einen Antrag. Man solle doch diese Verpflegung nach den Betriebsbesichtigungen einmal grundsätzlich regeln und diesen Auftrag in das Organigramm setzen. Sie holen das Organigramm und verlieren sich wiederum in den Wirrungen der Unterstellungs- und Matrixlinien.
Langer Rede kurzer Sinn – Hannes ist ein Manager und fällt Entscheide. Er formuliert offiziell den Antrag, dass man diesen Job der Leiterin der Arbeitszeitkontrolle im HR überträgt. Die Begründung: Sie ist als eine der wenigen in der Lage, feinste mathematische Formeln zu kreieren und vor allem zu überwachen. Hier geht es zwar nicht um unterschrittene Arbeitszeit- und überdehnte Projektkostenstellen bis zu drei Stellen hinter dem Komma. Es geht hier darum, die europäische Verordnung über Konsum von Alkohol am Arbeitsplatz zu überwachen. Diese schreibt vor, dass mindestens 18 Prozent der angebotenen Menge an Getränken in klar deklarierten nicht alkoholischen Tranksamen aufgetischt werden müssen. Und das kann bei einer ungeraden Menge an Weinflaschen durchaus bis zur dritten Stelle hinter dem Komma eine Relevanz haben.
Die beiden Herren öffnen jetzt getrost einen Wein aus dem privaten Kühlschrank des CEO und belohnen sich für ihre Entscheidungsfreudigkeit in Form eines edlen Rebensafts aus der Toscana…