Erwünschte Querdenker

Karin Vey, Innovationsforscherin, ist überzeugt: «Um in einer komplexen Welt das ei-gene Unternehmen erfolgreich führen zu können, braucht es nicht selten disruptive Innovationen. Querdenken ist dafür ein zentraler Schlüssel und wird deshalb immer mehr zu einer Kernkompetenz.»

Erwünschte Querdenker

 

 

 

Im Interview mit der Innovations- und Trendexpertin­ Dr. Karin Vey kommt diese Basisaussage zusammen mit dem Begriff «VUCA» zur Sprache. Unsere Welt, auch die Geschäftswelt, die sich immer schneller in immer weniger erklärbaren Rhythmen und Mechanismen dreht. Die englischen Worte «volatile, uncertain, complex, ambiguous» bilden den Rahmen für VUCA und die Platt-form, auf welcher Manager sich heute bewe-gen müssen. Dazu brauchen sie auch Mitar-beiterinnen, die anders denken; quer – quasi.

 

Wie definieren Sie einen «Querdenker» oder eine «Querdenkerin»?
Dr. Karin Vey: Für Unternehmen, die in der VUCA-Welt Erfolg haben wollen, sind Quer-denker nicht länger mit einem negativen Stigma behaftet, sondern ein essenzieller und zunehmend konstitutiver Teil ihrer Firmen-kultur. Querdenker stellen gerne provozie-rende Fragen, denken radikal inter- und transdisziplinär und geben sich nicht mit ­einer naheliegenden Lösung für ein Problem zufrieden. Es sind Menschen, die wildes Den-ken «out oft the box» kultivieren.

 

Das bedeutet dann, dass sich diese Mitarbeiter/ innen persönlich und emotional einbringen? Stimmt. Sie haben meist eine gute Verbin-dung zu ihrem Unbewussten, können daraus Inspirationen für völlig Neues schöpfen und

 

«Sie verkörpern in gewisser Weise die moderne Wiedergeburt des Renaissance-Menschen.»

 

sind offen für die Vielfalt der Welt. Sie lassen sich auch aus anderen Branchen inspirieren oder holen sich Ideen und Motivationen aus Kultur und Kunst. Diese Querdenker haben also häufig ein breit gefächertes Wissen und zudem exzellente Kommunikationsfähigkei-ten. Sich können sich besser vernetzen und Erkenntnisse aus anderen Disziplinen an-schlussfähig machen. Das Potenzial von ­Diversität zu nutzen, ist für Querdenker eine Selbstverständlichkeit.

 

Interkulturelle Unterschiede scheinen auf-zuzeigen, dass es in gewissen Ländern pro rata mehr Querdenker gibt als in anderen, um beispielsweise Indien mit der Schweiz zu vergleichen. Stimmt das und welchen Ein-fluss hat das auf die Innovationsfähigkeit eines Unternehmens?
Zentral für das vermehrte Auftreten von Querdenkern scheinen mir verschiedene Faktoren im Hinblick auf Schule, Arbeitsum-feld und gesellschaftliches Klima. Dazu zählt etwa die Förderung kreativer Fähigkeiten im Rahmen der Grundbildung. Aber es ist rich-tig, dass es nicht jeder Kulturkreis schätzt, wenn seine traditionellen Werte oder Vor­ gehensweisen in Frage gestellt werden. Schon Konfuzius damals oder, beispielsweise, «ganz Japan» heute lehren, dass man dem Vater, Schulmeister, Coach oder Chef folgt und de-ren Prinzipien einhält. Wer also nie gelernt hat, Grundsätzliches infrage zu stellen, wird wohl auch weniger zum Querdenker.

 

In einem Betrieb dürfte die Frage also sein, ob Querdenker überhaupt geschätzt werden.
So ist es. Denn ein experimentell-schöpferischer Geist wird nicht zuletzt durch eine restriktive Fehlerkultur gebremst. Aber Unternehmen müssen neue Ideen, Konzepte und Produkte angehen, bewerten, korrigieren und auf den Testmarkt bringen können. Und in diesem Prozess, ganz natürlich, Fehler machen können. Mit ihrer «fail fast – fail well»- Mentalität sind uns da die Amerikaner schon ein paar Schritte voraus.

 

Muss dann gleich jeder Manager ein Querdenker sein?
Zwar kommt der Stärkung der Innovationskraft eine zunehmend wichtige Bedeutung zu. Es geht ja nicht mehr nur darum, das bestehende Geschäft möglichst effizient und effektiv zu lenken, was die Kernkompetenz des klassischen Managers ist. Sondern Neues muss regelmässig ins Unternehmen einfliessen. Dazu braucht es ein innovationsfreundliches Klima, Gestaltungsfreiräume und die Wertschätzung von Eigeninitiative. Gefragt sind Führungskräfte, die als Coach aktiv zuhören und die richtigen Fragen im Sinne der sokratischen «Hebammenkunst» stellen können.

 

Aber nochmals, die Generationen «Babyboomers » und «X» (1961–1981) sind wohl noch leicht weniger Innovations-affin?
Führungskräfte brauchen nicht selbst Prototyp eines Querdenkers zu sein. Was sie benötigen, ist ein Gespür für die Gestaltung der Kreativität förderlicher Umgebungsbedingungen. Sie müssen sich genügend in die Querdenker hineinversetzen können, um Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine optimale Potenzialentfaltung ermöglichen.

 

Braucht denn der lokale Bäckermeister auch eine Prise Querdenken?
Konkurrenz entsteht in der digitalen Welt oft über Nacht, nicht selten von unerwarteter Seite. Das kann durchaus auch den Bäcker im Quartier betreffen. Schon länger kann man Backwaren etwa bei Amazon bestellen und mittlerweile werden auch Spezialbedürfnisse abgedeckt. So liefert ein anderer Anbieter in der Schweiz veganes Brot und entsprechende Baguettesorten direkt nach Hause; in Zürich sogar gratis mit dem Elektromobil.

 

«Je mehr aktive Querdenker ich treffe, desto spannender wird es.»

 

Um sich gegen neue Mitanbieter zu behaupten, ist einiges an In-novationskraft gefragt. Für den Bäckermeister heisst dies zunächst einmal, die relevanten Entwicklungen zu erkennen. Das vermehrte Beachten von Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder der allgemei-ne Wellnesstrend sind nur zwei Beispiele.

 

Welche Lösungsansätze gibt es denn für den Bäckermeister?
Grundsätzlich könnten sämtliche Geschäftsmodelle, Abläufe, Produkte und Dienstleistungen infrage gestellt werden. Und zwar unabhängig davon, wie gross die Bäckerei ist. Prinzipiell gilt, wenn die Ware nicht mittels Postdienst zugestellt wird, dass das Einkaufen im Laden für den Kunden zu einem Erlebnis werden muss. Ein Mehrwert ist notwendig, sonst fragt sich der Kunde, überspitzt gesagt, warum er überhaupt noch einen Fuss vor die Tür setzen soll.

 

Das hiesse dann amerikanische Verhältnisse auch bei uns?
In grossen amerikanischen Städten entwickelt sich bereits eine Subkultur von Menschen, die sich gar nicht mehr aus dem Haus be-wegen wollen, sondern sich per Lieferdienst und durch Eintauchen in virtuelle Welten die Aussenwelt in den Kokon ihrer Wohnung holen.

 

Sie sind im ThinkLab der IBM Forschung Schweiz tätig; wie fassen Sie Ihre Aufgabe zusammen?
Sie besteht aus mehreren Facetten. So geht es etwa darum, Trends in Wirtschaft, Gesellschaft und Technologie zu erkennen und diese Er-kenntnisse mit Entscheidungsträgern aus Wirtschaft, Politik und Uni-versitäten zu diskutieren. Wir denken über Innovationsherausforde-rungen nach und entwickeln erste Lösungsansätze. Ich halte zudem Vorträge und organisiere Fach-Workshops in unserem ThinkLab. Je mehr Querdenker ich treffe und in meine Arbeit einbinden kann, ­desto spannender wird es. Zu meinen Schwerpunktthemen zählen übrigens auch die Künstliche Intelligenz (KI) sowie die Zukunft von Ausbildung und Führungskräfteentwicklung.

 

Werden Sie in Ihrem persönlichen Alltag von Innovationsgedanken begleitet?
Ich selbst arbeite häufig mit Künstlern und lasse mich von ihrer un-konventionellen Art, die Welt zu sehen, inspirieren. Kunst denkt an-ders. Sie kann helfen, das nicht Selbstverständliche im scheinbar Selbstverständlichen aufzuzeigen, und drückt jene Gedanken aus, die sich nicht so leicht versprachlichen lassen. Das hilft mit, immer wie-der die Perspektive zu wechseln, anders anzudenken und Wissen
auch für mich privat ständig neu zu kombinieren.

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